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EIN GANZ NORMALER TAG

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Der Winter schien sich längst aus der Stadt verabschiedet zu haben. Die Temperaturen lagen über dem langjährigen Durchschnitt. An diesem Januartag sollten sie auf über acht Grad ansteigen.

Die Stadt pulsierte wie an jedem Arbeitstag. Leute eilten ihrer Arbeit entgegen. Mütter schoben Kinderwagen zur Krippe, und Väter hatten ihre Sprösslinge auf dem Kindersitz am Fahrrad. Sie traten kräftig in die Pedale; jeder musste pünktlich an seinem Platz erscheinen, die Arbeitszeit in den Betrieben begann sehr früh. Es ging vorrangig in zwei Richtungen. Die einen strebten zur Mitte der Stadt, die anderen zum Werk, das in zweihundert Metern Entfernung alles zu bieten hatte, was ein Werktätiger brauchte. Kindergarten. Bibliothek. Kaufhalle. Krankenstube.

Auch der zwanzigjährigen Rosi gab das Kombinat Arbeit. Und nicht nur Arbeit. Sie konnte sich ein gutes Zubrot allein mit den Stoffen aus den Restmetern verdienen, die Mitarbeiter des Kombinates zu winzigen Preisen im Werksverkauf erhielten. Besonders in ihrer Heimatstadt an der Elbe waren sie beliebt, weil es dort keinen der Spezialläden gab, wie die hiesigen, wo seit Jahren die Stoffe angeboten wurden. 1969, zum zwanzigsten Jahrestag der DDR kam der «Präsent 20» Laden dazu, wo die fertige Kollektion zwei Etagen eines ehemaligen Kaufhauses füllte. «Präsent20» galt als der Renner, der auch schon mit Messegold auf der Leipziger Messe ausgezeichnet worden war und der einigen Führungskräften des Kombinates hohe Auszeichnungen eingebracht hatte.

Im Werksverkauf gab es bisweilen auch wunderbar weichgewirkten Jersey, ein Stoff, der für den Export bestimmt war und nach dem sich jeder DDR-Bürger sprichwörtlich die Finger leckte. Auch Rosi nähte zu Hause gerade einen flotten Hosenanzug für sich auf einer Veritas-Nähmaschine, die ihre Mutter direkt aus dem heimischen Werk erstanden hatte, das früher einmal «Singer» hieß. Hierher hatte sie die Maschine nicht mitbringen können, was ihr sehr leid tat.

Es war das Zeichen der Zeit — wie jeder Zeit — dass man der Arbeit hinterher zog; und diese Stadt war nicht die schlechteste. Hier ging etwas ab, was ihre Kleinstadt an der Elbe nicht aufzuweisen hatte. Die neuen Stadtviertel hoben sich rasant aus dem sandigen Boden. Gerade waren Sandow und Ströbitz für Tausende Menschen entstanden, da begann man am südlichen Rand bereits Sachsendorf zu errichten. Seit langem wird auch darüber geredet, am nördlichen Rand würde das nächste große Wohngebiet in Planung stehen. Man müsse aber zuvor den torfigen Untergrund zu testen, der von einigen Experten als zu instabil für große Wohnblöcke angesehen wurde. Rosis Freund Jens war der Meinung, die Stadtoberhäupter wollten mit einem weiteren Wohnquartier für Tausende Neubürger und Einwohner dem Tagebau Nord zuvorkommen, der sich ansonsten bis an den Stadtrand auszubreiten drohte.

Dieser Gedanke gefiel Rosi, zeigte er doch, dass auch die Oberen eine Verantwortung für die Menschen trugen und nicht nur an den wirtschaftlichen Fortschritt dachten. Wäre es mit den rauchenden Schloten ringsum ebenso, oder mit dem grässlichen Fluglärm, könnte man hier außerordentlich gut leben.

Rosi ging zur Küche, die zusammen mit Bad und Flur das Quartier teilte, in dem fünf Mädchen wohnten. Ihr Zimmer zeigte zur Straße, was sowohl Vorteile wie auch Nachteile hatte. Sie liste durch die Durchreiche, um sich zu vergewissern, ob die beiden Mädchen, die das Wohnzimmer bewohnten, auch wirklich zur Schicht weg waren. Leise füllte sie Wasser in die Kaffeemaschine. Unten auf der Schmellwitzer Straße rumpelte die Straßenbahn der Linie 1, die bei Kaisers Ballhaus ihre Endstation hatte. Rosi hörte nicht nur das Rumpeln, sie sah auch vor ihrem geistigen Auge, wie die Bahn auf den ausgefahrenen Schienen wankte, als habe sie noch Restalkohol im Blut.

In ihre Gedanken hinein wurde ihr ganz heiß. Sie spürte, wie sich zwei Arme um ihren Körper schlingen, wie sich ein bettwarmer Leib an ihren presst. Jens war auf leisen Sohlen gekommen, stand direkt hinter ihr und sagte noch ganz verschlafen: »Kaffee und Liebe sollte man heiß genießen.« Sie spürte an der Härte seines Unterleibes, dass er viel lieber noch bleiben möchte, was ihm sein Dienst versagte. Bisweilen, wenn sie Spätdienst aber ihre Mitbewohnerin Frühschicht hatte, kam er sie am Haupttor abholen und blieb dann über Nacht. Bei ihrer Nachtschicht war das unmöglich. Auch bei ihrer Frühschicht fanden ihre freien Zeiten nur schlecht zusammen. In dieser Woche aber hatte sich Milena, die aus dem Spreewald stammt, krank gemeldet, weshalb die Liebenden noch Zeit für ein Frühstück hatten.

Noch konnte Rosi ihre inneren Zweifel über die wunderschöne Nacht nicht erklären. Hier in ihrem kleinen Reich gab es weder Vorschriften noch Einschränkungen. Sie konnten tun, was sie wollten, wenn sie nicht über die Stränge schlugen, wie die polnischen Männer bisweilen, die viel tranken und auch mal vom Balkon pinkelten, weshalb sie bei manch einem nicht gut angesehen waren.

Mit geschlossenen Augen genoss sie die warme Haut von Jens, aber sie konnte keinen größeren Triumph spüren als in der Nacht. Ihr Herz war nicht so leicht, wie es einem zusteht, der den größten Wunsch seines Lebens erfüllt sieht. Ja, sie werden noch in diesem Jahr heiraten, aber sie wartete noch auf dieses eine entscheidende Wort von ihm.

Irgendetwas lag in der Luft. Sie konnte nicht erkennen, was sie daran hindern sollte, noch ein letztes Mal mit ihm… So ungestört wie heute, waren sie nicht oft. Ihre Zeit war noch nicht so begrenzt wie seine.

»Du bist spät dran«, sagte sie und hauchte einen Kuss auf seine Wange, die noch den Hauch der Nacht atmete.

Dreißig Minuten später verließ Jens das Haus und winkte noch einmal zu ihr zurück. In sich gekehrt stand sie da und schaute ihm nach. Irgendeine merkwürdige Vorahnung, die jeder Logik widersprach, wollte sich nicht verabschieden. Zum ersten Mal war ihr das Gefühl gekommen, es könnte das letzte Mal mit Jens gewesen sein.

Solange Jens die drei Stockwerke hinunter getrabt war, hatte sie am Fenster gestanden und gewartet, bis sie ihn aus dem Haus kommen sah. Wie aus dem Nichts hatte sich tief in ihrem Schoß etwas geregt, und jetzt bedauerte sie doch die lästige Pflicht, der Jens entgegen strebte, während sie bei diesem trüben Wetter noch einmal ins Bett kriechen wollte.

Sie hatten ihre Heirat für das Frühjahr einig beschlossen, aber Jens hatte ihr noch keinen richtigen Heiratsantrag gemacht. Nicht einmal in dieser Nacht, in der sie ihm alles und viel mehr gegeben hatte. Derartige Worte gehörten nicht in seine moderne Auffassung von Gleichberechtigung. Jetzt sagte eine unergründliche Ahnung sogar, Jens könnte ihre Hingabe, ihr Betteln, er sollte doch bleiben, falsch verstanden haben. So ungehemmt wie in dieser Nacht kannte er sie nicht. Sie selbst kannte sich so nicht.

Ihr Wohnblock war ein fünfgeschossiger Plattenbau mit mehreren Eingängen, wie sie in großer Zahl und gepriesen als sozialistische Errungenschaft überall in der DDR errichtet wurden. Ihr Aufgang war jener, der von allen als Ledigenwohnheim des nahegelegenen Textilkombinates benannt wurde. Dabei wohnten hier nicht nur Ledige. Auch Mütter mit Kindern und Verheiratete, die nur für wochentags von weither kamen, wie sie auch.

Wie es sein würde, wenn sie erst geheiratet hatte, malte sie sich noch nicht aus, aber ihre Hochzeit stand schon eine ganze Zeit lang fest.

Was wäre, wenn ihm etwas zustößt, bevor …? Würdest du bereuen, noch kein Kind mit ihm gezeugt zu haben und nun auch keines mehr bekommen zu können?

Natürlich würden sie einst Kinder haben. Natürlich müssten ihre Kinder nicht in diesem Block leben. Natürlich würden sie eine große Neubau-Wohnung bekommen, der Staat förderte junge Familien. Noch brauchten beide ihre Arbeit zu sehr, um sich die Basis für ein gemeinsames Leben schaffen zu können. Es war auch schwer vorstellbar, jemals damit aufzuhören, nur der Kinder zuliebe, die Jens sich ebenso einmal wünschte. Das jedenfalls hatte er ihr in einem schwachen Moment heute Nacht versichert.

Freilich würde sie als Hausfrau und Mutter nicht glücklicher sein. Nicht auf Dauer jedenfalls. Aber dafür, dass sie weiterhin arbeiten konnte, sorgte das Kombinat mit seiner Kinderkrippe. Und freilich kam sie sich heuchlerisch vor, wenn sie Jens in gewissen Stunden versicherte, dass er an erster Stelle kam und dass seine Liebe das Wichtigste sei. Das musste sie gar nicht; auch er hielt sich für unersetzlich und nahm alle seine Ämter und Hobbys sehr ernst. Auch wenn er dienstlich nicht weniger beschäftigt war als sie, frönte er bisweilen gerade dann seinen Ehrenämtern, wenn sie besonders harmoniebedürftig war. Vielleicht fürchtete sie deshalb, die Liebe könnte ihr wieder entgleiten und sie könnte — innerlich — wieder so einsam dastehen, wie zu jener Zeit, als sie hierher gezogen war. Natürlich war es ihre Entscheidung gewesen, in diesem Kombinat zu arbeiten. Natürlich war sie nicht unzufrieden, den Schritt gegangen zu sein, auch wenn ihre alten Freundschaften daran zerbrochen waren. Was einer lächerlichen Entfernung nicht standhielt, war nie fest genug. Die Menschen veränderten sich, die Gesellschaft veränderte sich und das Leben da draußen vor der Tür, auch das veränderte sich, und es war eben nicht nur lustig.

Jetzt musste sie damit nicht hadern, jetzt hatte sie ja Jens. So sehr sie sich wünschte, mit ihm mehr Zeit zu verbringen, nur Muße zu haben, zusammenzusitzen und mit ihm zu plaudern, so sehr glaubte sie, die Zeit für eine Familie sei noch nicht reif. Sie war gerade erst zwanzig, aber sie wollte diese Sicherheit. Sie brauchte diese Sicherheit, um unbeschwert mit ihm schlafen zu können. Wie schnell war es passiert und sie stand da als alleinerziehende Mutter, wie so manche Frau in diesem Haus. Jens belächelte sie zuweilen, wenn sie — wie heute Nacht wieder — von Vorahnung sprach, von der Stimme tief in ihr drin, von dem siebten Sinn, der sie noch nie getäuscht hatte.

»Du bist der geborene Pessimist«, hatte er gesagt. »Wie bringst du es fertig, mir jetzt einen solchen Schwachsinn von Vorahnung einreden zu wollen? Was soll denn noch dazwischen kommen?« Es war kein Schwachsinn, das wusste sie nur in dieser Nacht noch nicht.

Das Frühstück mit Jens gehörte nach ihren seltenen Nächten zu den schönen Momenten ihres alltäglichen Einerleis, das in den Hallen des Kombinates herrschte und dem sie nicht entkommen konnte.

Sie war es gewohnt, dass ihr Liebster am Abend nicht viel redete und dass er am Morgen nicht so lange bleiben konnte, wie sie bei der Spätschicht für ihn Zeit hätte. In dieser Nacht hatte er eine merkwürdige Ausnahme gemacht, weil er wusste, dass sie ungestört bleiben würden. Schon als er gekommen war, gab es spürbare Anzeichen, und bald war ihr klar geworden, dass er es nicht erwarten konnte. Sie war einfach nur sprachlos geblieben, hatte seiner Lust nachgegeben und sich kaum Zeit für einen letzten Imbiss genommen. Begehrlich hatte sich sein Körper enger an ihren gedrückt und ihrer sich dankbar an seinen. Eng umschlungen hatte er sie schon in ihrer unromantischen Küchennische ekstatisch geküsst. Auch hatte er nicht zugelassen, dass ihre Hand schnell noch ein paar Krümel beiseite wischte, ein Töpfchen in die Spüle legte. Wie eine zweite Haut hatte er sich fest an sie geschmiegt, hatte seinen Körper an ihrem gerieben und langsam begonnen, ihre Bluse aufzuknöpfen, ihren Rock hochzuschieben und ihre Schenkel zu massieren. Zum ersten Mal spürte sie bei sich selbst diese Ungeduld. Sie hatte sich ihrer Bluse entledigt und mit ihrer Blöße kokettiert. Es kümmerten sie nicht, wohin die Bluse fiel. Jens küsste erst ihren Nacken und dann ihre Brüste. Seine Finger hatten die Träger ihres BH heruntergestreift und seine Küsse waren gierig über ihre nackte Haut gewandert, dass sein Begehren ihm beinahe den Atem verschlagen hatte. Sie hatte ihren Kopf in den Nacken gelegt und mit ihrem heißen Hauch zu erkennen gegeben, dass auch sie kaum erwarten konnte, was er sich so sehr erhofft hatte. Als seine Finger zwischen ihren Slip geglitten waren, ging sein Atem noch schwerer und irgendwie glaubte sie, sein leises Jauchzen zwischen den Atemstößen gehört zu haben.

Als sie später nebeneinander in ihrem Bett lagen, schweißgebadet und atemlos von der unbändigen Lust, konnte er noch immer nicht davon ablassen, ihren Körper mit unzähligen Küssen zu bedecken. Sie redeten nicht, sie liebten sich noch einmal. Zum Reden hatten sie noch so viel Zeit.

An diesem denkwürdigen Tag dachte sie noch, man kann auch durch Liebe erfahren, was es zu sagen gibt. Jens war der beste Mann, den sie je haben konnte, wenn auch nicht mit vielen Worten gesegnet.

Irgendwann waren ihr seine Küsse zu viel geworden. Sie hatte ihn noch einmal auf sich gezogen. So überrascht er auch von ihrer ersten Initiative war, er konnte seine Leidenschaft nicht zügeln. Ihr Körper hatte sich seinem entgegen gestoßen, wild und unnachgiebig. So oft er tief in sie eingedrungen war, klangen die kleinen Schreie ihrer Lust, als habe es niemals etwas anderes gegeben. Ihre Körper hatten sich so rhythmisch im Einklang bewegt, dass es für Rosi unmöglich geworden war, auf ihre lustvollen Töne zu achten, die ganz neu an ihr waren.

Noch in dieser Minute, als sie Jens sehnsuchtsvoll hinterher schaute, war ihr egal, ob ihre Lust vielleicht die Nachbarn gestört hatte. Sie würden es sie ohnehin einmal spüren lassen. Weniger die polnischen Frauen, vielleicht die anderen Mädchen. Hoffentlich nicht die polnischen Kerle.

Es war eine der wenigen Nächte zwischen den beiden Liebenden, von denen man glauben konnte, es wäre die letzte Nacht. Wohl deshalb war es, als wollte es jeder dem anderen nur recht machen, und wenn sie zum Höhepunkt kamen, dann war es sogar, als gäbe es nur diesen einen Höhepunkt in ihrem Leben, keinen anderen mehr.

Die nächsten Minuten waren — was keiner wissen konnte — nicht nur die schlimmsten, auch die letzten ihres Lebens. Nach einem riesigen Schreck und einer tödlichen Erschütterung hatte sie keine Zeit mehr, an ihre rosige Zukunft mit Jens zu denken, dem sie noch vor Stunden viel mehr als ihre ganze Liebe geschenkt hatte. Sie sah keine Straße mehr, die noch vor ein paar Minuten ihren Jens davongetragen hatte. Sie sah keine Sonne und keinen Schatten. Sie wusste nicht, ob es Tag oder schwarze Nacht war. Sie spürte nur die heiße Druckwelle und dachte an nichts anderes als: weg von hier! Aber der Punkt, den sie erreichen musste, der Leben bedeutete, der Ruhe und Kühle versprach, entschwand immer weiter. In der letzten Sekunde ihres Lebens erfasste sie eine Sehnsucht nach allem, was sie bisher verteufelt hatte, Hauptsache sie blieb am Leben. Mit ihrem heißen Atemluft entwichen die letzten Worte: Ich wusste, dass etwas passiert….


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