Читать книгу Die kalten Spuren im heißen Wüstensand - Maxi Hill - Страница 4
Die Flucht geht weiter
ОглавлениеAm Morgen sind aus der Gruppe Schreie zu hören. Ashanti schaut sich nicht um. Weit hinter ihnen am schwindenden Horizont liegen die Felsenklippen, an deren Fuß das Grab ihrer Mutter der Ewigkeit harrt. Irgendwann in ihrem Leben wird sie Kanzi noch einmal hierher führen. Irgendwann, wenn das Leben ihnen all das beschert hat, was es den Weißen seit Jahrhunderten beschert. Dann werden sie mit einem Jeep in diese erbarmungslose Wüste fahren und den Hügel aus aufgesammelten Steinen finden. Steine sind Zeugen der Ewigkeit. Mit ihrer Hilfe werden sie das Grab der Mutter finden – auch ohne einen der Götter, für die sich ihre Eltern nie entscheiden konnten. Kalunga oder Nzambi.
Mama war für Kalunga, Papa für Nzambi. Das lag wohl daran, dass auch der Himmel die Welt unter sich aufteilt. Also mussten im Himmel weiße Götter sitzen…
Jetzt hört sie es deutlicher. Einer der Männer – es ist Nsenga, der Führer der Gruppe, der die Fäden zu den Helfern geknüpft hatte (oder die Helfer zu ihm, wer weiß das schon), brüllt die anderen an, die sich wütend um ihn scharen: »Ich habe euch diese Flucht ermöglicht, habe mich geopfert und nun…!«
Auf seinem kohlrabenschwarzen Körper steckt ein kugelrunder Kopf mit hellem Geist. Nsenga ist einer, der zu feilschen gewohnt und zu gewinnen ausgezogen ist in die unbekannte Welt. Das jetzt, das ist kein souveräner Auftritt eines Führers, das ist purer, vermutlich sogar feiger Selbstschutz.
»Ein Lügner bist du!«, schallt es von Mbalu zurück. Mbalu ist ein bulliger Typ mit einem ungepflegten Stoppelbart. Das sehr kurze Haar kringelt sich in winzigen Knötchen. Dazwischen schimmert blanke Haut, die heller anmutet als der Rest des Körpers. »Verkauft hast du uns. Wo bleiben deine Retter…!«
Ein anderer stimmt ein: »Und wofür das viele Geld!«
Der Beschuldigte zieht eine Waffe unter dem Kittel hervor und streckt seinen Arm in die Luft. Zwei junge Männer springen herbei, reißen den Arm des Mannes herunter, drücken seinen Körper in den steinigen Sand und einer stellt seinen Fuß darauf.
Ashanti spürt, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Ehe sie sich versieht, wird sie von Amari, einer der Frauen Mbalus, in das Innere der Gruppe gezerrt. Amari, die Starke – das bedeutet ihr Name - drückt Kanzi an die Seite der Schwester, rabiat, aber wie es scheint aus triftigem Grund. Ashanti ist trotz der Härte der Frau sogar erleichtert. An solches Gezeter, an Streit und Selbstjustiz hat sie keine guten Erinnerungen…
Die Frauen sagen: Hier gilt das Gesetz der Wüste. Was immer das heißen mag, es klingt nicht gut. Noch weniger gut klingen die Schüsse, die nur kurze Zeit später ganz nah und doch so dumpf in der flirrenden Hitze grollen. Frauen verbergen ihre Kinder unter den Röcken und auch Ashanti drückt ihre Hände reflexartig auf Kanzis Ohren. So hätte es Mama auch gemacht.
Zu jener Stunde der Angst sagt sie den Satz zum ersten Mal zu ihrem Bruder, unter Tränen. Diesen Satz wird sie noch einige Male wiederholen, bis Kanzi ihn auswendig kann, wie sie das Märchen auswendig kann: »Wenn wir je getrennt werden sollten, wir treffen uns in Deutschland! Hörst du? Deutschland!«
Ob es das Wüstengesetz wirklich gibt, fragt sie später eine der Frauen, die mit zwei Kindern auf der Flucht ist, wie Dzemila es war. Diese Frau steht zumeist abseits und spricht kaum ein Wort. Diese Frau ist nicht so schön, wie Dzemila war. Sie sieht nicht einmal aus wie eine Frau. Sie trägt Hosen und Jacke aus derbem Stoff mit grünbraunen Flecken. Grad so, wie der rettende Kente ihrer Mutter damals bei ihrem geliebten Haus. Hätte diese merkwürdige Frau nicht an Mutters Grab mit der hellsten und erbaulichsten Stimme von all den Frauen gesungen, Ashanti würde meinen, sie sei ein Kämpfer aus dem Busch, oder eine von denen, die nach Vater gesucht hatten.
Dieses gesetz der Wüste gebe es, antwortet die Hosenfrau, aber es sei wie mit jedem Gesetz. Es gilt nicht für die Ehrlosen…
Das Verhalten in der Gruppe ist nach den Schüssen gespalten. Ashanti hat nicht alle Gesichter der Männer in klarer Erinnerung vor sich, aber sie glaubt, seit dem Vorfall fehlt einer… Der kleine kräftige Mann mit dem kugelrunden Kopf und den feuchten, flinken Augen…
Erst später wird sie belehrt: Mbalu habe jetzt das Sagen und man habe Mbalu zu folgen, was immer er befinde.
Sie hat genug von den Erwachsenen, die sich fortwährend streiten müssen. Sie hat genug von der Angst und der Hitze und dem Durst und dem Hunger. Sie hat genug von den Blicken der Frauen, die jetzt anders sind als vorher, als Mutter noch bei ihnen war. Sie hat genug von den Kommandos der Männer, die den Frauen die niederen Dinge aufbürden. Sie hat genug vom ewig gebeugten Kopf, weil sie nur noch öden Sand und lästige Steine sieht, die nur da liegen, um darin zu versinken oder darüber zu stolpern. Sie will nicht stolpern. Sie will aufrechten Ganges gehen, wie Mutter Dzemila gegangen ist – erhaben, trotz schwerer Last auf dem Kopf. Sie will in den Himmel schauen und will den unfähigen Göttern zeigen, dass sie nicht kleinzukriegen ist. Ihr ist auch egal, ob er Kalunga heißt oder Nzambi, ob er sogar auf Allah hört oder sich als Naturgott huldigen lässt. Keiner von denen stellte sich schützend vor sie, nicht früher und nicht auf der unsäglichen Flucht vor jenen, die sie immer wieder zurück in ihre todbringende Heimat treiben wollten.
Der Hunger und der Durst. Die fehlende Hygiene. Die Hitze bei Tage und die Kälte bei Nacht. Das alles ist zu viel für ein Mädchen aus einfachem aber behütetem Haus.
Den halben Tag über laufen sie durch die Unendlichkeit. Dann wird die Hitze zur Qual und sie lagern an einem Platz mit ein wenig Schatten. Dicht gedrängt hocken sie beieinander, die Köpfe im Schatten, die blanken Füße im Sand unter der heißen Sonne. Der Geruch schwitzender Körper hängt in der Luft, die kein Windhauch bewegt. Zum Glück, sagen die Alten. Ein Sandsturm wäre ihr Untergang.
Ashanti schließt ihre Augen, als könnte es ihr helfen, dem Inferno der Wüste zu entkommen. Der donnernde Bass eines der Männer zerschneidet die Luft. Ein Klatschen und ein dumpfer Aufprall. Dann der gellende Schrei einer Frau. Von der Hitze benommen blinzelt Ashanti in die flirrende Luft. Eine der Frauen liegt am Boden in der stechenden Sonne. Ihr Gesicht ist geschwollen, ein Auge - zu einem einzigen Schlitz geworden – blutet. Zwei junge Männer grinsen einen älteren an; ihre Worte, wie Pfeilspitzen scharf und abstoßend wie fauliges Fleisch, klingen verächtlich. Der Mann stürzt sich auch auf die beiden, was einen Tumult auslöst, den keiner braucht. Mbalu meint, nicht in dieser Hitze, wo alle zur Ruhe kommen sollten und Kraft schöpfen für den Marsch durch die kühlere Nacht. Er geht sogar zwischen die Streithähne. Das eiserne Ding in seiner Hand hält die jungen Männer auf Abstand. Der Frau am Boden hilft keiner, weil es Mbalu nicht anordnet und weil ihr Mann es nicht für männlich hält.
Kanzi hat Angst. Er will fortlaufen, aber hier gibt es nichts, wohin er laufen könnte. Nur Sand, der mal flach an den Boden gedrückt, mal sacht zu unüberschaubaren Hügeln ansteigt aber bisweilen mit Steinen versetzt das Laufen erschwert.
Schweiß rinnt unaufhörlich an Ashanti herab. Sie hat zum ersten Mal den unbändigen Wunsch, einfach nicht mehr weiterzuleben, das Rad des Lebens anzuhalten. Alles erscheint ihr so sinnlos. Die Mutter ist tot, der Bruder ängstlich, verstört. Jene, die mit ihnen flüchten, sind entweder aggressiv oder apathisch, und die fremden Helfer haben sie völlig im Stich gelassen. Das Schlimmste aber ist, niemand in der Welt kennt die Kinder der Dzemila, niemand weiß, wo sie sich aufhalten und wie es ihnen geht. Niemand reicht ihnen die Hand an mutterstatt.
Was ist nur aus Dzemilas Worten von Frieden und Menschlichkeit geworden? Was ist aus ihnen allen geworden, die den unsäglichen Weg auf sich nehmen, nur um einst würdig leben zu können, wenn sie mit sich selbst doch unwürdig sind? Um sie herum ist noch immer Afrika, aber es kann fremder nicht sein und nicht einsamer und nicht aussichtsloser zwischen all den enttäuschten Menschen. Alles um sie herum erfüllt sie mit lähmendem Schmerz, gnadenlos.
Wie hat sie bisher diesen Kontinent gesehen? Sie sah ihn, wie auch Mutter ihn in Worte fasste: Unsere Heimat ist ein Garten aus wildblühenden Rosenhecken. Aber man kann sie nicht durchdringen, weil die Dornen stärker sind.
Ist das, was sie jetzt erdulden muss, noch immer das geliebte Afrika – die Wiege der Menschheit. Jener Boden, der den Vater aller Schwarzen und den Vater aller Weißen hervorgebracht hat?
Sie schließt ihre Augen und lehnt sich an den rauen Stein. Die Frauen neben ihr verbreiten einen ätzenden, säuerlichen Geruch von altem Schweiß und ungewaschenen Kleidern. Kein Ort in der Nähe, der als Latrine dienen könnte. Kein Opuntienstrauch, der den menschlichen Unrat in sich aufnimmt und dem selbst die Schmeißfliegen fernbleiben.
Am Ende des Tages wird fauliger Gestank an dieser Stelle zurückbleiben, der stechende Geruch von Kot und Urin noch lange im Wüstenwind dünsten.
Das Gefühl unbeschreiblichen Ekels ist in Ashanti. Wie schön war es doch im bescheidenen Häuschen, das der Vater gebaut hat – Stube für Stube. Sie haben zusammen mit Mutter ihr Heim gehegt und gepflegt. Den gestampften, die Boden und die lehmigen Wände mal Kühle, mal Wärme spendeten. Der Brunnen auf dem nahen Feld spendete die meiste Zeit Leben.
Wer wird jetzt von all dem Besitz ergriffen haben? Wer wird sein Hab und Gut abladen, da, wo Vater einst neben der Stube der Kinder eine Stiege anbaute, um noch eine Stube obenauf zu setzen? Eine für Kanzi oder Ashanti ganz alleine. Ein besonderer Luxus. Aber Mutter hat gesagt, es sei üblich in der modernen Welt und es könne nichts der Bindung der Familie schaden, was dem Einzelnen nutzt…
Die Erinnerung an Mutter Dzemila und Vater Dikembe bringt einen bitteren Schmerz in sie. Ihr Schal bedeckt Kanzi, der in ihrem Schoß, in den sie ihn aus Schutz vor den rabiaten Bildern menschlicher Gewalt gedrückt hatte, eingeschlummert ist. Die Sonne glüht senkrecht herab. Den einzigen Schatten spendet jetzt nur noch der kleine Überhang einer Felsformation, unter dem sie noch näher zusammengerückt sind, was den wütenden Mann noch wütender macht. Er schaut sich nach allen Seiten um, ob auch kein Mann einen Zipfel seiner Frau berührt, kein gieriger Blick an ihrer Gestalt Gefallen findet.
Was alle vereint und gezwungen zulächeln lässt, ist das gemeinsame Schicksal, das sie zu Flüchtlingen gemacht hat. Der letzte Ausweg schmiedet Wildfremde zusammen, die auch jetzt kaum wichtige Worte wechseln.
Diese Flucht sollte viel schneller gehen. Das war versprochen. Keiner wollte zu Fuß durch die Wüste laufen, manch einer in Schuhen aus Autoreifen. Niemand wollte über Dornensteppen mäandern oder barfüßig in ausgedorrte Flussbetten geführt werden und doch nicht trinken können. Niemand von ihnen wollte sich klammheimlich über steinige Bergrücken stehlen müssen, geduckt, um nicht gesehen zu werden. Per LKW und Boot, das hatte man ihnen versprochen. Die meisten flohen vor der Armut, dem Hunger und dem Müßiggang, der sie nicht nährte. Kein einziger Mensch aus diesem Treck Junger und Älterer, Kinder und Frauen, weiß, warum Dzemila mit ihren Kindern unter ihnen war. Ashanti weiß es selbst nicht. Aus Sicherheit, wie Mutter sagte.
Obwohl sie nicht vor den anderen weinen will, kommen die Tränen und mischen sich mit dem Schweiß. Verstohlen schaut sie nach Mbalu, der hin und wieder ein Kommando gibt, das sie nicht versteht. Er hat dieselbe Haut, aber seine Sprache ist ihr fremd. Zum Glück spricht er auch portugiesisch wie sie und englisch im Kauderwelsch durcheinander. Daraus kann sie ein paar Brocken schöpfen…
Ashanti ist minutenlang abwesend. Wenn sie sich intensiv mit einer Sache beschäftigt, bekommt sie von den Dingen um sie herum nichts mit. Ihr Zuhause beschäftigt sie so stark, ihre geliebte Mama, ihr sauberes Haus mit dem gefegten Hof, der Toilette und dem Gärtchen mit Papaya-Bäumen und Kohlpflanzen und Zwiebeln. Noch immer abwesend, streichelt sie über Kanzis Kopf. Er verharrt reglos, nur die verschwitzten Wangen zucken und sein Haar glänzt von winzigen Schweißperlen.
Wie stets in der heißen Zeit sitzt sie ebenso still, ebenso seltsam apathisch da, wie die Leute um sie herum. Die Menschen verhalten sich, als begingen sie noch immer ein Trauerritual, gespenstisch, und doch kraftschonend, wenn sie es richtig bedenkt.
Kurz darauf kriecht die noch kürzlich von ihrem Mann geschlagene Frau dichter zu Ashanti heran. Sie sagt, dass es die Männer nicht so meinen, wenn sie mal zuschlagen. Und weil Ashanti nicht spricht, fragt sie ganz leise nach deren Vater und warum er nicht dabei sei. Ashanti weint still. Zu antworten fällt ihr nichts ein. Sie waren seit Monaten gezwungen, die Wahrheit zu verschweigen. Ob das noch immer vonnöten ist, weiß sie nicht. Vielleicht hätte sie unter all den Menschen in dieser Frau eine Fürsprecherin, wenn es brenzlig wird. Vielleicht. Dazu müsste sie mit der Frau reden, was sie nicht für nötig hält, weil die Frau sich selbst nicht schützen kann. Wenn sie doch bloß nicht so viel Angst vor dem Manne hätte…
Ihr Vater, Dikembe, war nicht gewalttätig. Nicht gegen Mutter Dzemila und nicht gegen seine Kinder. Er war ein Zugereister, der aus Liebe seine Heimat verlassen hatte, aber in Mutters Heimat nie anerkannt war. Zu schön war seine Frau und zu begehrt von den Einheimischen, die ein Vorrecht zu haben glaubten.
Vater Dikembes Heimat lag nördlich des Kongos. Er hatte im südlichen Nachbarland nach Arbeit gesucht, aber auch hier keine gefunden. Später war er noch einmal aus selbigem Grund wieder nördlich über Grenzen gegangen. Egal, wo er etwas finden würde, sie alle wären ihm überallhin gefolgt.
Zwischen Vaters und Mutters Heimat wollten sie schließlich leben, gemeinsam. Aber auch hier wüteten Rebellen …
Im geduldigen Nichtstun harren enttäuschte Menschen aus Ländern verschiedener Herren und Götter gegen die sengende Hitze, bis ihre Schatten länger werden. Nur die Frau im grünbraunen Anzug – sie heißt Victoria, wie Ashanti jetzt weiß - knüpft etwas zwischen flinken Fingern. Ausgerechnet Victoria, der man nicht einmal ansieht, dass sie eine Frau ist, wäre nicht der vorgewölbte Oberkörper…
Das Märchen-Büchlein, aus dem jetzt die Schwester dem Bruder vorliest, steckte noch immer in Mutters Täschchen, das Dzemila eigenhändig mit Perlen bestickt hatte, die der Vater von einer Reise mitgebracht hatte.
Die Kinder wussten nicht, welche Reise er angetreten hatte und die Kinder wissen jetzt nicht, in welchem Land sie gerade sind. Die Flucht bis hierher in diese unwirtliche Welt war lang und kräftezehrend. Die Erwachsenen sagen, mit dem LKW hätten sie es längst geschafft. Wären sie nicht betrogen worden, ginge es jetzt mit dem Boot weiter.
Der nächste Aufbruch steht bevor. Wie vom heiteren Himmel kommen zwei junge Männer und bieten Ashanti an, Mutters Beutel zu tragen. Sie reden mit ihr, wie noch keiner von denen mit ihr geredet hat. Und Ashanti kann sehr freundlich sein, zu jedermann. Gegen Freundlichkeit hat auch ihre Trauer nichts. Nur Kanzi blinzelt eifersüchtig zur Schwester empor.
Einer der beiden Männer, dessen Gesicht ein paar mehr Höhen und Tiefen hat, dessen Haar steif nach oben ragt, dessen Haut fast schwarz und die Hände umso weißer sind - redet davon, dass es gut wäre, wenn zwei Flüchtlinge verschiedener Länder im Aufnahmeland heiraten würden. Da käme keiner auf die Idee, einen von ihnen zurückzuschicken. Sein Onkel habe erzählt, die egoistischen Europäer nähmen keine Leute mehr auf, die aus reiner Not über das Meer kommen. Und dann fragt er mit seltsam lauerndem Blick aus gelblichen Augen, warum Ashanti noch nicht verheiratet sei. Seine Schwester sei erst vierzehn und lebe längst bei ihrem Mann.
Ashanti lächelt nur. Sie kennt ein paar Mädchen, die jung versprochen wurden und die totunglücklich den vorbestimmten Weg in die Ehe gingen. Das gefällt ihr nicht. Sie will einen Mann, der sie liebt, so wie Vater Dikembe Mutter Dzemila geliebt hat.
Victoria, die mit ihren Kindern unweit läuft und nebenbei mit ihnen ein paar Fingerspiele macht, mischt sich ein.
»Du Grünschnabel. Was weißt du schon von uns Frauen. Nichts weißt du.«
Und zu Ashanti sagt sie später: »Recht tust du daran, dein Leben zu leben, wie es dir gefällt.«
Inzwischen sagt der andere, der mit dem reinen Blick und der schmalen Nase, dass er das auch nicht verstehe – das, warum Ashanti noch nicht vergeben sei – weil sie doch ein so wunderschönes Mädchen sei. Victoria stimmt dem Schmalnasigen zu.
Auf einmal geht es sich ganz leicht durch den Sand. Auch der strafende Blick der Leute in ihrer Nähe kann ihre Zuversicht nicht trüben. Seit sie gemeinsam so gehen, ist Ashanti einfach nur dankbar, noch am Leben zu sein.
Die Schuhe sind längst durchgelaufen, in den Kleidern reibt der Sand. Die Augen brennen und der Kopf schmerzt bei jedem Lichtstrahl, der sie noch schwach vom Horizont her trifft. Seit Tagen steht ihnen die Sonne im Rücken. Ashanti meint, weil das so ist, hätten sie die rote Linie überschritten. Kanzi schüttelt seinen Kopf. Er weiß, dass seine Schwester sich irrt. Er hat auf alles geachtet, was unter seinen Füßen dahinzog. Vater hatte es ihm beigebracht, aus Respekt vor den Schlangen, in deren Lebensraum der Mensch eindringt, wenn er durch die Savanne wandert. Eine rote Linie habe er nicht gesehen. Die beiden jungen Männer an ihrer Seite lachen amüsiert. Bis zum nächsten Stopp tragen sie brav den Beutel von Ashantis Mutter, dann beugen sie sich den Blicken einiger Frauen und trollen sich in die Gruppe der jungen Männer zurück, wohin sie gehören, was auch Mbalu für richtig erachtet.
Nicht nur die Gespräche der Gruppe junger Männer, die nach dem Marsch in ihrer Nähe sitzen, interessieren Ashanti auf einmal. Es sind die Bilder, die einer auf seinem Handy gespeichert hat. Bilder von Hamburg. Pompöse Stadtansichten, die Elbphilharmonie, das Rathaus mit dem Jungfernstieg. Das alles weckt Begehrlichkeiten. Man lässt Asanti und alle anderen teilhaben an der offensichtlichen Euphorie. Die Männer benutzen einen der Akkus, den Mbalu aus einem einzigen Grund locker gemacht hat: Alle zum Durchhalten zu motivieren. Das Schlaraffenland ist nah…
Ohne diesen Akku hätten sie nicht einmal diese gespeicherten Bilder gesehen.
In den jungen Männern liegt eine Sehnsucht nach der Ferne, die theatralisch anmutet und doch dem puren Leben dient. Keiner bekennt, dass er reich werden oder nur die Welt erkunden möchte, die sein Horizont ihm bisher vorenthalten hat. In Wahrheit folgen sie dem Ruf der Familie, den kleinen Wohlstrand aus dem Land der Weißen auf die rote Erde zu tragen. Der Sohn habe die Pflicht, die Familie zu ernähren oder ein Häuschen zu bauen, wie es der Nachbar konnte, weil sein Sohn Geld von Europa schickt.
Ashanti lehnt an einem knorrigen Kameldornbaum und schaut verträumt ins Nichts. Europa? Wie kann es sein, dass die Welt so ungerecht mit ihren Kindern umgeht? Was haben sie verbrochen, dass sie rechtlos und verachtet ihr Leben fristen, während andere Gottesgeschöpfe im Überfluss schwelgen?
Wie kann es sein, dass die Wiege der Menschheit vor Gott kein Gewicht bekommt…
»Geh da weg«, hört sie eine der Frauen keifen. Ihr Gesicht ist wütend, ihr Fuß stapft in den losen Sand. Dann hört Ashanti noch das Wort «Puta», das schon ihre Mutter zu hören bekam und das auch sie erbost hatte.
Ashanti braucht einen Moment, um die Situation zu verstehen, einen Moment, der ihr unter den strafenden Augen der Frauen, die älter und somit automatisch die Respektpersonen sind, wie eine Ewigkeit vorkommt.
Trotzig gibt sie sich einen Ruck und lässt sich auf das Gespräch der jungen Männer ein, weil sie Kanzi in ihre Mitte aufgenommen haben. Sie ist so froh darüber, noch mehr, weil es niemanden stört. Kanzi am wenigsten. Am meisten freut es sie, dass der Bruder heute nicht weint und dass ihn die Männer nicht verjagen, wie noch Tage zuvor. Ihre Verlorenheit wird davon nicht kleiner, ihr Herz nicht leichter. Sie hat vergessen, dass sie schutzlos ist und leicht zum Freiwild werden kann, ohne die Obhut ihrer Mama. Sie will nur ein paar Dinge abfragen, die sie interessieren: Wer will von euch nach Deutschland? Wer weiß, wie die Dinge des Lebens dort laufen?
Das muss sie jetzt alles herausbekommen, weil die Mutter darüber noch nicht gesprochen hat. Gewiss hätte sie noch. Irgendwann kurz vor dem Ziel…
Einer der Männer redet davon – mehr zu sich als zu Ashanti -, dass der Staat einem Geld schenkt, damit man nicht verhungert. Ob das sein Wunschtraum ist, weiß Ashanti nicht. In Afrika testet man vorsichtig, wer sein Gegenüber ist und ob man ihm trauen kann. Keiner will sich vor einem möglichen Konkurrenten in die Nesseln setzen.
Auch andere Frauen sehen nicht gerne, wie Ashanti bei den Männern steht und mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hält. So hat sie es von ihren Eltern gelernt und so bringt sie es fortan auch Kanzi bei. So muss sie es ihm beibringen, das ist jetzt ihre verdammte Pflicht.