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Das Gesetz der Wüste

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Ein klappriger LKW kämpft sich über die unbefestigte Piste den Hügeln entgegen, wo Daleel, der Fahrer, vor zwei Tagen die Gruppe und den anderen LKW zurücklassen musste. Wenn sie klug waren, haben sie den LKW nicht verlassen. Wenn sie klug waren…

An den Türen dieses Gefährtes klebt ein rotes Kreuz. Niemand wird vermuten, welche Fracht er bald wieder aufnehmen wird. Fluchthilfe ist verboten, aber von etwas muss er ja leben, er, Abu Bakr und seine Frau und seine vier Kinder. Es war nicht leicht, das klapprige Gefährt abzuzwacken. Wer bringt schon eine Leistung zweimal, die nur einmal bezahlt wird.

Die Räder graben sich tiefer in den ausgefahrenen Sand. Langsam kommt er voran. Die Fahrt hinauf über die Dünen ist ebenso gefährlich wie wieder herunter. Und seine ganze Mission ist gefährlich. Er ist allein.

Daleel hatte sich abgeseilt, aus Angst, sie würden noch einmal in der Aussichtslosigkeit stecken bleiben.

Bevor er das Wagnis eingeht, will er sich noch einen Schluck aus der Flasche genehmigen. Man kann nie wissen, ob man stecken bleibt und ob man, wenn der Wagen umstürzt, überhaupt noch an sein Wasser kommt. Abu Bakr greift hinter sich und zieht den bestickten Ziegenlederbeutel hervor. Das Wasser ist lauwarm und stinkt, aber es benetzt seine aufgesprungenen Lippen wohltuend. Wie ein verdurstendes Huhn trinkt er in hastigen Schlucken.

Der Zeiger der Tankuhr zittert. Erschrocken schaut er genau. Er steht auf dreiviertelvoll, also zitterte er nur von der Erschütterung. Warum aber. Er steht doch, er fährt doch nicht.

Ein Grollen, ein Zittern, wenn man sensibel genug für diese Art Zittern ist…

Weit in der Ferne die dunkle Wand, die den Blick zum Horizont versperrt. Die das Blau des Himmels trübt und die bald alles unter sich begraben wird…

Weit vor der Wand bewegen sich die Schattenrisse von drei Kamelen. Wie eine Fata-Morgana ziehen sie ihren Weg. Unbeeindruckt. Ungläubig schüttelt Abu Bakr den Kopf. Das müssen Touristen sein. Nur diese unerfahrenen Europäer tun nicht sofort alles, um sich in Sicherheit zu bringen?

Mitten in der unwirtliche Wüste, die er ganz gut kennt und der er doch nie traut, schaltet der Mann alle Funktionen an der Armatur der klapprigen Wüstenschildkröte auf Aus, kurbelt die Fenster nach oben und zieht die Schaufel mit dem kurzen Stiel, die stets unter dem Beifahrersitz liegt, in seine Nähe. Am Ende könnte der Sand sogar die Scheiben eindrücken und vom Inneren Besitz ergreifen. Schon einmal war er von all dem Sand begraben worden. Man konnte ihn retten. Es waren Schwarzafrikaner, die ihn fanden, weil einer der Reifen vom anhaltenden Sturm wieder freigelegt worden waren. Mit bloßen Händen haben sie gebuddelt. Nur deshalb ist er bereit, auch denen zu helfen, wenngleich für ihn an Lohn nicht das Schwarze unter dem Fingernagel abfällt. Elroy hat die Verbindung, also muss er Elroy trauen. Ohne ihn hätte er nicht einen dieser Aufträge bekommen. Elroy ist das, wie er heißt: Der König, auch wenn er nur der König der Schlepper ist. Diese Arbeit ist ein gutes Geschäft geworden und man muss es hegen und pflegen, solange es anhält. Es darf kein Makel auf die Organisation fallen, für die auch Elroy vermutlich nur ein kleines Licht ist.

Noch einmal schaut er in die Richtung der gelbbraunen Wand, die unaufhörlich näher kommt. Er schirmt mit einer Hand seine Augen vor der verzweifelt strahlenden Sonne ab, mit der anderen zieht er ein Kreuz von der Stirn zum Nabel und dann quer über die Brust. Was hat sich Allah nur dabei gedacht, diese Wüste zu formen. Bald wird der Sand auch über die Sonne siegen…

Nur einen Tagesmarsch nördlicher rasten etwa dreißig erschöpfte Menschen. Die Frauen sitzen apathisch mit ihren Rücken an Steine gelehnt, die Köpfe in den Schatten haltend. Eine sehr junge Frau sitzt bei ihnen, kaum selbst den Kinderschuhen entwachsen, obwohl sich die meiste Zeit zwei Kinder an sie drängen. Diese junge Frau mit dem kastenförmigen Gesicht, dem sehr kurzen krausen Haar und den gelblichen Augen, die sich wie übergroße Glasperlen aus den Höhlen wölben, trägt einen Tarnanzug, wie ihn Rebellen tragen oder Regierungssoldaten, wenn sie im Busch operieren.

Diese blutjunge Frau bastelt aus kleinen Teilen, die sie in ihrem Rucksack mit sich trägt, bei jedem Stopp in der Wüste irgendwelchen Schmuck. Ketten, Armreifen, Ringe, die sie am Meer verkaufen will, um wieder ein paar Münzen in der Tasche zu haben. Vielleicht kaufen auch die Europäer ihren Schmuck, so wie die Touristen ihn am Flughafen gekauft haben.

Ein paar junge Männer und jene Kinder, die nicht im Schoß ihrer Mutter schlafen, spielen auf der anderen Seite des Hügels ein Steinspiel. Kanzi ist bei ihnen. Ashanti hat es erlaubt, und darüber ist der Junge sehr froh. Ashanti ist strenger mit ihm als Mama war. Sie ist wie Papa, gütig aber streng.

Die wenigen erwachsenen Männer scharen sich um Mbalu. Sie rauchen und reden. Sie fuchteln mit ihren Händen, aber ihre Gesichter sind starr.

Niemand bemerkt das Unheil, das unaufhörlich auf sie zurollt. Erst als der Sturm immer heftiger wird und sich die gelbe Wand aus Sand über den Felsen aufbäumt, verdunkeln sich die letzten Fetzen blauen Himmels. Die Jungen auf dieser Seite des Hügels hören noch die Schreie der Mütter und die Kommandos der Männer um Mbalu, sie sollen alle in den Windschatten kommen. Bevor sie es verstehen und noch ehe sie die Kraft aufbringen, drückt sie etwas zu Boden. Etwas Kraftvolles und zugleich schmerzhaft die Haut Zerschneidendes. Dann sieht man die Hand vor den Augen nicht mehr und keiner steht mehr aufrecht…

Kanzi versucht, nicht die Orientierung zu verlieren. Nur noch schemenhaft erkennt er die Leiber, die sich an den Hang des Hügels drücken. Hier bei ihm tobt der Sand viel heftiger, weil dieser Hang dem Wind zugewandt liegt. Das war es also, was die Männer mit Windschatten meinten?

Von einer starken Böe wird Kanzi zu Boden gedrückt. Mühsam kämpft er gegen den Druck auf seinen Körper an. Als er sich ein wenig hochrappelt, versinkt alles um ihn herum in gelbbrauner Dunkelheit. Sand dringt in alle Poren und macht das Atmen unmöglich. Innerhalb weniger Augenblicke ist er unter einer Schicht peitschenden Sandes begraben. Er denkt an Mama, die unter eben diesem Sand begraben liegt, durch den sie seit Tagen mühevoll stapfen. Auf einmal fühlt er sich seiner Mama so nah und er ist so dankbar für den Wind, der ihn zu ihr gebracht hat. Es war leichter, als er es sich je hat vorstellen können…

Auf der anderen Seite des Hanges kämpft sich Ashanti auf allen Vieren durch die plötzliche Dunkelheit. Sie möchte weinen, aber es findet keine einzige Träne aus den sandigen Augen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht tastet sie sich vorwärts. Rufen kann sie ihren Bruder nicht. Sobald sie ihre Lippen zu einem Ton formen will, möchte sie glauben, jemand stopft ihr eine Handvoll Sand in den Mund.

Unter ihren Händen spürt sie den weichen Stoff eines Kleidungsstücks, aber sie sieht nicht, zu wem es gehört. Mit letzter Kraft richtet sie sich auf, doch der Sturm ist stärker. Sie knickt ein und stürzt zu Boden. Der Sturm presst eine kompakte Sandmasse um die großen Steine, die ihnen Stütze waren und die sie doch nicht schützen können. Sie versucht, sich hinter einem der Steine in Sicherheit zu bringen, aber gerade im Windschatten türmt sich der Sand am höchsten. Sie weiß nicht, wie lange sie Kanzi schon vermisst. Er hatte noch gesagt, dass er zur anderen Seite des Hügels gehen möchte, wo die Kinder der Frau im Tarnanzug etwas gefunden hätten, was ihre Mutter brauchen könnte. Kanzi wollte ihnen beim Suchen helfen, weil diese drei Menschen ihn stets gut behandelten. Das war verdammt lange her…

Sie muss über den Kamm des Hügels – unbedingt. Nur so kann sie ihren Bruder finden. Die Kraft des Sandes und die Wucht des Windes drücken sie nieder. Verzweifelt krallen sich ihre Hände an einem Stein fest, dann drückt etwas Schweres ihren Kopf in den tobenden Sand…

Sie hört jemand singen. Ist das wirklich oder halluziniert sie schon? Fiebrig fühlt sie sich seit Tagen, aber das ist nur der Zustand, wenn man nicht genug trinkt. Mama hat stets darauf geachtet, dass die Kinder genug tranken. Das Gehirn braucht viel Flüssigkeit, um arbeiten zu können. Ohne Gehirn ist der Mensch kein Mensch. In Europa könne man wohl schon ohne Herz leben, ohne Niere sowieso, aber ohne Hirn lebt auch dort noch kein einziger Mensch…

Während ihr diese Gedanken durch den wirren Kopf gehen, packt sie reine Panik. Das Schwere lastet noch immer auf ihrem Leib. Ihr Herz scheint auszusetzen und die Kehle ist wie zugeschnürt.

Sie kann die Augen nicht öffnen. Alles um sie herum ist nicht mehr gelb, es ist nur noch dunkel.

Es darf noch nicht dunkel werden, betet sie, ohne ihre Hände zu einem der Götter erheben zu können, dem sie jetzt zürnt, auch wenn ihr Zorn ins Nichts geht. Wie soll ich im Dunklen meinen Bruder finden?

Als der Sturm schwächer wird, ist die Wüste eine andere. Die großen Steine liegen täuschend weich gebettet im hüfthohen Sand. Menschen pellen sich wie Echsen aus sandiger Haut. Alles schreit durcheinander. Jeder sucht den Seinen in der Nähe und wird hysterisch, wenn er ihn nicht sieht. Man buddelt unter jeder Anhöhe, die der Sandsturm neu geformt hat.

Von der anderen Seite des Hügels hat der Wind den Sand mehr verweht als aufgetürmt. Dennoch klagen die Männer und fluchen und schlagen um sich, weil der Sand in allen Kleiderfalten steckt und sich nicht ausschütteln lässt.

»Wo ist Kanzi!«, brüllt Ashanti, die auf Knien rutscht und mit den Händen jeden neuen Hügel durchpflügt.

Noch rechtzeitig entdeckt ihn jemand und zerrt seinen reglosen Körper hoch.

Sein Kopf sackt immer wieder zurück auf die Brust. Für einen Moment befällt Ashanti grenzenlose Panik. Die Frau im Tarnanzug fühlt seinen Herzschlag am Hals, bevor sie nickt. Ihre völlig verdreckten Kinder – ein etwa achtjähriges Mädchen und ein halb so alter Junge, sind zum Glück an ihrer Seite.

»Verdammt«, flucht sie. Und dann sagt sie ungezielt vor sich hin: Sie hätten noch Glück im Unglück gehabt, dass keiner umgekommen ist. Jetzt – so kurz vor dem Ziel, wenn sie Mbalu glauben dürfe – soll auch niemand mehr auf der Strecke bleiben.

Mbalu ist der Einzige, dessen Handy noch funktioniert. Er hatte wohlweislich genug Akkus dabei. Wohlweislich. Oder er hatte sie Nsenga abgenommen, der offenbar erfahrener war als alle zusammen. Wer weiß. Was aber nützt ihm der Akku hier in der Einöde, wenn es keinen Empfang gibt.

Kanzi ist in fürchterlicher Verfassung, aber auch Ashanti hat sich noch nicht erholt von den Folgen des Sandsturmes…

Ein paar Stunden kämpfen sie – Victoria, die Frau im Tarnanzug und Ashanti sowie noch ein paar der Frauen - um jene, die es schwerer getroffen hat. Der kleine Bruder ist unter denen.

Irgendwann kommt Kanzi zu sich. Seine Hand greift nach etwas. Zuerst erwischt sie Ashantis sandigen Kente, dann ihren Arm. Kanzi bläst viel Luft aus seinen Lungen, die sich reflexartig angestaut hatte. Sein Mund zieht sich breit, als Ashanti erleichtert seine Wange küsst. Er spürt es deutlich.

»Ich war bei Mama«, sagt er zuerst. Dabei spucken seine Lippen noch immer Sand. Und dann sagt er: »Danke. Du hast mich nicht im Stich gelassen.«

»Kanzi. Ich bin bei dir und ich werde dich nie im Stich lassen. Niemals. Eher müsste ich tot umfallen…«

Statt einer Antwort hören die sorgenvollen Gesichter nur ein zartes Stöhnen.

Die kalten Spuren im heißen Wüstensand

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