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1982 - Dr. Mario Groth

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Der schäbige Karton stand auf der Anrichte aus edlem Palisander und störte die Eleganz des Zimmers in diesem Haus, das sich abhob vom Rest der bröckligen Häuschen in der Siedlung am südlichen Stadtrand. Mit rostroten Gummiringen verschnürt, sah die zerschundene Schachtel nicht aus, als würde sie zu diesem stattlichen Mann gehören.

Doktor Mario Groth löste die Gummifessel. Wie aus dem Nichts hörte er das dumpfe Schlagen von Gläsern im großen Topf auf dem rußenden Küchenherd. Seine Mutter hatte Einweckgläser mit diesen Gummis versehen. Auf Scheuertücher gestellt hüpften sie im brodelnden Wasser herum, um den inneren Druck nach außen zu entlassen. Ein einfacher physikalischer Vorgang, erklärbar wie vieles im Leben.

Seiner Frau Denise war der alte Karton in die Hände gefallen. Sie hatte ihn zu all den Sachen gestellt, die er mit den wenigen Überresten aus seiner ersten Ehe in der Kammer verstaut hatte. Die Muße, unnütz Gewordenes zu entsorgen, hatte er noch nicht gefunden. Dieser Karton gehörte nicht zum Unnützen. Dieser Karton verwahrte all seine Erinnerungen an das gute wie das schlechte Leben des Mannes, der sich aus dem Morast der Habenichtse, aus der Bedeutungslosigkeit zum angesehenen Chefarzt der Augenklinik emporgearbeitet hat. Er war laut geworden, zum ersten Mal gegen seine junge Frau. Er, der immer auf Erhabenheit, auf absolute Überlegenheit achtete, konnte gerade noch seine Hand zurückhalten …

Er hatte dann den Karton in seinen Bücherschrank geschoben, ebenso behutsam, wie er zu operieren gewohnt war. Dieser edle Schrank spiegelte den Glanz seines achtbaren Lebens, ein guter Platz für verborgenes Wissen über dunkle Seiten …

Genau genommen wollte er nicht noch einmal in sein altes Leben zurückschauen. Diese Entscheidung hatte ihm Denise mit ihrer Eigenmächtigkeit zunichte gemacht.

Denise. Irgendwie gehörte auch sie zu seinen Fehlgriffen. Warum wollte er unbedingt ein junges, unerfahrenes Ding in seinem Bett? Er hatte Caroline mit ihrer herrlichen Zügellosigkeit.

Denise kommt aus betuchtem Haus. Ihre Jugend, die ihn für kurze Zeit reizte, war nicht das, was sein Begehren brauchte. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie es dazu kam, was jetzt in ihrem Bauch wuchs. Denise konnte nicht wissen, was sie ihm mit dieser Schwangerschaft zumutete …

Die Frühjahrssonne, noch ungehindert von Blättern im Astwerk, schien durch die Glasfenster der Veranda in den Raum, der ganz in Brauntöne gehüllt war. Die Strahlenbündel zauberten einen edlen Glanz auf die polierten Flächen; der erste Frühling, den er in diesem Haus erlebte. Nicht seine Zeit. Ein Mann um die fünfzig liebt gewisse Stürme …

Er löste einen Gummi nach dem anderen, uneins mit sich, ob er den seit Jahren schlummernden Inhalt noch einmal willenlos ertragen wollte. Eine seltsame Macht ging von diesem alten Karton aus. Er hatte sich die alten Bilder nie mehr angesehen, die alte Akte mit der Aufschrift »geheim« nie mehr geöffnet. Warum auch. Jeder Mensch sollte sich vor Leid hüten. Nichts ist abscheulicher, nichts aufdringlicher, kaum etwas belastender als Seelennot.

Die vergilbten Fotos lagen säuberlich geordnet, in kleine Bündel geschnürt, jedes mit einer Aufschrift versehen. KINDHEIT stand genauso spröde auf einem Zettel, wie Marios Kindheit verlaufen war. Vorsichtig zog er den Stapel auseinander. Beim ersten Blick auf das Chamois grinste er merkwürdig. Eingerahmt in zerschlissene Bütten sah er dieses blonde Mädchen, klein, rundlich, mit einem von Pflaumenmus verschmierten Mund. Es war ein trüber Sonntag. Damals waren seine Eltern ausgegangen. Mario durfte nicht mit. Oh, wie hasste er Mutter für Vaters Liebe …

Getrieben von ohnmächtiger Wut und Einsamkeit war er auf die Straße gelaufen. Er hatte dieses blonde Mädchen getroffen, verschüchtert und ebenso einsam wie er selbst. Die Kleine folgte ihm in den schmalen Gang, der zwischen zwei großen Mietshäusern in einen Hinterhof führte. Ein Knallerbsenstrauch schützte sie beide vor strafenden Blicken. In der Nische am Ende des Durchganges hatte Mario oft gesessen. An diesem Sonntag war es anders.

Es machte ihm nichts aus, das Kind mit engelssüßen Worten zu diesem Platz zu locken. Das helle Haar des Mädchens fiel auf die schmalen Schultern und kräuselte sich wie Sauerkraut im grauen Dunst des Herbstnebels. Hinter dem Strauch packte er dann zu und zwang das Mädchen zu tun, was er bisher immer heimlich getan hat. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er den lustvollen Moment in einer Explosion, auf die er fortan keinen Tag in seinem Leben verzichtet hat. Die zarte Hand der Kleinen hat er nie wieder vergessen, ihr Gesicht indes war ihm entfallen. Bis zu dieser Minute …

Ein zweites Bündel vergilbter Bilder trieb einen Schauer über seine Haut. Unter den alten Birken, die sich tief verneigten, sah er sechs Männer, alle in Schwarz gekleidet, dennoch wenig elegant. Sie trugen den Sarg, in dem sein Vater zur letzten Ruhe gebettet wurde. Er war in Schizophrenie erblindet und früh gestorben …

Die einzig schwachen Worte, die sein Prestige ihm gestattete, flossen durch seinen Schädel: Hätte man damals etwas von genetischen Defekten gewusst, ich wäre Genforscher geworden, das schwöre ich dir, Papa!

Von seiner Kindheit sprach er nie. Sie war ihm zuwider. Für die schönen Dinge des Lebens konnte seine Mutter weder Zeit noch Kraft aufbringen. Was der heranwachsende Mario nicht selbst organisierte, fand in seinem Leben nicht statt. Seine Kindheit hatte er an den Krieg verloren. Dann waren die Russen gekommen. Später war es ein Neulehrer, der Marios Interesse für Biologie entdeckte. Der junge Staat hatte ihn zur Oberschule delegiert, danach durfte das Halbwaisenkind aus der Arbeiterklasse studieren; ein Quotenbringer der sozialen Rechtfertigung des Systems.

Mit dem Diplom in der Tasche sah er sich im Glanze und lief mit voller Kraft auf sein Ziel zu. Das Schicksal des Vaters hatte ihn dazu bewogen, Augenarzt zu werden. Er hatte es geschafft. Dankbarkeit für diese Chance empfand er nie. Es war sein eigener Verdienst. Sein Fleiß. Sein Intellekt! Er hatte es geschafft. Er ganz allein!

Sein Blick durchmaß die Bibliothek. Von einem solchen Haus, ja von seiner Stellung im größten Klinikum des Energiebezirks hätte er, hätte sein Vater, niemals zu träumen gewagt.

Mario Groth erhob sich. In seiner Brust tobte ein Kampf zwischen dem Erinnern und dem klaren Blick auf das, was er für erstrebenswert hielt. Ihn daran zu hindern, sollte sich niemand wagen, auch Denise mit ihrer Eigenmächtigkeit nicht.

Er schaute durch das Glas der Veranda in den Garten. Denise - trotz kugeligem Leib - kratzte mit einer Harke über die feuchte Frühjahrserde. Möge ihr Mühe die ungewollte Frucht zerstören, die nur Unheil bringen wird!

Die einzige Hilflosigkeit, die seiner Macht enthoben war, hatte mit Denise zu tun. Etwas musste ihm einfallen. Etwas, wovon keiner je etwas erfährt …

Die zitternde Hand griff nach dem einzigen Päckchen alter Fotos, das aufzuschnüren ihm niemals wieder eingefallen wäre. Es umschloss seine größte, beinahe vergessene Ohnmacht.

Ganz ruhig tasteten die Finger über das fade Gesicht eines Kindes in einem selbstgefertigten Passepartout; kläglich lächelnd aus durchscheinender Haut. Die Hände hielt es vor der Brust verschränkt, die Augen ausdruckslos, übermüdet. Das todkranke Kind auf dem schützenden Arm seiner Mutter, deren Lebenslust mit dem Kind dahinsiechte. Edda war seine Jugendliebe, schön und fügsam, wie vom Himmel auserwählt. An jenem Tag, als das Foto entstand, wussten sie beide, dass ihr Söhnchen Ralf am Tay-Sachs-Syndrom erkrankt war und bald sterben würde. Die Krankheit, geerbt vom Großvater, wie er stets beteuerte, aber es anders befürchtete, war Grund genug, kein weiteres Kind zu wollen – auch mit Denise nicht. Dieses Geheimnis hütete er vor jedermann. Das musste so bleiben.

Der charismatische Mann von fünfzig Jahren, mit dunklem, dichtem Haar und weißem, kräftigem Gebiss im scharf geschnittenen Gesicht, erhob sich, schaute erneut in den Garten, ehe er seinen Blick lange durch die Bibliothek und das angrenzende Teezimmer schweifen ließ. Er besaß, was andere Menschen in diesem Staat nie erreichen würden. Damit meinte er keinesfalls seine junge Frau Denise, Tochter des reichen Kürschners Kowacz, obwohl gerade sie bei manch einem Kollegen zu den Neidobjekten gehörte.

Was wissen diese Arschgeigen von der höchsten Lust? Wie könnte ein Kleingeist so genießen? Sie gieren nach der Schönheit und Jugend meiner Frau, die gar nicht fähig ist, so zu entbrennen, wie Caroline …

Sein Körper straffte sich. Wie immer schaute er nach vorn. Der nächste Tag sollte ein besserer werden.

Caroline Kunz arbeitete seit kurzem wieder im Klinikum, wenn auch nicht auf seiner Station. Irgendetwas oder irgendwer muss es verhindert haben. Sie ist gekommen, weil sie ihm wieder nahe sein will, keine Frage. Seine Konkubine »Lina«, wie nur er sie nannte, ließ sein Übel vergessen. Der Gedanke an den nächsten Tag nährte neue Wollust in seinen Lenden und gebar nicht ganz nebenbei den einzig gangbaren Weg gegen seine Schmach …

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