Читать книгу ...und niemand wird es je erfahren - Maxi Hill - Страница 4
Caroline
ОглавлениеAm 12. Juni 1982 lief Caroline Kunz die Stufen hinauf zur Augenklinik. Niemals zuvor hatte sie auf diesem Wege das Gefühl, heiße Zweifel lähmen ihre Glieder.
Er hatte ihr befohlen zu kommen. Mario hatte seine Methode, jede Gegenwehr im Keim zu ersticken.
Wie hätte sie wissen sollen, was er an diesem Tage von ihr wollte?
Sie dachte an sein Glück. Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen. Erfolglos kämpfte sie dagegen an, derweil sie hinunter in den Innenhof der Klinik schaute. Licht und Wärme durchströmten den Park; in diesen Stunden war er menschenleer.
Sie öffnete das schmale Fenster und atmete tief. Süß und schwer schmeckte die Luft nach blühenden Akazien. Wie könnte sie jetzt nicht an ihre kleine Marion denken, süß und rein wie der Duft dieses Baumes, der in Wahrheit Robinie heißt. Alles, was nur Schein im Leben ist, wie diese Scheinakazie, sollte einen anderen Namen tragen. Scheinliebe?
Für Caroline sollte es das Glück, das sie sich mit Mario erhofft hatte, nicht geben.
Die grässlich grüne Tür mit den milchigen Scheiben trennte die Station vom Operationsbereich. Sie kannte sich hier bestens aus. Bis sie weggegangen war, hatte sie diese Station geliebt und zugleich verflucht. Dieses innere Schwanken gehörte seit langem zu ihrem Leben.
Langsam drehte sie am Knauf. Ihr Blick durchmaß den leeren Gang, so leer wie ihr Herz.
Was ist nur mit uns geschehen, fragte sie sich, wie so oft. Eine Antwort fand sie an diesem Tag nicht. Noch nicht
Sie hatte Mario immer bewundert. Mit heißem Herzen hatte sie jeden Handgriff verfolgt, wenn er operierte. Beide Augenpaare trafen sich nie zufällig. Immer drückten sie ihre Bewunderung aus, immer zollte er ihr dafür ein flüchtiges Zwinkern. Jede Geste stimmte, seine Komplimente beschworen ihre heimlichen Träume herauf. Warum sind daraus Albträume geworden?
Im Gang brannte nur eine Notleuchte, die auf Bewegung reagierte. Hinter der letzten Tür des Ganges waren die Mauern mit ihrer Schamlosigkeit besudelt. Früher war sie voller Entzücken mit Mario klammheimlich dort hineingeschlüpft. Sie hatte keine Skrupel, sie hat ihn wahnsinnig geliebt; damals sah sie einen anderen Menschen in ihm.
Sie will sich nicht vor sich selbst rechtfertigen, eine Schuld jedoch kann sie noch heute nicht erkennen.
Caroline war vorübergehend in ihre Heimatstadt zurückgegangen, weil sie die Schwangerschaft zu verheimlichen hatte, die langsam offensichtlich wurde. Mario hatte keine Ahnung davon. Sie dachte, wenn er sie nicht aus Liebe heiratete, sollte es auch keinen Grund zur Pflicht geben. Bald wurde ihr klar, wie blauäugig sie war, mit Mario und mit ihrer Sicht auf die Dinge des Lebens. Dasselbe passierte nicht nur einmal.
An jenem denkwürdigen Tag also stand sie reglos im Gang. Woher der Schmerz in ihrer Brust rührte, wusste sie nicht. Das Herz schlug wie wahnsinnig unter der Haut. Reglos verharrte sie, unschlüssig, ob die innere Ruhe je wieder einkehrte. Es war totenstill hier oben, nur ein leises Scharren hinter der Tür ließ sie aus ihrer Starre erwachen. Die Tür wurde aufgerissen. Mario stand da mit grimmiger Miene:
»Wenn ich neunzehn Uhr sage, dann meine ich neunzehn Uhr. Jetzt stiehlst du auch uns noch kostbare Zeit.«
Sie verstand sofort: Das Stehlen von Morphium war ihre einzige Schuld. Wie viel Schuld könnte sie ihm inzwischen vorhalten? Sie wusste seit langem, wie wenig ihr Vorwurf taugen würde, um eine Liebe am Leben zu halten.
Sie hatte damals keine andere Wahl, musste in den Medikamentenschrank langen, damals, als ihr Vater die Schmerzen nicht mehr ertrug und die Götter in Weiß ihm nicht halfen … Es war das Morphium von Marios Station. Er hat sie nicht verraten, wenngleich von dieser Zeit an merkwürdig grob behandelt. So war er. Er wusste genau, was er tat. Die hundertste Rechnung für sein Schweigen sollte sie an diesem Tag bekommen...
Kaum war der Gedanke gedacht, fand sie sich wieder im heimlichen Liebesnest. Man hatte hier drinnen etwas verändert. Der Paravent fehlte, stattdessen stand ein großer Spiegel an gleicher Stelle. Darin war der gesamte Raum zu überblicken. Sie schämte sich bei dem Gedanken, warum der Spiegel dort stand und wendete sich ab, mochte nicht ansehen müssen, wozu er sie gleich treiben würde, weil sie schwach war, zu schwach gegen Mario. Sie zitterte vor Scham, die sie seit kurzem gegen sich selbst empfand. Inzwischen durfte nicht mehr sein, was einmal nicht oft genug sein konnte. Ihre Schwäche erstickte den guten Vorsatz, das letzte Quäntchen Ehre. Wie eine willenlose Maschine tat sie, wonach nur ihm gelüstete, gierig und unbeherrscht wie nie zuvor.
Zu jener Zeit, wo ihr das Leben das größte Geschenk gemacht hatte, wurde zugleich ihre große Liebe zur Pein, obwohl Mario Groth der einzige Mann war, zu dem sie körperliche Nähe hatte. Lange wollte sie es nicht wahrhaben, ihm immer noch verfallen zu sein. Bisweilen glaubte sie, sie sei ihm diese Gefälligkeit noch immer schuldig. Schuld und Liebe sind wie Feuer und Eis.
Als sein Appetit gestillt war, befahl er ihr, sich auf einen der Stühle zu setzen. Dicht daneben nahm er wieder einen menschlichen, beinahe versöhnlichen Ausdruck an. Seine Erregung war abgeklungen. Ruhig begann er auf sie einzureden. Seine Worte erinnerten schmerzlich an die Zeit ehrlicher Gefühle.
»Lina« - nur er sagte Lina zu ihr, daran hatte sich nichts geändert - »ich habe damals für dich getan, was ich konnte. Heute möchte ich, dass du etwas für mich tust. Ich hoffe sehr, du hast noch die göttliche Gabe, wieder zu richten, was der Mensch verdorben hat.«
Was so gütig begann, hörte sich am Ende eher befehlend an. »Es ist das erste Mal, dass ich so viel Vertrauen in dich setze. Lass es nicht das letzte Mal sein.«
Ihr wässriger Blick erkannte ein Wesen, das sie niemals in Mario vermutet hätte: flehend, bittend, beschwörend. Zu Doktor Hämplin hätte jede der Gesten gepasst, zu Mario Groth nicht.
»Das Leben ist unbarmherzig, Lina. Kein Mensch darf je erfahren, was ich dir jetzt anvertraue.«
Er versicherte, die volle Wahrheit zu sagen, um ihr die Tragweite des Vorhabens klar zu machen.
»Du weißt, dass mein Sohn Ralf qualvoll gestorben ist. Meine Ehe ist damals am Gram meiner Frau Edda zerbrochen. Du weißt auch, dass ich deswegen nie wieder heiraten wollte.«
»Ja, aber nun hast du ... «
»Weil du mich schnöde verlassen hast. Es war deine Schuld, Lina. Nur deshalb steht das gleiche Schicksal wieder so grausam vor mir.«
Wieder war sie der Grund seines Übels.
»Diese Kinder, die da auf eurer Station liegen, sind dem Tod geweiht, genau wie mein kleiner Ralf es war.«
Blitzschnell drehte sie ihren Kopf herum, den sie abgewendet hatte, aus Scham. Warum wusste sie nichts von seinen Sorgen? Sie sah sein Lauern im Blick, was sie bei Mario noch niemals zuvor entdeckt hatte. Mario sprach immer aus, was er für richtig erachtete, ob es sein Gegenüber vertrug oder nicht.
»Ralf ist an den Folgen eines Erbfehlers gestorben. Lina, ich werde das nicht noch einmal über mich ergehen lassen. Nicht noch einmal!«
Wie sollte sie glauben, dass dieser klagende Mann jener über alles erhabene Mario Groth war.
»Wieso bei dieser Frau auch ...?«
»Weil ich den tödlichen Gen-Defekt habe, verstehst du?«
»Was für einen Defekt?«
»Ein Erbfehler, ein Mangel an N-acetyl-Hexosamidase A-Enzym, falls dir das überhaupt etwas sagt. Detlef Baron hatte ihn damals über ein Speziallabor nachweisen lassen. Damals war es zu spät. Einem solchen Kind kann nicht geholfen werden!«
Sie hörte zwar, was er sagte, und sie verstand sehr gut die Tragweite der Worte, konnte sie nicht mit Mario verbinden, und nicht mit dem, was nach ehrlichem Leid klang. Sie dachte nur an ihre kleine Marion, das Liebstes was sie hatte. Marion hatte sie ihm schließlich zu verdanken, aber inzwischen sah es so aus, dass er ihrem Kind diese miesen Gene mit auf den Lebensweg gegeben hat.
»Ich kann das nicht glauben«, flüsterte sie voller Sorge. »Warum hast du nie etwas gesagt …?« Verraten durfte sie sich nicht. Wenn er jetzt etwas von Marion erfahren würde, brächte er sie um, zumindest würde er an Erpressung glauben. Mehr noch. Bei seinen Methoden, Menschen mundtot zu machen, liefe alles auf eine Katastrophe hinaus. Also schob sie rasch nach: »Warum habt ihr nichts dagegen gemacht?«
»Denise weiß nichts davon. Ich bin doch kein verdammter Schwächling, der sich an jeder Litfaßsäule kundtut.«
»Und deine …«, nur schwer bekam sie heraus, was zu fragen war, weil diese blutjunge, schöne Frau der Grund ihres Übels geworden war. »Deine Frau? Warum hat sie nicht ... «
»Willst du mir nun helfen oder nicht.«
Wenn es etwas gab, womit zu helfen war, dann konnte es gegebenenfalls auch ihr nutzen und ihrem Kind. Das war der triftige Grund für ihr Nachgeben …
»Natürlich. Aber was kann ich schon tun?« Sie stotterte vor Angst und Erregung. Er beeilte sich in seinem gewohnten Befehlston:
»Du vertauschst die Kinder Benz und Groth. Sichere ab, dass niemand etwas bemerkt. Lass die Mütter nur von größtmöglicher Ferne an die Kinder heran. Beide Mütter, verstehst du. Nur du betreust die Kinder, wenn maßgebliche Dinge vorgesehen sind. Und achte auf die Papiere. Hast du das verstanden?«
Caroline glaubte, seit Minuten nicht mehr geatmet zu haben.
»Ich soll was …?« Sie kannte das Gefühl, ein Unrecht begangen zu haben, und sie erinnerte sich schmerzlich an seine Art, mit ihr umzugehen. Was er an diesem Tag von ihr wollte, grenzte an ein Verbrechen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen.
»Das kann ich nicht. Mario, warum tust du mir das an.«
»Kannst du ermessen, was das Leben mir angetan hat? Die Bilder meines todkranken Jungen haben mir in unzähligen Nächten den Schlaf geraubt. Die apathische Miene im aschfahlen Gesicht. Kennst du so etwas? Die Ärmchen durchscheinend wie Elfenbein, demütig über die Brust verschränkt. Die kraftlos tollpatschigen Schritte, bevor die Lähmung ihn in völliger Erblindung erstarren ließ.«
Er konnte immer in drastischen Bildern reden; bedauern konnte sie ihn nicht mehr, die beiden Neugeborenen umso mehr.
»Eine verdammte Ironie des Schicksals!«, hörte sie ihn wie aus der Ferne. »Nicht wahr? Ein Augenarzt, dessen Kind unaufhörlich das Augenlicht verliert, kann nicht helfen, weil er die Ursache nicht kennt. Dann dieses Ende!«
Er legte seine Arme um ihren Hals und bat sie flehend, ihm aus dieser Qual zu helfen. Welches Argument würde gegen seine Selbstherrlichkeit helfen? Es konnte nur selbstherrlich sein, wenn einer Gott zu spielen versuchte. Einen klaren Gedanken zu fassen, gelang ihr nicht, also faselte sie etwas von Menschlichkeit, die sie seit diesem Moment gänzlich an ihm vermisste.
»Ich habe Angst, Mario, dass jemand … dass Doktor Hämplin etwas merkt. Er ist der Letzte, den ich enttäuschen möchte. Irgendwann kommt man dahinter. Und später …? Die Mädchen werden nie ihren Müttern ähneln.«
Als sie den Namen ihres neuen Chefs über die Lippen brachte, grinste er merkwürdig. Er blieb ruhig, sonderbar kühl. »Es ist nicht das erste Mal, dass Säuglinge vertauscht werden.«
Sie klammerte sich an jeden erdenklichen Strohhalm:
»Jede Mutter erkennt ihr Kind.«
»Diese Mütter nicht. Dafür habe ich gesorgt. Noch sieht man bei den Winzlingen keinen Unterschied. Sobald du es getan hast, nehme ich die beiden mit dem Armbändchen Groth sofort nach Hause. Kein Mensch wird etwas merken. Es muss nur sofort sein. Die kranken Kinder werden ein paar Wochen länger auf Station bleiben, dann können die Leute gar nichts mehr merken, das müsstest du am besten wissen.«
Ihr blieb nur, den Blick zu senken und den Kopf zu schütteln, Mario hatte längst ein anderes Argument, das nicht zu widerlegen war: »Die beiden Mädchen werden bei Denise eine sehr gute Kindheit genießen, besser als es diese andere Familie ihnen je geben kann! Die anderen beiden - Denise hat sie Stella und Selina genannt - werden sowieso sterben. Über kurz oder lang …«
Sie weinte, als sie die Namen hörte. In Gedanken sah sie die Bilder der anderen beiden Winzlinge, die sie seit zwei Tagen zu betreuen hatte. Julia und Jasmin Benz. Am schlimmsten war der Gedanke, dass zu den totgeweihten Kindern des Mario Groth noch ein Name dazu kam: Marion Kunz. Sie hatte ihrem Kind die weibliche Version seines Namens gegeben, hoffnungsvoll und ehrlichen Herzens. Bei dem Gedanken, was diesem süßen Kind womöglich bevorstand, wollte sie schreien und brachte doch keinen Ton heraus.
»Niemand wird es je erfahren!«, donnerte seine Stimme über sie hinweg, ungeduldig, vorwurfsvoll ...