Читать книгу ...und niemand wird es je erfahren - Maxi Hill - Страница 5
20 Jahre danach – Julia und Jasmin
ОглавлениеJasmin lacht schallend. Sie hat ein lautes Lachen, das ihre Fröhlichkeit begleitet. Julia kann auch sehr fröhlich sein. Sie kommt mehr nach Laura, ihrer sanften Mutter. Bisweilen wirkt sie wie die weichgespülte Ausgabe ihrer Schwester. Nie wird sie wirklich laut, nie ist sie zänkisch. Jasmin dagegen gibt immer den Ton an, weiß immer was sie will, aber sie wacht über ihre Schwester, damit sie in dieser lauten, selbstgefälligen Gesellschaft nicht untergeht. Für diesen Teil der Erziehung brauchte es von Till und Laura Benz viel Beispiel und noch mehr Liebe. Die Frage, welche der Töchter es im Leben zu mehr bringen wird, stellt sich die Mutter nicht. Beide Mädchen sind das Wertvollste im Leben von Laura, neben Till versteht sich.
Die Mutter betrachtet ihre Mädchen trotz Ehrentag wie stets sehr nachdenklich. Schon zwanzig Jahre dauert ihr schlechtes Gewissen: Was bin ich nur für eine Mutter? Wie kann ich so zweifeln?
Laura Benz kann sich das Leben ganz schön schwer machen. Selbstzweifel und Schuldgefühle sind kein gutes Ruhekissen. Der Samstag war gut, wenn auch anstrengend. Nach dem Abendessen wollen die Mädchen aufbrechen und ihren 20. Geburtstag mit einigen Freunden weiterfeiern. Till wird sie fahren. Till ist als Vater liebevoll, umsichtig und opferbereit. Laura ist so vernünftig, diese Tugend zu würdigen. Wenn es um seine Mädchen geht, kennt Till kein Pardon. Allerdings konnte er gegen Laura und ihre Ängste vor Jahren einmal laut werden. Seitdem hat sie nie wieder ein Wort darüber verloren, wie es kommen kann, dass die Mädchen so unterschiedlich sind.
»Ärzte sind nicht unfehlbar. Dann sind es eben keine eineiigen Zwillinge. Was macht das schon?«
Laura sieht, wie Julias Augen über Jasmin huschen und sie sieht, dass Jasmin ihren prüfenden Blick gesehen hat und dass sie ihren Rücken noch gerader streckt und ihr Top noch etwas höher über den Bauchnabel schiebt, und wie sie die Haare mit den Händen locker durcheinanderwirbelt. Hätte Julia einen solchen Blick von ihr bemerkt, wäre mit einer Korrektur ins Schüchterne zu rechnen gewesen. Noch immer tragen die Zwillinge gleiche Sachen, in den Nuancen zwar ebenso verschieden, wie es ihre Charaktere sind. Obwohl Jasmins Top den Bauchnabel frei lässt und ihre Jeans für Lauras Geschmack etwas zu eng wirken, sehen beide sehr hübsch aus. Ihre Haare – wenn auch heller und dunkler – fallen gleichsam locker über die Schultern. Wie stets haben sie für den Abend dasselbe Make-up aufgelegt. Jasmin intensiver als Julia, aber beide sehen genauso aus, wie es ihr Vater beschrieben hat: absolut sexy.
Laura spürt es jeden Tag. Die Zeit treibt unaufhaltsam voran, bis die Mädchen eines Tages das Nest verlassen, das die Eltern für sie sorgsam gepolstert haben. Sie weiß, dass die Zwillinge immer für sie da sein werden, so, wie sie immer für ihre Kinder da war und immer da sein wird. Es war ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass es ihnen gut geht und nichts ihrem Glück etwas anhaben konnte. Dass ihr Leben zu viert aus so viel Glück bestand, war alles andere als absehbar, bei der Diagnose, die sie nach der Entbindung von diesem Doktor Groth erhalten hatte. Zum Glück gibt es positive Irrtümer.
In »Jonnys Dinner« flackert das Licht aus roten und blauen Strahlern, sonst ist es eher dunkel im Saal. Die Lichtblitze zucken im Takt mit konservierten Tönen zwischen Techno und Rap. Für Julia ist es nicht das, was sie sich gewünscht hätte, dennoch gönnt sie Jasmin die Freude. Beinahe ekstatisch ergibt sich ihre Schwester den Klängen. An deren Seite tanzt Alina, die mit Claas gekommen ist. Claas tanzt nie. Er steht an der Theke und plaudert mit Julia.
»Gediegen«, raunt er mit Blick auf die tanzenden Mädchen. Julia weiß, dass er cool oder lässig meint. Claas bleibt seinem Jargon treu: »Läuft bei den beiden!«
Sie findet, Jasmin tanzt anmutiger als Alina. Das sagt sie auch. Indirekt.
»Jasmin hat vieles drauf, was ich nicht kann. Wenn 's ihr gefällt.«
Claas ist im Moment wahrscheinlich egal, was Alina gerade macht. Aus den Augenwinkeln beobachtet er stattdessen jede ihrer Gesten, was Julia seit langem bewusst ist. Er ist ein toller Typ, aber er geht mit Alina, daher ist er für sie tabu. Manchmal spürt sie, wie er sie berührt, ganz wie zufällig. Es ist ein gutes Gefühl und ein weniger gutes. Sie weiß nicht, wie lange sie gegen sich selbst standhalten kann …
Julia fühlt sich heute ausgesprochen schön. Das hat sie Jasmin zu verdanken, obwohl auch ihre Schwester nicht schöner ist als sie selbst. Sie hat zugegeben das nötige Selbstbewusstsein, einen trefflichen Sinn für Mode und keine Skrupel, ihren Willen durchzusetzen. Auch gegenüber Kerlen nicht, die Jasmin aus verschiedenen Gründen für attraktiv halten. Julia dagegen gilt in der Gruppe der Freunde als Ausnahmeerscheinung. Sie ist nicht das pure Ebenbild von Jasmin. Dennoch ändern sich die Blicke der Kerle, sobald es im Bereich des Möglichen liegt, ihr näher zu kommen. Claas vergöttert sie. Er hält die Eroberung eines Mädchens für das Wichtigste im Leben. Warum es ausgerechnet sie sein sollte, begreift Julia nicht. Sie versteht sich als aus der Art geschlagen, sogar langweilig, auf jeden Fall viel zu ernsthaft für ihr Alter, gemessen an Jasmin.
Claas Berger war voller Hoffnung und heimlicher Träume zu dieser Party gegangen. Er wusste, dass er Julia wiedersehen würde. Er sieht sie immer nur, wenn Alina ihn mitschleppt. Mit Alina war alles leicht gewesen. Mittlerweile hebt es ihn nicht mehr an, wenn sie zusammen schlafen. Ihm fehlt etwas Entscheidendes. Vielleicht ist es das, was man die Mühe der Eroberung nennt, vielleicht auch nicht. Julia zu erobern, stellt er sich himmlisch vor, wissen kann er nicht, ob es so bleiben würde, wenn er sie hätte.
Mit Julia hat er es sich womöglich von Anfang an versaut. Nun ist es zu spät, es wieder zu richten. Er hat auf cool gemacht und auf erhaben. Das ist nichts für Julia. Sie hat es ihn nicht nur einmal spüren lassen. Es wäre ihm lieber gewesen, sie sagt es ihm auf den Kopf zu, als dass sie ihn nur still neben sich duldet, ihren Drink schlürft und hin und wieder ihre hübschen Lippen für jemand anderes öffnet. Enttäuschung ist ein beschissenes Gefühl. Sie bringt einen Mann dazu, an Rache zu denken. Gegen Alina wäre eine subtile Rache kein Problem. Julia ist nicht Alina.
Nun sitzt er allein hier und ärgert sich. Bisweilen schickt er einen heimlichen Blick an die Theke zur Westseite des Raumes. Julia sitzt nicht mehr auf dem Platz, wo er grinsend die Fliege machte. Bei Niederlagen muss ein Mann grinsen, sonst gibt es einen Wutausbruch.
Sein Drink schmeckt bitter und geraucht hat er genug. Jetzt sollte er auf das Parkett zu Alina …
»Dürfen wir?«, hört er ein seltsam bekanntes Stimmchen neben sich, das sich nur schwer gegen die Musik durchsetzt. Er dreht sich um und spürt, wie seine Kinnlade nach unten fällt.
»Eh, wo hast du dich so schnell umgezogen?«
Manchmal versteht er die Mädchen nicht. Sie sah toll aus in ihren Jeans, warum geht sie und zieht sich um? Weil ein kurzer enger Rock die Kerle mehr antörnt? Täuscht er sich so in Julia?
»Wer hat sich denn umgezogen?« Das fremde, dickliche Mädchen an Julias Seite lächelt Claas zu. Es schiebt sich umständlich auf den Barhocker. Ihr superkurzer Rock gibt tiefen Einblick; den muss er ignorieren, um Julia nicht zu verärgern. Claas schiebt seinen Kopf etwas seitlich und spreizt einen Finger: »Julia.«
»Welche Julia«, prustet das Mädchen heraus. Es lächelt spöttisch dabei. Schade, ein anderer Typ Weib wäre kein schlechter Ersatz, um Julia zu provozieren. »Selina, kennst du eine Julia?«
»Einige. Warum?«, kichert die Angesprochene. Es kommt Claas vor, als sei wirklich eine Veränderung in Julia vorgegangen, an der er womöglich nicht schuldlos ist.
»Es tut mir leid, Julia. Ich hatte keinen Bock mehr, deine Moralpredigt …«
»Schon wieder Julia«, sagt auch das Mädchen, das er so gerne erobert hätte. Aber dann …? Obwohl sie mit bekannter Geste ihr Haar in den Nacken wirft, erkennt Claas die Piercings an ihrem Ohr, die Julia mit Bestimmtheit nicht hat und die sie mit Bestimmtheit nie tragen würde, sogar in der Kürze der Zeit nicht hätte anlegen können … Niemals.
»Äh, ja, das ist so …«, stottert er, fängt sich aber schnell. Was er denkt, kann gar nicht sein, dennoch steht die Wahrheit hautnah vor ihm. Er faselt etwas von einem Wunder, das er den beiden zeigen möchte. »Haut jetzt bloß nicht ab!«, beeilt er sich und hört noch das Lachen hinter ihm.
»Ich warne dich, wenn es kein Wunder ist, gibst du 'ne Lage!«
Es ist ein Wunder. Es kann nur ein Wunder sein. Claas kämpft sich durch die Tanzenden, steigt über die Beine von Sitzenden und wirft ein Glas Spezi um, das herrenlos auf einem Tisch abgestellt steht. An einer der Säulen lümmelt Alina.
»Wo treibst du dich rum?«, blafft sie ihn an. Ihr suchender Blick nach irgendwem geht starr an ihm vorbei. Er kennt diese Blicke und er hasst diese Frage, die er postwendend zurücksenden könnte.
»Wo ist Julia?«, fragt er mit Schadenfreude im Ton. Sie antwortet nicht und er weiß nicht, wie er Alinas Gleichgültigkeit brechen kann. Freilich hat sie mitbekommen, wie er Julia anhimmelt, über den Grund wird sie weniger nachdenken, wie er Alina kennt. Bevor sie ihm wieder den Rücken kehrt, schiebt sie gnädig ihren aufwändig gestylten Kopf in Richtung der offenen Tür zum Biergarten. Claas versteht.
Jetzt hat er einen Zug in Bewegung gesetzt, kann nicht einfach nur zusehen, wohin er rollt. Er musste der Lokführer sein, so, wie er es sich als kleiner Junge gewünscht hatte, was er seit langem nicht mehr versteht.
Draußen an der frischen Luft stehen sie, all die Leute, die er nur von diesen Partys kennt. Freunde von Alina, Julia und Jasmin, die alle gekommen sind, um den Geburtstag der Zwillinge zu feiern. Sie werden nicht schlecht staunen …
Jasmin rollt ihre Augen, als Claas erscheint. Er nervt, wenn er so klammert, wie Alina immer sagt. Noch hat Claas seinen Satz nicht zu Ende gesprochen, da dreht Jasmin ihm den Rücken zu und raunt den anderen zu: »Spinner«.
»Ich rede keinen Scheiß. Die sieht aus wie Julia - haargenau. Nun kommt schon, sonst kostet mich der Scheiß 'ne Lage.«
Julia hat seit einer Stunde ein schlechtes Gewissen. Sie hat ihm nichts Gutes unterstellt, wenngleich bei diesem Tonfall etwas an seiner Behauptung stimmen könnte. Langsam setzt sie sich in Bewegung. Mit ihr Kim und Finja. Sogar die Jungen Ben und Leon gehen mit, schließlich geht es um eine Lage für lau. Das ist gut, wenn grad Ebbe im Krötensack ist.
Fünf feixende Leute folgen Claas durch die tanzende, trinkende, schwatzende Menge im schummrigen Saal, die im zuckenden Licht bizarre Grimassen wirft. Auf der anderen Seite hinter der Schiebetür ist das Licht weniger aggressiv. Julia fühlt sich gleich besser. Dieses ewige Blitzen hatte sie womöglich aggressiv gemacht. Das war vermutlich der Grund, weshalb sie Claas verärgert hat. Soll er meinetwegen seine Revanche bekommen, was macht das schon.
Claas bleibt dicht vor dem Tresen der Piranha-Bar stehen, an dem kein Hocker frei ist. Zwischen zwei Mädchen stehend dreht er sich gönnerisch um, breitet seine Arme aus und brüllt etwas, was wie ein Tusch klingt, oder ein Jingle für eine aufreizende Werbung. Sein Gesicht ist purer Triumph. Julia ahnt, dass gleich etwas Ekliges passieren wird. Eine Sangria-Dusche, oder eine Biertaufe. Derlei haben die Kerle drauf, wenn eine Party sich festfährt. Sie hatte sich festgefahren, warum sonst haben sie sich alle draußen eingefunden? Die tropische Nacht war nicht der Grund. Hitze wäre das erste Mal …
Unmerklich duckt sich Julia, bemerkt aber, wie Leon rückwärts weicht und an den Pfeiler knallt. Dann hört sie, wie Kim ausruft: »Ich glaube, ich bin im falschen Film.«
Bisher war Julia offenbar im falschen Film, oder Claas hat sie an diesem Abend auf dem falschen Bein erwischt. Jedenfalls versteht sie nichts. Gar nichts. Erst als die anderen eines der Mädchen umringen, es von allen Seiten begutachten. Als Julia schließlich an den Gaffern vorbei zur Tresen gezerrt wird, begreift sie, was es sein könnte. Das Mädchen, von dem sie gerade angestarrt wird, ist ein ähnlicher Typ wie sie selbst. Na und?
Im Gegensatz zu den anderen Freunden bleiben beide cool, auch das Mädchen, das Selina heißt. Sie finden nichts dabei. Erst die Bilder auf den Apparaten der Freunde und deren Euphorie lassen Julia grübeln. Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend. Andererseits, würde Selina nicht zufällig eine annähernd gleiche Frisur tragen, gäbe es keinen solchen Aufruhr.
Claas kommt um seine Lage herum. Niemand ahnt, was ihn dazu bewegt, plötzlich für alle einen Drink zu spendieren. Jeder sieht, wie Claas mit großen Pupillen Julias Doppelgängerin fixiert … offenbar genau sein Beutechema?
Dass es noch eine lustige Party zu werden verspricht, liegt an Lotta, der Freundin von Selina. Das dickliche Mädchen ist ein Ausbund witziger Worte und ein Talent komischer Posen.
Wie machen Ostfriesen Zwillinge? Sie legen Pauspapier dazwischen!
Mit dem Gelächter wird es an der Piranha-Bar etwas lauter. Sogar Julia hält sich den Bauch vor Lachen, obwohl sie Lottas Witze gar nicht lustig findet, ihre Grimassen dagegen umso lustiger.
Es ist der nächste Moment, der Julia sagt, es muss etwas geschehen sein. Unvermittelt in einer heiteren Phase starrt Selina über die Köpfe der Freunde hinweg auf einen Punkt außerhalb der Runde. Ihr Gesicht, das bisher vom Lachen gerötet war, ist auf einmal kreidebleich. Sie steht auf und stammelt Worte wie: »Das find ich jetzt aber nicht komisch.« Niemand achtet darauf, nur Julia, die man prompt neben Selina platziert hat, um jedermann die hammerharte Ähnlichkeit in die Birne zu pflanzen. In dem Moment weiß Julia, dass sie selbst genau Selinas Worte finden würde, wenn ihr eine Sache zu bunt wird: Das find ich aber jetzt nicht komisch. Komisch nur, dass diese Sache ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Jasmin. Sie steht im Raum und beherrscht sofort die Szene. Alle grölen Jasmin die Neuigkeit entgegen, die mit Julia und Selina zu tun hat. Nur Selina Groth bleibt seltsam schweigend, fast wirkt sie verstört. Es dauert nicht lang, da entfernt sie sich und kommt nicht wieder. Offenbar geht sie nach Hause, ohne ihre Freundin Lotta mitzunehmen. Zum Glück hatte es Claas vorher fertiggebracht, die Mädchen für den nächsten Samstag zu seinem Grillfest einzuladen. Dort – so ist man sich nach kurzer Verwirrung schnell einig - will man Selinas Verstimmung wieder glätten. Claas hat eine Idee …