Читать книгу ...und niemand wird es je erfahren - Maxi Hill - Страница 7
Laura Benz
ОглавлениеSie hatte es verdrängt. Sie hatte es nicht mehr wahrhaben wollen. Sie wollte ihren Mädchen zuliebe an nichts Schlimmes denken. Sie wollte Till zuliebe endlich Ruhe geben, obwohl sie ja nie wirklich rebelliert hat, schließlich liebt sie ihre Kinder über alles. Beide. Nun kommen all die Ängste wieder hoch, vehementer als je zuvor, weil es seit einer Woche etwas Greifbares gibt.
Es war ein so schöner Juni-Tag 1982 gewesen.
Die Sonne schien durch die Scheiben des kahlen Zimmers der Entbindungsstation. Von draußen drangen die Laute des Sommers an ihr Ohr. Von nebenan hörte man die zarten Stimmen der kleinen Erdenbürger, die sich ins Leben gequält hatten und noch von den Schwestern versorgt wurden. Einerseits gut, dass die Mütter ein paar Tage Ruhe hatten, andererseits hätte Laura so bald wie möglich ihre eigenen Hände zum Schutz ihrer Zwillinge ausstrecken mögen.
Die Tür zum Zimmer sprang auf, resoluter als erwartet. »Ich bin Chefarzt Groth. Ich möchte mit Ihnen über Ihre Töchter sprechen.«
Vor ihr stand ein breitschultriger, elegant wirkender, fremder Arzt so um die fünfzig, den sie nie zuvor gesehen hatte. Sein dunkles, dichtes Haar schimmerte vereinzelt silbern. Schwere Strähnen fielen zurück in die Stirn und dekorierten das markante Gesicht. Unter seinem Hemd auf der braungebrannten Haut glitzerte eine goldene Kette. Zwischen den Lippen blitzte weiß ein kräftiges Gebiss. Laura fiel sofort ein Motiv für Zahnpasta-Werbung ein. Überglücklich strahlte sie diesen Mann an. Wer, wenn nicht sie, hatte einen schöneren Grund zum Strahlen. Ihre zwei kleinen Mädchen waren schließlich wie aus dem Bilderbuch, proper und süß.
Seine Hand zum Gruß reichte der Mann ihr nicht. Hastig zog er einen Stuhl heran und breitete den Gehschlitz seines Arztmantels pedantisch auseinander.
»Sie wissen, dass Sie eine Risikoschwangerschaft hatten.«
Laura nickte höflich, obwohl sie davon gar nichts mehr hören wollte. Erst recht nicht, seit alles so glücklich überstanden war.
»Wegen Ihrer Toxoplasmose haben wir die Zwillinge augenärztlich untersucht. Das gehört zu unserem Vorsorgeprogramm. Man hat Ihnen meines Wissens in der Beratungsstelle gesagt, dass Toxoplasmose zu Missbildungen bei Embryos führen kann.«
»Toxoplasmose. Ach wissen Sie …« Sie hatte Mühe, den Worten das nötige Gewicht zu geben. »Ich hatte keine Toxoplasmose, da bin ich sicher.«
»Was macht einen Laien so sicher?« Groths Blicke wurden ärgerlich, beinahe vorwurfsvoll.
»Sie wird von Tieren übertragen, soweit ich weiß. Ich hatte aber nie Kontakt zu Tieren.«
»Laiengewäsch«, sagte er strenger als erwartet. »Es ist schon ein bisschen komplizierter.«
»Ich esse auch kein rohes Fleisch, falls Sie das meinen.«
»Sagen Sie nicht, Sie hätten die Laborbefunde nicht gekannt«, unterbrach er sie. »Laut Akten ist Ihnen der positive Nachweis bestätigt worden.«
»Ja. Positiv«, flüsterte sie, wobei sie den stattlichen Mann musterte. Obwohl er ihre Not erkennen müsste, nahm er keine Notiz davon.
»In der Medizin ticken die Uhren anders.« Während der wenigen Worte zuckten seine Finger so sehr, dass man hören konnte, wie die zwei bombastischen Goldringe an seiner Linken gegeneinander schabten. »Hinter einem positiven Befund verbirgt sich medizinisch das Negative, das ein Leben durchaus nachhaltig zeichnen kann.«
Laura konnte nichts erwidern. Sie biss sich auf die Lippen und schwieg.
»Dieser Erreger, Frau Benz, ist bei vielen Menschen nachweisbar. Er ist für den erwachsenen Menschen nicht gefährlich. Die Entwicklung eines Embryos allerdings kann so gestört werden, dass es zu Missbildungen kommen kann.« Der Arzt räusperte sich. »Kurz gesagt, ich habe mir Ihre Töchter besonders gut angesehen. Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, dazu ist es zu schwierig, das kleine Auge richtig zu untersuchen. Momentan müssen wir davon ausgehen, dass bei beiden eine Veränderung am hinteren Augapfel vorliegt.«
»Um Gottes willen, was bedeutet das?« Ihre Frage glich einem erstickten Schrei. Langsam begriff sie, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag.
»Am hinteren Augapfel entsteht das Bild, das wir sehen. Wenn die Entzündung vernarbt, kann man nicht richtig sehen. Es ist dann, als würde man durch eine zerbrochene Scheibe blicken.«
In diesem Moment konnte Laura sehr gut nachempfinden, was der Mann gerade meinte. Tränen füllten ihre Augen. Dennoch erkannte sie verschwommen, wie sich der Arzt zurücklehnte und seinen Oberkörper straffte, als wollte er eine lästige Verspannung lösen. Laura glaubte nicht erst seit diesem Moment, der Mann schaue durch sie hindurch. Die schonungslosen Worte lösten sich wie ein Buchtext von seinen Lippen. Durch den Tränenschleier versuchte sie, irgendeine tröstende Geste des Mannes zu erhaschen. Vergeblich. Gereizt zuckten seine kräftigen schwarzen Brauen und die Wangenpartie verhärtete sich unter dem Druck seines Gebisses. Als Laura kraftlos zu schluchzen begann, fuhr der Doktor merkwürdig ungeduldig fort:
»Sie können davon ausgehen, dass wir unser Bestes tun werden, Frau Benz. Zunächst nehmen wir Ihre Kinder auf die Säuglingsstation. Dort haben wir die besten Chancen, Klarheit zu bekommen und eine Behandlung einzuleiten.«
Laura hatte sich ihr Leben lang geschämt, wenn sie merkte, anderen Menschen auf die Nerven zu gehen. In diesem Moment war es ihr völlig egal. So einfach konnte sie sich mit der Situation nicht abfinden.
»Wissen Sie, Herr Doktor«, schluchzte sie ebenso erbärmlich, wie sie sich fühlte. »Ich glaube ganz einfach nicht an Toxoplasmose. Ich habe in der Beratungsstelle gesagt, wie ich die Sache beurteile. Warum geht man nicht einmal meiner Theorie nach? Dürfen Ärzte keine Fehler machen? Ist es deshalb?«
»Welche Theorie?«
»Ich hatte in den ersten Wochen der Schwangerschaft eine Überempfindlichkeit. Mehrere Wochen wurde ich auf Station Sechs D behandelt. Ich will mich nicht beklagen. Nein, wirklich nicht.«
Für einen Moment hinderte sie das unkontrollierte Schluchzen daran, sachlich zu berichten. Sie riss sich zusammen, blamieren wollte sie sich nicht. Anklagen wollte sie auch niemanden, aber was sie gehört hatte, war zu schlimm, um an ihre Tugenden zu denken. »Doktor Beyer hat sich sehr engagiert. Allerdings bin ich mit einem Medikament behandelt worden, das nach meiner jetzigen Kenntnis nicht vor der zwölften Schwangerschaftswoche angewendet werden darf. Ich wusste das zu der Zeit nicht und Doktor Beyer muss es wohl übersehen haben. Ich glaube fest daran, dass die toxischen Blutwerte einzig auf dieses Medikament zurückzuführen waren.«
»Wie Sie schon richtig sagten: Theorie.«
Der Tonfall sollte die Sache beenden. Irgendetwas ließ den Arzt eine Weile überlegen: »Hat man den Titer vor oder nach der Hyperosmie festgestellt?«
Laura konnte mit dem medizinischen Begriff nichts anfangen und antwortete rein gefühlsmäßig.
»Später … An Toxoplasmose kann und will ich einfach nicht glauben.«
»Das ist immerhin interessant«, sagte Groth, während sie sprach. Dabei schaute er ein paar Augenblicke zu lange aus dem Fenster. Endlich, dachte Laura, sei das Interesse des Doktors geweckt.
»Ich werde der Sache nachgehen, darauf können Sie sich verlassen.«
Er stand auf, abrupt, wie es Laura schien. Diesmal reichte er ihr seine Hand.
»Frau Benz, wir müssen für Ihre Kinder tun, was in unserer Macht steht. Je schneller wir sind, desto größer sind unsere Chancen. Ich werde Sie unterrichten lassen.«
Leise fiel die Tür des Zimmers ins Schloss, das für zwei Wöchnerinnen ausgestattet war. Laura vergrub sich in den Kissen. Jetzt war sie froh, keine Zimmergenossin zu haben. Ihre Tränen wollten kein Ende nehmen.
Tränen kullerten auf das Blatt Papier, das Laura in ihren zitternden Händen hielt. Es war der Brief an Till, den sie behutsam zusammenfaltete und in die winzige Schublade schob. Man hatte ihr nicht gestattet zu telefonieren. Damit tat man sich zu dieser Zeit in diesem Land noch sehr schwer, nicht nur in dieser Einrichtung.
Gleich sollte die Visite beginnen. Doktor Zedler, der Chefarzt der Entbindungsstation Sechs A, lief durch den Gang zu den Krankenzimmern, eskortiert von zwei Schwestern. Oberschwester Marga geriet außer Puste, zu forsch lief Zedler durch die Gänge zu den Zimmern. Es war ihre Pflicht, den Chef über die Probleme der Wöchnerinnen zu informieren, so auch über die Diagnose der Zwillinge Benz und über Doktor Groths Festlegung. Dass dies alles geschah, als man gerade das Zimmer der Wöchnerin betrat, behagte Doktor Zedler gar nicht.
»Diese Entscheidung hätte ich so nie gebilligt«, sagte er. Es klang vorwurfsvoll. Zedler war verstimmt. Seine dünnwandigen Nasenflügel blähten sich bei jedem Atemzug. »Wieso gab es kein Klärungsgespräch?«, fauchte er, während er in den Unterlagen blätterte. »Es ist nicht wirklich notwendig. Schon gar nicht sofort.«
Die eben noch glänzenden Augen der Schwester weiteten sich, ihre Schultern nahmen den Weg bis zu den Ohren, den ihr kurzer, dicker Hals zuließ. Noch antwortete sie nicht.
»Wir haben an das Wohl der Mutter zu denken. Für die Wöchnerin sind wir verantwortlich. Man hätte der Mutter für die Zeit des Wochenbettes die Kinder lassen können. Sie wären hier unter ärztlicher Kontrolle.«
»Sie sollen mit Prednisolon behandelt werden«, verteidigte Marga Doktor Groth. Er war ihr heimlicher Schwarm, was Laura von Marga am selben Trag erfahren hatte. Und auch das: Sie sei so stolz, dass der Chefarzt mit ihr und nicht mit Doktor Zedler die Überweisung besprochen habe.
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, schnauzte Zedler weiter. »Mit ein bisschen guten Willen hätte Doktor Hämplin zur Verabreichung eine Schwester schicken können. Es sind genau 18 Stufen und fünf Meter Gang bis hier herauf.«
Zedler blätterte in den Krankenakten und murmelte vor sich hin: »Recht haben die Leute, wenn sie von Göttern in Weiß sprechen.«
Inzwischen war das zweite Bett im Krankenzimmer belegt. Doktor Zedler trat sichtbar verstimmt zuerst an das Bett der Frau Leiden, der Gattin des Oberkommissars der Kripo. Frau Leiden hatte im Kreißsaal den Geburtshelfern arg zugesetzt. Nach einigen hysterischen Anfällen war es ihr dann ohne den vehement geforderten Kaiserschnitt gelungen, einem Sohn das Leben zu schenken. Hier im Wochenbett machte sie mit viel Gejammer ihrem Namen alle Ehre.
Marga hatte den Ruck in Doktor Zedlers Miene gesehen, als sie das Zimmer betreten hatten. Der Arzt zog eigenhändig den Zipfel der Decke zurück und drückte der Patientin auf den Leib.
»Sie müssen sich bei der Rückbildung mehr Mühe geben«, ermahnte er die Frau. Ohne eine Erklärung erteilte er kurzerhand Marga die Order, Frau Leiden eine Spritze mit Klitsch zu verabreichen. Beflissen notierte die Oberschwester, was der Doktor angewiesen hatte. Später als sie mit der Spritze kam, erzählte sie, wie verblüffend es für sie immer wieder sei, dass Doktor Zedler ohne jegliche Untersuchung den Blutungsstau bei einer Wöchnerin erkenne. Er habe im wahrsten Sinne des Wortes eine Nase dafür.
Vor Lauras Bett bemühte sich Zedler, den Gleichmut in seinen Augen, die Ruhe in seinem Kopf, wiederzugewinnen. »Frau Benz, ich habe gehört, wie entschieden wurde. Ich würde Sie vorzeitig entlassen, wenn ich mir sicher wäre, dass Sie es verkraften.«
»Verkraften? Sie müssen mich entlassen, damit ich es verkraften kann. Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute ist, wenn hier die Säuglinge zu ihren glücklichen Müttern gebracht werden. Warum müssen meine Kinder eine Etage unter mir liegen. Warum können sie nicht hier oben bleiben, solange ich hier bin. Ich könnte zum Stillen runter auf die Kinderstation gehen. Sie haben doch keine ansteckende Krankheit. Nein Herr Doktor, ich möchte, dass Sie mich nach Hause entlassen oder mir meine Kinder wieder hierher bringen lassen.«
Ihr Schluchzen unterdrückte all die Worte, die sie herausschreien wollte und auch wieder nicht, weil ein artiger Mensch wie sie, nicht zu schreien hatte, ohne die ganze Wahrheit zu kennen. Was war die Wahrheit? Was war das Beste für die Kleinen? Durfte sie nur an sich denken?
Doktor Zedler legte seine Hand auf ihre Schulter. Mit ruhiger Stimme bemühte er sich, einen Vorschlag zu machen, einen Kompromiss, den er meistens nie eingehe, wie er erkennen ließ.
»Ich werde Ihre vorzeitige Entlassung vorbereiten lassen. Sie müssen mir versprechen, zu Hause weiter an der Rückbildung zu arbeiten und akribisch die Milch abzupumpen. Wir dürfen das Risiko neuer Komplikationen nicht eingehen.«
Laura nickte. Sie wusste nicht, ob es eine gute Entscheidung war. Schließlich wird sie zu Hause von ihren Kindern noch viel weiter entfernt sein.
»Vertrauen Sie darauf, dass Ihren Mädchen geholfen wird. Doktor Hämplin ist ein ausgezeichneter Arzt.«
Laura ahnte, dass die schlimmste Zeit ihres Lebens beginnen würde. Sie befürchtete auch, dass ihren Kindern die Liebe fehlen könnte, die nur eine Mutter in sich trägt.
Fassungslos stand sie vor dem liebevoll hergerichteten Zwillingsbett mit Decken und Kissen, mit Rüschen und Borten. Der Geruch ihrer Babys täuschte ihre Nase. Sie fürchtete sich vor dem Warten, mehr noch vor einer bitteren Wahrheit. Die Qualen einer Mutter, die ihre überglücklichen Momente des Stillens gegen eine sterile Milchpumpe austauschen muss, konnte Laura niemanden erklären. Sie wollte niemandem zumuten, es hören zu müssen. Ihr ganzes Wesen fühlte sich an, als sei es in eine Zwangsjacke gebunden, die keiner zu entknoten gewillt war.
Tag für Tag lief sie den weiten Weg zur Milchsammelstelle. Jedes Mal ging sie ein paar Schritte weiter bis zum Klinikum, einem imposanten, wenn auch maroden Gebäude im Jugendstil. Wie immer ging sie vom Haupteingang kommend bis in den tiefer liegenden Innenhof und schaute hinauf zum Hochparterre. Da hinter irgendeinem der Fenster lagen ihre geliebten Winzlinge. Wie sehr sehnte sie sich danach, ihnen die Wärme und Hingabe zu schenken, derer sie bedürftig waren.
Wie versteinert stand sie im feuchten Gras des Zwischentraktes und wartete auf nichts als den Schmerz, der sie bedrückte. Leise säuselte der Wind durch die Akazien. Auf sanften Wogen tanzte der süße Duft in alle Winkel des Parks. Außer starrer Traurigkeit empfand sie nichts, nur ihr Kopf bewegte sich ungläubig hin und her. Den Boden unter ihren Füßen spürte sie längst nicht mehr. Es war nicht das erste Mal, dass man hinter den Scheiben stand und sie beobachtete. An diesem Vormittag hatte eine Schwester ein Einsehen. Außerhalb der Besuchszeiten war das zumindest ungewöhnlich.
Durch einen Schleier aus Tränen sah sie verschwommen, wie diese blonde Schwester mit den gewickelten Bündeln im Arm an ein Fenster trat.
Laura sehnte sich so danach, ihre Kinder berühren zu dürfen. Sie wollte endlich den Baby-Duft in sich aufsaugen, die kleinen Händchen halten und mit ihren Lippen liebkosen. Ihre Kräfte drohten sie zu verlassen. Sie sah ihre Kinder und fühlte einen dumpfen Schmerz in ihrer Brust. Sie kämpfte gegen sich selbst, sie wollte stark sein. Doch sie war eine Mutter, deren eigen Fleisch und Blut so unerreichbar in dieser fremden, beziehungslosen Umgebung das Leben zu riechen und zu schmecken begann. Sie wollte schreien: Meine Kleinen, dieses Leben riecht wunderbar! Sie schrie nicht …
Auf der Wiese stand brav und stumm eine Mutter, die nicht glauben wollte, wie hart das Schicksal sein konnte. Sie fürchtete zu entgleisen, in ihrem Schmerz eine Zumutung für andere zu werden. Etwas gab ihr die Kraft, standhaft zu bleiben. Wenn es einen Wächter der Gerechtigkeit gibt, er wird es richten. Leider glaubte sie nicht an Gott. Sie glaubte an die Menschen, mit all ihren guten und leider auch bösen Eigenschaften.
Laura Benz konnte nicht ahnen, dass hinter den bröckelnden Mauern, unter den Augen Gottes, die Wege für eine teuflische Niedertracht bereitet worden sind, die zwanzig Jahre unerkannt blieb …
Ein paar Tage später lief sie mit Till durch den Wandelgang, der die beiden Trakte des alternden, aber immer noch eindrucksvollen Jugendstilgebäudes miteinander verband. Die Schritte hallten vom harten Boden an die kahlen Wände, deren Tristesse vereinzelt von Bildern unterbrochen wurde, Werke heimischer Künstler. Die wenigen Farbtupfer gaben dem trostlosen Ort ein wenig Behaglichkeit und den Künstlern die Chance, ihr Können einem Publikum zu zeigen, das Zeit und Muße zur Betrachtung findet. Till besaß diese Muße von Natur aus nicht, und in Laura drehte sich seit Wochen alles nur um ihre Kinder. Die imposantesten Landschaften, die schönsten Stillleben und die trefflichsten Porträts hätten sie heute keine Sekunde von ihrem Vorhaben abgelenkt.
Zur Kinderklinik im hinteren Trakt gelangte man durch einen kleinen Park, mittig ein liebevoll angelegter Steingarten rund um einen Goldfischteich. Auf einigen Bänken saßen Patienten in Bademäntel gehüllt und mit Hauspantoffeln an den Füßen, das wohlige Gefühl von frischer Luft und Sonne auskostend. Hier fühlten sie sich frei vom Mief der Klinik, vom widerlichen Dunst nach Ethanol und Wofasept.
Dieser Tag war ein warmer Sommertag. Die Freude über den Sommer war für Laura in weite Ferne gerückt. Noch hatte sie einen trüben Weg vor sich, einen erdrückend ungewissen.
Till stemmte sich gegen die doppelte Eingangstür der Station. Im Gang war es düster und ungemütlich. Eine Stimme hinter einem vorsintflutlichen Schalter plärrte, dass sie hier warten müssten und aufgerufen würden. Sie setzten sich auf zwei der vier schäbigen Holzstühle an der Wand. Nichts erinnerte hier an ein Krankenhaus. In ihrem Kummer erschien ihr die Umgebung unheimlich. Auf der anderen Seite des Ganges saß ein zweites Ehepaar und warf sich flüsternd Worte zu, nervende Kleinigkeiten, gegenseitige Schuldzuweisungen. Der enge, fensterlose Raum war nicht dafür geschaffen, das Hadern der beiden zu überhören.
Durch die winzigen Glasscheiben der Eingangstür drang nur wenig Licht. Um nicht auf das Gekeife des Ehepaares zu hören, konzentrierte sich Laura auf die fortwährend pendelnde Zwischentür. Dahinter vermutete sie die Krankenzimmer und sendete heimliche Küsse zu ihren Kindern, auf dass sie ihre Nähe spüren mögen.
Von Zeit zu Zeit huschte eine der Schwestern durch die Tür. Eine blonde Schwester stellte sorgsam verschlossene Reagenzgläschen auf ein kleines Bord, das laienhaft vor die Luke an einer der Türen im Gang montiert worden war. Die Dielen knarrten bei jedem Schritt. Es war die junge Frau, die vor Tagen ihre Babys ans Fenster gebracht hatte. Aus der Nähe wirkte sie sanft und freundlich, irgendwie sympathisch.
»Schwester. Entschuldigung. Wir sind die Eltern von Julia und Jasmin Benz. Darf ich Sie einen Moment sprechen?«
Sie schaute in ein hübsches Gesicht, dessen halb gesenkte Augenlider hinter den dichten, dunklen Wimpern der Frau etwas Sinnliches verliehen. Wie die Engelsgesichter der Werke alter Meister, dachte Laura, bis sie entdeckte, wie das Blut aus dem reinen, rosigen Teint der jungen Schwester wich. Sie senkte ihren Blick tiefer und streckte ihre Hand aus. »Ich bin Schwester Caroline. Was kann ich für Sie ...?«
»Wir kommen zur Sprechstunde bei Doktor Hämplin und hätten bei der Gelegenheit ... «
»Sicher. Ja doch.« Die schönen Augen suchten einen ruhigen Punkt, bis sie auf den sorgfältig verschraubten und codierten Flaschen verharrten, die Laura blitzschnell aus der Tasche zog.
»Ich habe die Milch heute gleich hierher mitgebracht. Darf ich doch?«
»Nein, nicht hierher. Das ist gegen die Vorschrift.« Die Stimme der Schwester klang rauchig angenehm, vibrierte ein wenig nach. »Die müssen Sie wie immer zur Sammelstelle bringen.«
»Ich weiß. Aber wenn ich schon mal hier bin …«
Die Augen der Schwester weiteten sich, sie zog wortlos die Schultern hoch, antwortete nicht.
Wie Laura so mit den Flaschen im Arm dastand, unglücklich, naiv, grollte Ärger in ihr, ohne zu wissen, wem er galt. Es war nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie sich für ihr Verhalten zu entschuldigen versuchte. »Mein Mann sagt, Mütter sind egoistisch. Ich hoffe, Sie sagen das nicht. Ich hoffe auch, dass Sie meine Pflichten nicht allzu lange übernehmen müssen.«
»Ihre Pflicht? Ist Mutter zu sein, nicht mehr Liebe als Pflicht? «
»Mutterliebe taugt nur, wenn man sie geben kann. Ich wünschte, ich könnte es.«
Die Schwester fummelte umständlich in ihrer Kitteltasche herum und schwieg wieder.
»Nun ja, es geht nicht immer nach Wunsch, auch bei Wunschkindern nicht«, sagte Laura, während die Schwester wortlos ihre Hand in Richtung des Chefzimmers ausstreckte.
»Doktor Hämplin wird all Ihre Fragen beantworten. Wenn Sie Ihre Kinder sehen wollen, bin ich gerne für Sie da.«
Das Lächeln der Schwester missglückte. Dafür zitterten ihre Lippen zu erregt. Laura kam es vor, als erwache Caroline gerade aus einem bösen Traum, der ihre Augen nach Hilfe suchen, ihren Blick um Verständnis flehen ließ. Der Laborstreifen in der fahrigen Hand war bis zur Unkenntlichkeit zerknüllt. Ebenso fahrig und allzu rasch verabschiedete sie sich.
Das Besucherzimmer des Stationsarztes war genauso ungemütlich wie der düstere Gang. Doktor Hämplin machte einen sehr beschäftigten Eindruck. Nachdem er Laura und Till gebeten hatte, Platz zu nehmen, las er in der Akte und schien sehr mit diesem Papier beschäftigt zu sein. Als er sich endlich setzte, richtete er seinen Blick abwechselnd auf die Eltern. Es schien, als würde er gleich darauf jedes Wort, das über seine jungen, aber blutlosen Lippen kam, aus der Akte lesen.
»Doktor Groth hat Sie umfassend informiert.«
»Er hat mir einen Schrecken eingejagt«, sagte Laura wenig respektvoll, aber Till legte seine Hand auf ihre.
»Ihre Töchter müssen gegen Chorioretinitis bei uns behandelt werden.«
»Erklären Sie uns das bitte genauer«, forderte auch Till. Die Augen des Arztes kamen nicht zur Ruhe. Er blätterte wieder allzu dienstbeflissen in den Unterlagen. Laura wusste nicht, warum sich Till das antat, sie hatte alles schon einmal gehört und es ihm haarklein berichtet.
»Nun, es ist eine Entzündung der Netzhaut, die von der Aderhaut übergreift. Wir wollen verhindern, dass diese Entzündung vernarbt. Dafür haben wir ein ausgezeichnet erprobtes und sehr wirksames Medikament.«
»Wenn es ein Medikament gibt, können wir es zu Hause verabreichen. Oder muss man dafür eine staatsbürgerliche Mündigkeitsprüfung ablegen?«
Till hatte es geschafft, mit seiner Provokation den Doktor zu verunsichern. Mehrmals griff er an seine Nase, bevor er sich zu rechtfertigen begann:
»Der Chef der Augenklinik hat so entschieden. Wir sind da machtlos.«
»Der Augenarzt hat also die Macht …«
Doktor Hämplin stand auf, verschränkte seine Hände hinter dem schmalen Rücken und lief ein paar Schritte bis zum Fenster. Einen Moment zu lange blieb sein Blick auf der immergrünen Hecke vor dem Eingang haften, bis er vermutlich für sich beschlossen hatte, die Ruhe zu bewahren. Er kehrte um und sprach sehr beherrscht:
»Ihre Kinder brauchen ärztliche Obhut. Bei so kleinen Wesen muss die Verträglichkeit eines Medikamentes unter Kontrolle gehalten werden, rund um die Uhr.«
»Das verstehe ich. Wie heißt das Medikament?«
»Prednisolon«, sagte er kurz, dabei wischte er mit dem Handrücken über die Stirn. »Es begünstigt die Heilung, ohne Wundnarben zu hinterlassen.«
Als er sich wieder setzte, bemerkte Laura, wie seine Hände zitterten; die losen Blätter der Akte vibrierten peinlich sichtbar. Es schien, als hätte der Mann immense Hemmungen. Vielleicht ist er ein Trinker? Laura versuchte, ihre Beherrschung nicht zu verlieren, was Till nicht gelang.
»Sprechstunden sind da, um Fragen zu klären. Ihre Antworten erklären mir zu wenig.«
Laura war Till dankbar für seine Konsequenz. Dennoch fühlte sie die alte Ohnmacht, die an jeder Ecke auf den kleinen Mann lauerte. Hatte man nicht umwerfende Argumente gegen die Mächtigen parat, konnte man nichts mehr umstoßen, was in diesem Staat als beschlossen galt, nicht einmal den Zustand der Zuständigkeiten, wie sich herausstellen sollte.
»Diese Station ist für die allgemeinen Fragen der Patientenbetreuung zuständig. Im Allgemeinen, Herr Benz, geht es Ihren Kindern recht gut.«
Seine Stimme klang sehr einfühlsam, weshalb die hoffnungslose Laura für diesen Moment die Luft aus ihrem Bauch ließ, die sie für Tills nächste Attacke angestaut hatte.
»Sie dürfen Ihre Kinder immer sehen, wenn Sie möchten. Sie liegen in Zimmer sieben, zur Ostseite hin.« Er vollführte eine drehende Handbewegung. »Sie müssen ums Haus den Hügel hinunter ... «
Laura presste ihre Enttäuschung einen Moment lang tief in sich hinein. Noch ehe der Arzt weiterreden konnte, fuhr sie ihm ins Wort:
»Danke, wir wissen es. Im Zoo ist es ähnlich.«
Sie erhob sich abrupt und griff nach ihrer Tasche, in der die Milchflaschen leise aneinander rieben. Sie befürchtete, kein bisschen schlauer aus dieser Sprechstunde herauszukommen, wollte jedoch die Situation nicht auf die Spitze treiben.
»Unsere Station ist für Besuche nicht groß genug«, rechtfertige sich der Arzt. »Wir hätten auch lieber eine größere …«
»Sie hätten eigene Kinder haben sollen, dann würden Sie verstehen, mit welchem Gefühl wir heute nach Hause fahren.«
Der Doktor warf einen merkwürdigen Blick zurück. Till wie Laura erwarteten keine Antwort mehr. Sie wussten ja nicht einmal, ob er Kinder hatte.
»Ich bitte Sie«, sagte er. Es klang auf einmal sehr gereizt. »So naiv sind wir hier nicht. Natürlich erwarten Sie, etwas über die Heilungschancen zu erfahren. Leider muss ich Sie dazu auf Doktor Brauer verweisen. Ihre Kinder liegen nur hier, weil auf der Augenstation keine Säuglingsbetreuung gewährleistet ist. Ich bin kein Augenarzt. Ich empfehle Ihnen, mit Doktor Brauer oder Chefarzt Groth persönlich zu sprechen. Sie sollten mehr Vertrauen in uns Ärzte legen. Wir tun alle unser Bestes. «
»Vertrauen kann man nicht befehlen. Noch überwiegt das schlechte Gefühl.« Till zog Laura in seine Arme. »Da bleiben nun mal Ängste nicht aus.«
Während Hämplin die Akte schloss und in die Ablage legte, flüsterte Laura von der Tür her.
»Ich hoffe, dass meine Angst größer ist als das Unglück, Herr Doktor.«
Zögernd folgte sie Till, der längst die Klinke herunter gedrückt hatte. Sie verließen die Station mit erdrückenderem Gefühl als vorher.
Den kurzen Weg zurück ins Freie lief Laura wie in Trance. Kalter Schweiß perlte auf ihrer Haut. Diese Ungewissheit war beklemmend. Ganz sicher hatten weder die Schwester noch der Arzt die Wahrheit gesagt.
»Ich habe Angst, Till«, flüsterte sie ihrem Mann zu. »Mach dir nicht so viel Sorgen, Schatz. Mediziner sind abgebrüht. Kein Wunder, bei dem, was sie täglich erleben. Ohne ihre Kaltschnäuzigkeit würden die seelisch zugrundegehen.«
»Ja, wenn sie eiskalt reagiert hätten. Du hast es erlebt. Die waren nicht abgebrüht, die waren verstört ... beide, die Schwester nicht minder. Ich hab kein Vertrauen …«
Till schlang den Arm um seine Frau und nestelte an ihrer Hand, jedoch Laura war noch nicht am Ende.
»Warum haben sich beide unabhängig voneinander so eigenartig verhalten? Warum haben Hände gezittert und Stimmen versagt. Himmel, was geht hier vor«, flüsterte sie. Ihre Fingernägel krallten sich in Tills Unterarm.
»Vielleicht glauben sie, wir wollen uns wegen deiner falschen Behandlung beschweren?« Till riet seiner Frau, sie solle noch einmal zu dieser Schwester Caroline gehen. Sie sei eine Frau. Sie könne die Ängste einer Mutter besser verstehen. Vielleicht habe sie selber Kinder.
Laura war zufrieden, dass wenigstens Till ihre Ängste teilte, wenngleich er wenig ernsthaft klang. Gleich morgen früh wollte sie sich irgendwie an die Schwester heranpirschen.
Am nächsten Morgen fuhr Laura in die Südstadt. Sie hatte sich ein geblümtes Sommerkleid bereitgelegt. Froh darüber, dass sie dafür wieder schlank genug geworden war, zog sie es über. Im Spiegel sah sie eine traurige Gestalt, die sich mit einem albernen Blütenmuster tarnte, um die Welt zu betrügen.
»Nein«, murmelte sie und warf das Kleid in hohem Bogen auf die Betten. Ja, es passt wieder, wie schön. Aber es passt nicht mehr zu mir. Was habe ich für ein Recht, froh und buntbemalt durch die Welt zu wandern, während meine Kinder diese Schönheiten nie zu sehen bekommen. Den Frühling mit seinen zarten Blüten im saftigen Grün, den Sommer mit der ganzen Pracht einer trunkenen Natur, den die strahlende Sonne hervorzaubert. Oder einen Schneemann, weiß wie …? Oh Gott!
Sie griff nach einem schwarzen Rock und einer weißen Bluse mit einem großen Kragen, wie ihn Matrosen auf ihren schwankenden Schiffen zu tragen pflegen. So fühlte sie sich angemessen gekleidet.
Auf dem Weg bis zum Krankenhaus konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Sie wusste nicht einmal genau, mit welcher Bahn sie gefahren war. Immer wieder fielen ihr die ausweichenden Worte dieses Arztes ein, den Doktor Zedler als ausgezeichnet beschrieben hatte.
»Guten Morgen, ich möchte bitte zu Schwester Caroline«, sprach sie zwei junge Mädchen in weißen Kitteln an, die kichernd einen riesigen Wäschekorb durch die Tür bugsierten. Heute saß niemand hinter der Luke.
»Heute ist kein Sprechtag«, sagte die eine der beiden.
»Ich weiß, Schwester Caroline erwartet mich.«
Laura log, weil sie befürchtete, dass wieder alles umsonst sein könnte. Die junge Brünette, deren Gesicht aussah, als sei sie ungeschickt in einen Farbeimer gefallen, stieß mit dem linken Fuß die Pendeltür auf und plärrte in Richtung der für Besucher verbotenen Zone: »Hier ist Besuch für Schwester Caroline!« Dabei rollten ihre schwarzumrandeten Augen, als würde ihr dieses Leben total auf die Nerven gehen. Die beiden Schwesternschülerinnen schleppten den knarrenden Korb schimpfend zum Ausgang. Laura konnte die abfälligen Bemerkungen hören, die sie über aufdringliche Besucher machten. Wie so oft packte sie ein kleiner Zorn: Was wissen diese Gören vom Leid einer Mutter! Schlimm genug, dass man solchen Menschen ein hilfloses Wesen anvertrauen muss.
Die folgenden Minuten in diesem unfreundlichen Durchgang erschienen ihr endlos. Wie eine Bettlerin stand sie da, wie eine Verdurstende, die flehentlich um einen Schluck Wasser bittet.
Auf ihrem Weg zurück plärrte eine der Schwestern auffällig laut durch die Räume.
»Caroline! Hier wartet Besuch auf Sie!«
Als die Pendeltür zuschlug, hörte Laura ein Zischeln, dann die deutlichen Worte:
»Nein, nein, ich bin schon unterwegs. Machen Sie inzwischen die Einlagen fertig.«
Caroline Kunz kam mit sachtem Schritt auf Laura. Sie reichte ihr nach einem leisen »Guten Morgen« die Hand und sie setzten sich nebeneinander auf die morschen Holzstühle im Gang. Caroline pustete den angestauten Atem von sich. Heute sah sie müde aus, apathisch. Ohne ihre Haube wirkte sie sanfter als am Tag zuvor. Ihr Haar fiel locker und weich um ihr schönes Gesicht. Sie probierte ein Lächeln, es gelang nicht. Ihre Lippen zitterten und der Körper bebte. Insgeheim hatte Laura damit gerechnet, ihre Zwillinge einmal in den Arm nehmen zu können und sie zu liebkosen. Das ginge auf keinen Fall, erklärte die Schwester. Sie gab sich viel Mühe, auf alle Fragen verständnisvoll zu antworten. Freundlich schlug sie sogar vor, gemeinsam ein paar Schritte durch den Park zu gehen.
Der Sommertag war erst wenige Stunden alt. An diesem Morgen schoben sich dunkle Wolken über den Dächern der Klinik zusammen. Drückende Schwüle kündigte ein Gewitter an. Noch zitterte kein einziges Blatt an den Bäumen. In merkwürdiger Duldungsstarre wartete die Natur auf den reinigenden Gewitterregen. Besorgt schauten die Frauen von Zeit zu Zeit in den Himmel, jede mit anderem Befürchten.
Caroline wirkte auf Laura heute warmherzig und irgendwie mütterlich. Endlich konnte sie Vertrauen zu dieser Schwester aufbringen, Hoffnung schöpfen. Zögernd legte sie ihre Hand auf die der Schwester und flüsterte.
»Ich brauche Gewissheit, ob die Mädchen in guten Händen sind.« Vorsichtig erzählte sie über ihre Freude auf die Kinder und über die Bürde der Angst. Sie schloss mit den Worten: »Ich möchte nicht noch einmal Opfer eines medizinischen Irrtums werden.«
Caroline lockerte mit den Fingern den Ausschnitt ihres Kittels, als würde ihr die Schwüle die Luft zum Atmen nehmen. Ihre leicht geöffneten Lippen bebten sachte. »Wieso Opfer?«, fragte sie stockend.
Laura erklärte ihre Theorie der Krankengeschichte. In jedem Moment spürte sie, wie sich das schöne Gesicht der Schwester mehr und mehr versteinerte. Laura dachte an Till. Mit seinen Worten über das Gejammer der Patienten hatte er sicherlich Recht. Alle Menschen denken, dass ihr Leid das schlimmste und dass ihr Kind das Wertvollste sei.
Sie standen schweigend nebeneinander und schauten sich nicht an, bis der erste Blitz sie aufschreckte. Laura erkannte, wie ein zartes Frösteln über die Haut der Schwester huschte. Sie hoffte zugleich, Caroline würde ihren Überfall verstehen können.
»Ich möchte mich entschuldigen, Schwester Caroline. Ich habe wahnsinnige Angst, dass die Krankheit schlimmer ist und dass alle etwas vor mir verbergen. Ich spüre es. Sogar Doktor Hämplin hatte …«
Gerade wollte Laura ihren Verdacht begründen, als die ersten schweren Regentropfen in ihre Bedrückung platzten. Schwester Caroline sprang auf, als hätte sie genau auf diesen Moment gewartet. Sie reichte Laura lasch und wenig aufmunternd ihre Hand. Ihr Blick, sehr weit weg gerichtet, vermochte ihren Worten nicht die Wirkung zu geben, die Caroline beabsichtigte: »Doktor Hämplin hat Sie bestimmt nicht getäuscht, Frau Benz.«
Es vergingen ganze sechs Wochen, bis Laura und Till Benz ihre Kinder nach Hause holen durften. Angst stand in Lauras Augen. Zum ersten Mal betrachtete sie ihre Mädchen aus der Nähe, als sie zur Abholung in die Klinik bestellt worden waren. In ihrer Blässe hoben sich die Gesichter kaum von den Kissen ab. Sie hatte ihre neugeborenen Babys mit gesundem Teint und munteren Knopfaugen in Erinnerung. Davon war nichts mehr da. Sogar schienen die Augen heller geworden zu sein, zumindest bei einem der Babys, die sie freilich noch nicht auseinanderhalten konnte. Zum Glück hatte man die Bändchen an den Armen mit der Aufschrift Jasmin Benz und Julia Benz für die Entlassung nicht entfernt. Die tiefblauen Rachen verrieten obendrein, dass sie gegen irgendeine Infektion gepinselt worden waren, über die man die Eltern nicht informiert hatte.
»Reine Vorsorge«, beteuerte Schwester Margarete. Sie beeilte sich, die Ernährungshinweise zu erteilen. Je länger Laura auf den Redeschwall der Schwester hörte, desto mehr verlor sie die Fassung. Da war von 140 Gramm Kindernahrung die Rede. Zu Hause könne die Mutter schon beginnen, ein paar Gramm puren Möhrensaft zu verabreichen. Von Muttermilch sprach die Schwester nicht.
»Wozu habe ich Tag für Tag meine Milch hierher getragen. Welches Kind hat meine Milch bekommen?«
Es war nur ein Gerücht, das in diesem Moment an Tragweite gewann: Man verkaufe die kostbare Muttermilch für Devisen in den Westen.
Wie tief muss man sinken, um das zu tun?
Till nahm Laura bei den Schultern und versuchte, sie zu beruhigen. Das brachte sie noch mehr zur Verzweiflung, weil sie glaubte, von ihrem Mann nicht mehr verstanden zu werden. Die Schwester trug wortlos eilig zusammen, was für die Entlassung notwendig war. Die Eltern schickte sie derweil in das Zimmer des Chefs.
Doktor Hämplin begrüßte Familie Benz mit höflichem Kopfnicken. Sofort wanderte sein scheuer Blick wieder in die Krankenakte.
»Wir haben uns entschieden, Ihre Kinder in die häusliche Obhut zu entlassen. Die Augenklinik kann nicht mit Sicherheit sagen, ob es einen Behandlungserfolg gibt.«
»Warum dann erst jetzt die Entlassung?«
Hämplin ging auf ihren Einwurf nicht ein. Unbeirrt, wie am Tag der Sprechstunde, sprach seinen Text:
»Nach Konsultation des Chefarztes der Augenklinik haben wir entschieden, das Medikament abzusetzen.«
»Heißt das, es war nicht nötig?«
»Die augenärztliche Diagnose ist unverändert.«
»Das müssen Sie näher erklären«, forderte Till den Arzt auf.
»Unverändert kann immerhin unbestätigt heißen. Das wäre immerhin positiv.« Hämplin wippte auf seinen Fußsohlen, während seine Blicke unruhig umher huschten. »Ich sagte, endgültig ist noch nichts. Sie müssen die Kinder turnusmäßig in der Augenklinik vorstellen. Der erste Termin ist hier vermerkt. Die weiteren Termine gibt Ihnen dann die Augenpoliklinik.«
Laura hatte das Gefühl, mit seinem dauernden Griff zur Nase wollte er sein schlechtes Gewissen besänftigen. Er übergab folgerichtig dem Vater die Papiere und reichte ihm die Hand. Es schien, als sei er erleichtert, die Nervensäge von Mutter endlich los zu sein.
»Ich wünsche Ihnen und Ihren Kindern alles Gute.«
Mit einer steifen Verbeugung verabschiedete er sich von der Familie, nicht ohne Lauras Blick auszuweichen.
»Kann ich Schwester Caroline …?«
»Schwester Caroline ist krank.«
Am Abend zu Hause schlug Laura vorsichtig den bunten Stoff des doppelten Himmelbettes zurück. Blass und erschöpft lagen die Mädchen in den Kissen. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig. Endlich hatten sie ihre Kinder zu Hause. Perfekt war ihr Glück dennoch nicht. Zu viele Sorgen und Ängste vermischten sich mit der Freude. Einerseits war Laura sehr froh, andererseits quälte sie ständige Angst. Sie konnte sie nicht in sich bewahren.
»Ob Babys auch mal verwechselt werden?« Ihre Stimme klang wie in Trance, wie unwirklich.
»Laura!«, ermahnte sie Till mit ärgerlicher Stimme. »Es ist normal, dass die Kleinen sich verändert haben. Sie waren noch nie an der frischen Luft …«, Till begann zu dozieren und die Angelegenheit von allen Seiten zu betrachten, wie es Lehrer tun. Er senkte seine Stimme alsbald, was Laura sagen sollte: Mehr Worte sind nicht nötig. »Krankenschwestern sind keine Mütter. Die tun nur ihre Pflicht. Das gibt sich wieder. Das kriegen wir schon hin.« Er nahm sie behutsam in die Arme und zog sie mit sich aus dem Zimmer. »Das mit den Augen ist viel schlimmer«, flüsterte er leise, fast unhörbar für Laura. Sie schmiegte sich an ihn: »Ich hab so furchtbare Angst.«
Die Enttäuschung lähmte sie wie eine Ohnmacht. Sie wusste, dass ihr Mann Recht hatte. Die Wunde in ihrer Seele konnte er mit seiner stoischen Logik jedoch nicht heilen.
»Warum hat sich ein Kind mehr verändert als das andere?«, das fragte sie sich noch tausendmal in diesem Leben. Heimlich.
Seit heute weiß Laura Benz, es war keine törichte Frage. Sie wird der Wahrheit ins Auge sehen müssen. Nach all der Liebe, nach all den Jahren des Stolzes und der Freude darüber, dass keines der Mädchen irgendeine Folge der schrecklichen Erkrankung in sich trug, wollte sie diese Wahrheit nie hören. Nun wird sie sie eines Tages ertragen müssen.
Die vier Mädchen sind fest entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen – Stella und Selina sogar gegen den Willen ihrer Mutter Denise. Sie war, wie sie von Stella herausbekommen hat, die Frau des damaligen Chefarztes der Augenklinik Doktor Groth. Dass er sich mit seiner Diagnose offenbar – Gott sei Dank - geirrt hatte, behält sie für sich. Sie könnten es als gut, aber ebenso als böse gemeint empfinden.
Selina und Stella sagen zwar, dass sie sich nur blass an ihren Vater erinnern, weil sie einen guten Ersatz hätten, all die Jahre. Sie sprechen nie vom neuen Vater, immer von Micha, wenngleich mit Glanz in den Augen und mit einem Lächeln auf den Lippen.
Schön für die Mädchen, denkt Laura. Wenn ein Verlust als solcher empfunden wird, hat das Leben unheilbare Kerben. Sie waren ja, wie sie sagen, erst neun Jahre alt, als ihr Vater starb …
Laura ist sich darüber im Klaren, dass sie ein enormes Risiko eingeht, die Mädchen in ihrem Ansinnen zu bestärken. Sie wird ihnen ihren Rat nicht vorenthalten. Nur Doktor Hämplin und diese Schwester Caroline Kunz können sagen, was damals geschehen sein könnte. Wenn sie sich an die Hilfsschwestern erinnert, von denen sie bei jedem Besuch andere Marotten kennenlernen musste, kann sie sich so manches vorstellen. Diese Jugend hat zu allen Zeiten Flausen im Kopf. An ihrem Job stören sie nur die vielen Arbeitstage vor und nach dem Wochenende.
Sie weiß, wie ungerecht sie ist. Ihre Mädchen sind anders und Stella und Selina offenbar auch.
Mit gutem Gewissen gab sie den Mädchen den Rat, sie sollen Denise Beyer, wie sie jetzt heißt, nichts aufzwingen, sie wird einen Grund für ihr geringes Interesse haben.