Читать книгу GIFT geschädigt - Maxi Hill - Страница 7
Schulalltag und eine nicht alltägliche Nachricht
ОглавлениеEine Stubenfliege, vielleicht die letzte des Jahres, hatte sich verirrt und brummte bedrohlich über den Köpfen der Klasse, huschte zurück zur kühlen Scheibe, um wie magnetisiert haften zu bleiben. Nach gewisser Zeit wiederholte sie das letzte Spiel ihres Lebens. Zwischendurch kreiste sie unter der Zimmerdecke und zuweilen auch vor Schrimps Gesicht. Ein hämisches Grinsen der Jungen und das Warten, was jetzt passieren würde. Pure Abscheu aus den Gesichtern der Mädchen. Schrimp spürte das Gemisch der Empfindungen. Die Schüler wussten nicht, was sie tun sollten und was nicht. Sie hatten längst gelernt, dass Schrimp nichts wiederholte, und das zumindest war ärgerlich wenn er einen seiner Witze machte. Er machte jetzt keinen Witz, er hatte eine Idee.
»Fangt sie ein, aber zerdrückt sie nicht.«
Für einen Moment entglitt ihm die Ruhe, die gewöhnlich in seinem Unterricht herrschte. Das Tohuwabohu begann. Tobias, der dickliche Knabe mit der Nickelbrille, hechtete sein Übergewicht über den schmalen Körper seines Banknachbarn Jens und drohte ihm das Genick zu brechen. Schrimp ging dazwischen.
»Das war schlapp, wie ein Sturmsack bei Windstärke zwei.«
Ein Unfall hätte ihm gerade noch gefehlt. Nicht auszudenken, wenn einer dieser untertrainierten Plumpsäcke noch Schaden anrichtete. Es war genug, wenn eine der Mütter Gift und Galle über ihn auskippte. Es waren gewisse Privilegien, die das Leben dirigierten. Das Privileg der Abstammung, das die Mütter pflegten und zugleich das Privileg, sich eine Meinung zu bilden, ohne die geringste Ahnung zu haben.
Seine Hand kreiste im großen Bogen durch die Luft und das Brummen war verstummt. Er hatte das Biest. Nun kam es nur darauf an, dass er sich nicht blamierte und der Störenfried nicht wieder entwischte.
»Schnappt euch ein Mikroskop und schaut sie euch an.«
Wieder war Tobias trotz beachtlicher Körperfülle der Erste am Instrumententisch, während Schrimp die Fliege, die er musca domestica nannte, solange mit seinen Fingerspitzen an den Beinen festhielt, bis der Objektträger aufgelegt war.
»Obwohl sie so winzig ist, verfügt sie über einen hochkomplizierten Steuerapparat. Komplizierter als jedes andere von Menschenhand konstruierte Fluggerät.«
Das Tierchen sah unter dem Mikroskop nicht nur riesig aus, es schien durchscheinend und gerade deshalb gespenstisch zu sein. Besonders auf die Mädchen wirkte es jetzt bedrohlicher als im Flug.
»Mit solchen Flügeln ist man schneller als die Polizei erlaubt?«, krächzte der schmächtige Jens, offenbar nur, um auch einmal eine vorwitzige Bemerkung zu machen.
»Schaut euch die Augen ganz genau an! «
Es gab immer noch Schüler, die offenbar beim Blick durch das Mikroskop vom Objekt nichts erkannten und sich rasch wieder entfernten. Aber zu denen gehörte Tobias nicht. Er war in jeder Lebenslage neugierig, schnappte nach jeder sich bietenden Sensation und wurde deshalb (auch von manch einem Lehrer) Klatschmaul genannt. Schrimp mit seiner trotzigen Grundauffassung teilte diese Meinung nicht. Wenn die Neugier sich auf ernsthafte Dinge richtete, lobte er den Wissensdrang.
»Man. Fassettenaugen. Kennt man doch!«, prahlte Tobias. Schrimp griff ein: »Mit diesen Augen schafft sie den Rundumblick und kann ihn blitzschnell verarbeiten. Ehe du nur die Hand hebst, ist sie weg. «
»Kein Wunder, wenn man nach vorn und hinten gucken kann. Zugleich, wohlgemerkt. «
»Haben Sie auch Facettenaugen?«, fragt einer aus der hintersten Reihe.
»Klar«, antwortete ein anderer, »sonst hätte er sie wohl schlecht fangen können.« Aus dem Pulk löste sich das Stimmchen eines Mädchens, das sonst nie vorlaut ist: »Was meinst du, warum Tobias lieber büffelt, als im Unterricht zu spicken?«
Schrimp grinste in sich hinein. Respekt zeigt sich auch in gewisser Respektlosigkeit. Was aber den Fakt betraf, gab es auch bei ihm zuweilen Augenblicke, wo er keine vernünftigen Argumente fand. Sein Respekt vor der Natur war groß und das spürten die Schüler. Manches, was er nicht erklären konnte, bezeichnete er als überwältigendes Wunder des Lebens, was zuweilen missverstanden wurde.
»Gott hat die Welt perfekt eingerichtet«, sagte prompt einer, der auch noch Christian hieß und der sonst nie etwas sagte, sofern er nicht aufgefordert wurde. Christian weigerte sich sogar, den Begriff Evolution zu gebrauchen.
»Gott macht nicht alles«, kicherte Tobias.
»Braucht er auch nicht. Die meisten Dinge kommen eh aus China«, verkündete Jens Haberland lax und hatte sofort die Lacher auf seiner Seite. Schrimp gönnte dem stillen Jens einen kleinen Triumph. Er liebte es, wenn man sich seiner legeren Art anzugleichen versuchte. Es war auch nicht Chaos, was er zuweilen zuließ. Es war die Flexibilität, die ihn so wohltuend von der Sturheit anderer Lehrer abhob. Aber wenn er »Schluss!« sagte, dann war auch Schluss.
Auf dem Instrumententisch hatte Schrimp die Präparate der Ambrosia aufgereiht, die in der letzten Stunde akribisch angefertigt worden waren. Heute ging es darum, die Einzelheiten zu erkennen und zu protokollieren. Männliche von weiblichen Blüten zu unterscheiden, das bot den Schülern keine Hürde mehr. Wie stets, wenn das verborgene Mikroleben entschlüsselt wurde, stieg auch jetzt die Begeisterung. Winzige gelbe Pollen, ähnlich einer ungehäuteten Kastanie, aber mit einer Größe von weniger als 20 µm, klemmten zwischen Objektträger und Deckglas und versetzten die Schüler in Forscherlaune. Während dessen erzählte Schrimp eine komische Geschichte:
»In der griechischen Sage ist Ambrosia die Speise der Götter. Der Legende nach brachten Tauben eine ominöse Ambrosia zu Zeus. Als Speise oder Trank genossen, sollte sie die Schönheit erhöhen und vor Fäulnis schützen. Noch heute verwenden Dichter das schöne Wort ambrosisch für göttlich oder unsterblich.«
»Gut, dass das der Barthels nicht weiß«, fauchte einer und berichtigte sich beim Anblick von Schrimps Stirnfalten. »äh, Herr Barthels, natürlich. «
»Herr Fedder. Wir haben mal gelernt, dass Ambrosia die Nahrung der Bienenkönigin ist.«
»Stimmt, Tanja«, sagte Schrimp nicht ohne Erstaunen. War es ihm doch selbst entfallen, »die Mischung aus Pollen und Honig.«
Jens Haberland, der es inzwischen genoss, die Lacher auf seiner Seite zu wissen, drehte mit schelmischem Blick sein Präparat zwischen den Fingern vorsichtig nach allen Seiten und gab sich naiv:
»Also kann man das essen.«
»Als Henkersmahlzeit vielleicht.« Schrimp gab dem Jungen einen Knuff in den Oberarm. Er hatte den Schülern nicht nur die Gefährlichkeit der Pflanze eingebläut, er hatte ihnen auch aufgetragen, im handelsüblichen Vogelfutter darauf zu achten, ob sich die winzigen Früchte, die er Achänen nannte und deren Größe gerade mal drei Millimeter maß, dazwischen gemogelt hatten. Im selben Atemzug entfuhr ihm die Frage, was mit Sebastian Hamm sei.
»Der hat Ambrosia genascht«, kicherte der Geknuffte.
»Quatsch. Der hat mal wieder Summen im Kopf«, wusste ein anderer. Erst als Schrimp wieder abseits stand, raunte einer der Jungen, den Schrimp oft an der Seite von Sebastian angetroffen hatte, wenn sie gemeinsam den Weg zum Konservatorium gingen:
»Der hält nie bis zu den Ferien durch. Aber in den Ferien, da flitzt er mopsfidel zur Musikschule und zum Training. Der Hamm ist ein Weichei.«
»Ick denke, Hamm heißt Schinken?«
»Bei Fräulein Brown vielleicht. Sonst heißt es Weichei.«
Schrimp war beileibe keiner, der dahergesagte Worte auf die Goldwaage legte. Auch wenn sie noch jung waren, solche Reden machten ihn zuweilen wütend. Sie hatte durchaus ihren Spaß an gewisser Häme, aber kaum einer betrachtete sich selbst. Wer das nicht von Kindesbeinen an lernt, der lernt es nie mehr. Und dieser Schmierer, dieser Eike, der ist doch selbst ein Weichei, eines der größten sogar, dachte Schrimp bei sich, doch er sagte:
»Wenn du die Hälfte von dem wärest, was du zu sein glaubst, dann wärest du das Doppelte von dem, was du bist.« Seine Knöchel knufften den Hinterkopf des Jungen, gerade so, dass es noch als freundschaftlich durchging.
»He Eike«, jaulte einer im Hintergrund, »lös das mal schnell im Dreisatz.«
Das Gelächter hielt nur kurz, damit hatte Ole Fedder kein Problem. Dann hob er die Hand.
»Schluss jetzt!«
Die Projektstunden nach der Mittagspause waren wesentlich anspruchsvoller, obwohl Schrimp genau wusste, dass nicht alle am Schluss die gleiche Erkenntnis teilen würden. Die Erbsubstanz sollte extrahiert werden. Dazu hatte er umfangreiche Vorbereitungen getroffen, die an Laborbedingungen anknüpften. Das waren genau diese Stunden, die er Inka stahl, wofür sie nur schwerlich Verständnis zeigte.
Nur drei Schüler bekamen Zettel mit dem Versuchsablauf. Die anderen hatten nach deren Anweisung die Substanzen exakt nach Milligramm abzuwägen oder zu protokollieren, was geschehen sollte.
Fein geschnittene Pflanzenteile, Kochsalz und Spülmittel. Das Becherglas stand auf der Platte und der Stabmagnet drehte sich. Erhitzen. Abkühlen und alles zerkleinern. Ein Stabmixer surrte.
»Vorsicht«, mahnte Schrimp, »das ist doch keine Gulaschkanone. Ihr zerstört mir noch die DNA.«
Die erste Gruppe gab alles bereits durch einen Filter und füllte den Extrakt in Röhrchen. Erst dann kam Schrimp mit dem eiskalten, hochprozentigen Alkohol ins Spiel. In den Röhrchen setzt es sich am Boden das Objekt der Begierde ab.
»Cool«, staunte Tanja Kurz, die als Erste die DNA erkannte und mit einem Stäbchen aus dem Röhrchen angelte.
»Cool«, sagten auch einige andere, während wieder andere nur gelangweilt schauten.
»Ich wette, die Hälfte weiß nicht, was soeben passiert ist«, provozierte Schrimp die Gelangweilten und reichte die Röhrchen zur Begutachtung herum.
»Aber höchstens die kleinere Hälfte«, witzelte Tobias.
Schrimps geballte Faust fuhr in gewohnter Manier über den kurz geschorenen Hinterkopf des Jungen: »Wer in Bio was kann, muss noch lange keine Leuchte in Geometrie sein.«
Wippenden Schrittes ging Schrimp nach der Stunde hinunter zum Lehrerzimmer. Nach seiner Laune zu urteilen war es ein schöner Tag. Die Zwölfer, deren Leistungskurs er jetzt noch hätte, waren auf Geschichts-Exkursion in Berlin, somit hatte er für heute frei.
Aaron saß wie ein geprügelter Hund auf seinem Stuhl und stützte den Kopf in den hochgezogenen Schultern ab. Schrimp setzte sich zu ihm.
»Und?« Mehr Worte brauchte es nicht.
»Geht so.«
»Na dann.«
Das Ehepaar Barthels war nicht mehr so jung, um alles Moderne mitmachen zu müssen. Seit Kurzem aber hatte Schrimp das Gefühl, Aaron holte auf, was er zu verpassen geglaubt hatte. Materiell gesehen. Erst hatte er das Wohnzimmer erneuert und die Garageneinfahrt verbreitert und im Moment, das wusste Schrimp, war gerade eine neue Küche in Arbeit, deren Aufbau Aaron ganz sicher viel Kraft gekostet hatte. Auch Heiner Bär, der Informatiker, wusste davon. Aaron hatte sich erkundigt, wie die neuen Fliesen am besten anzubringen seien. Bär hatte gerade den Umzug in sein eigenes Haus hinter sich.
»Ist deine Küche fertig?« Grinsend schaute Heiner Bär zu Aaron herüber.
»Fertig.«
»Alles neu? Nur Hanna nicht?«
Heiner Bär pfiff durch die Zähne und blinzelte in die Runde der Kollegen, die hier ihre Pause verbrachten. Sie wussten alle, was Hanna für Aaron bedeutete. Sie war ihm Heiland und Verderben zugleich, nur die Anteile waren schlecht verteilt. Fast jeder wusste ein bisschen darüber Bescheid und einige zollte Aaron sogar Respekt für seine Haltung. Wer jeden Morgen eine solche Frau am Frühstückstisch ertrug und noch verträglich blieb, dessen Trübsal musste sogar vor Widersachern als gerechtfertigt gelten.
Heiner Bär prahlte auch gern mit seinem Verstand von elektronischer Technik, die das ältere Semester sträflich verschmähe. Schrimp hatte eine sehr interessante CD bekommen, die er leider kurzfristig wieder an den Besitzer zurückgeben musste. Deshalb wollte er sie allen Zehnerklassen zugleich vorspielen, wusste aber nicht, ob das neue Gerät, das man in der Aula installiert hatte, zum Abspielen geeignet war.
»Was bedeutet C/A-Wandler?«, fragte er Bär. Der verschränkte sofort seine Arme auf dem Rücken, reckte den Kopf nach hinten und begann kerzengerade im Zimmer auf und ab zu laufen, ganz so, als habe er eine Schulklasse vor sich. Seine Stimme aber klang wie die eines Rezitators.
»C/A-Wandler bedeutet, dass dieses Gerät die auf CD codierte digitale Information liest und sie dann in Schallsignale umwandelt. Also auch in Musik. Deshalb steht das Gerät in der Aula.«
Sein schräger Blick traf Aaron, der bei Veranstaltungen für die Musik zuständig war. Aaron verschmähte dieses Gerät. Er brauchte es nicht. Nicht umsonst hatte er mit einiger Mühe eine kleine Kammermusik-Gruppe ins Leben gerufen und leidenschaftlich geprägt. In kaum einer Schule waren es die Schüler selbst, die jeder Veranstaltung einen festlichen Rahmen verliehen. Zum Leidwesen der jüngeren Lehrer saß Aaron zuweilen auch selbst am Klavier und spielte Klassik.
Schrimp schüttelte seinen Kopf: »Wenn ich dich richtig verstehe, heißt das, der CD-Spieler spielt CDs ab?«
Einige der Kollegen, die das Geschehen verfolgten, grinsten diabolisch, andere lästerten ob der gewaltigen Logik.
»Richtig«, bestätigte Bär und änderte seine erhabene Position.
Aus dem Hintergrund löste sich Maddy Browns helle Stimme: »Wenn du verstanden werden willst, gebrauche für gewöhnliche Dinge niemals ungewöhnliche Worte. Mach es lieber mal umgekehrt.«
Bär machte eine zackige Bewegung. In seinem Alter konnte man das erwarten, nicht aber die Anstandslosigkeit, mit dem Heiner Bär gegen Fräulein Brown zurückschlug.
»Wenn Sie jemanden zum Bevormunden brauchen, warum heiraten Sie nicht einfach.«
Schrimp mischte sich ein. Die Worte waren nicht sehr deutlich, aber seine Stimme gegen Heiner Bär war etwas lauter als bisher: »Wenn du Aggressionen abbauen willst, fahr einfach Auto.«
»Geht nicht. Zu viele aggressive Lehrer mit Autos unterwegs.«
Bär zog es vor zu verschwinden und gab sein Unverständnis mit lautem Schlagen der Tür zu verstehen. Kurz darauf war man sich einig, es sollte wieder mehr Anstand im Lehrerzimmer herrschen.
Aaron hatte eine Springstunde. Er wusste nichts vom Glück der Ausfallstunden, das Schrimp getroffen hatte, und er wunderte sich, dass der so ruhig sitzen blieb, obwohl der Rest des Kollegiums noch vor dem ersten Klingelzeichen auf dem Weg in die Klassen war. Sie redeten belangloses Zeug, doch die Worte kreisten irgendwie um Bär, der von Krüger den Auftrag hatte, das Geheimnis aufzuspüren, zu dem sich Aaron Barthels und Ole Fedder nicht bekennen würden. Schrimp wusste es von der Putzfrau Frau Hammermüller, die gerne übersehen wird, aber deren Ohren überall sind.
In Wahrheit gab es kein Geheimnis zwischen Schrimp und Aaron, jedenfalls nichts, was die Professur von Aaron erklären könnte. Schrimp hatte vor Krüger geblufft und es Aaron inzwischen gebeichtet.
»Der hat 's nicht anders verdient. Soll er ruhig glauben, du wirst zum Professor ernannt.«
Aaron hatte damals nur müde gelächelt. Jetzt saßen sie still beieinander. Kaum, dass sie sich wahrnahmen. Jeder hing seinen Gedanken nach.
»Arroganz verdirbt den Anstand«, sagte Aaron nach unendlichem Schweigen, als hätte er so lange gebraucht, um diesen Satz loszuwerden. Schrimp nickte. Auch er brauchte wiederum lange für eine Antwort.
»Heute ist Anstand eine völlig andere Kategorie. Wenn ein Unternehmer sagt, er habe anständige Preise, dann müsste der sich eigentlich für seine Unverschämtheit schämen. Wenn du deiner Frau sagst, du möchtest endlich mal wieder was Anständiges auf den Tisch, dann ist gerade das sehr unanständig.«
Schrimp wollte Aaron nicht direkt nach Hanna fragen und er tat es auch nicht. Es ging ihn nichts an wie die beiden zurechtkamen. Aber irgendwie hatte Aaron verstanden. Sein Kopf wippte schwer und ebenso schwer fiel ihm das Reden:
»Hanna hat gemeint, wenn die nichts sagen, dann ist auch nichts. Nun haben die aber etwas gesagt.«
Aaron schluckte nervös und Schrimp ermutigte ihn zu nichts. Dass ihm jetzt die Moralpredigt in den Sinn kam, die er seinen Schülern gewöhnlich hielt, war nicht verwunderlich.
Wer sich nicht traut zu fragen, hat Angst, etwas zu lernen.
Schrimp hatte Angst und er fragte nicht. Jahrelang hatte er keinen besonderen Gedanken an Aaron Barthels verwendet. Und nun, wo er den Menschen in ihm erkannte, begann etwas in ihm aufzubrechen, was er nicht anzunehmen gewillt war. Fatal. Er war auch nicht gewillt, es auszuschlagen.
»In dieser Schule tickt eine Zeitbombe.«
Beinahe verlor sich Aarons feine Stimme in der Weite des Raumes, in dem es ungewöhnlich still war. Schrimp war unentschlossen, etwas zu erwidern, wie stets, wenn er glaubte, etwas zu erkennen, aber hoffte, sich zu irren.
»Ich habe gearbeitet für ein zufriedenes Alter«, flüsterte Aaron. »Ich habe versucht, das Leben nicht zu verpassen. Und jetzt? Vielleicht verpasst es mich …«
»Rede mal Klartext.«
Aaron klagte nie jemanden an. Er beklagte allenfalls, selbst unvermögend zu sein, sich gegen die Widrigkeit des Lebens zu stemmen. Auch jetzt klagte er nicht, auch wenn Schrimp noch so fordernd schaute.
»Ole, ich habe keine Therapie hinter mir, die mich lehrt, dass man über alles reden kann. Ich kann das nicht.«
Hinter Aarons Worten lag eine unbestimmte Art, etwas auszudrücken, und Schrimp ahnte, was noch kommen würde. Diese Ahnung wühlte ganz unverhofft minutenlang in seinen Gedärmen.
»Ich habe Krebs.« Nur drei Worte, aber die schnitten scharf. Schrimp saß stocksteif. Kein Wort zwängte sich durch seine Lippen. Keine Frage. Kein Bedauern. Er war außerstande, über ein solches Thema zu reden. Krebs war bisher immer weit weg von ihm, niemals real. Jetzt saß etwas davon neben ihm wie ein Häufchen Unglück, real und doch so unglaublich. So steif, wie er dachte, blieb er sitzen, wortlos, und er schickte seinen Blick hinauf zur Decke.
»Was ist«, flüsterte Aaron.
»Ich suche die versteckte Kamera, verdammt.«
Noch niemals haben sie mit so widersinnigen Worten so absurde Dinge verdrängt. Noch niemals war Aaron in so schrecklicher Lage so gefasst gewesen. Irgendetwas stimmte nicht.
Wer Aaron Barthels kannte, der wusste es. Seine Lehrfächer brauchten ein wenig Theatralik und irgendwie hob er manchmal ab aus dem wirklichen Leben. Heute traf das offenbar wieder zu. Die Hände ungeschickt in die Taschen vergraben saß Schrimp neben Aaron. Er wusste nicht wie lange.
Auf einen Blick von Aaron hin verließen sie gemeinsam das Lehrerzimmer. Sie liefen durch das Treppenhaus, derweil Aaron wie nebenbei, vom Ergebnis dieser Untersuchung sprach. Und das klang nicht nach Theatralik.
»Nur fünf Prozent aller Fälle beruhen auf karzinogenen Umweltfaktoren. Warum ich? Warum hier?«
»Ist es denn ... « Schrimp beherrschte sich gerade noch zu fragen, ob es wahr sei und er war froh über das Wort, das ihm noch rechtzeitig einfiel: »Ist es … amtlich?«
»Sie haben eine Bronchoskopie mit Spülung gemacht.«
»Hört sich nicht gut an.« Schrimp blinzelte zwar, aber sein Gesicht spiegelte etwas von Bestürzung.
»Mit der Spülflüssigkeit bekommt man die Krebszellen, um sie mikroskopisch untersuchen zu können. Die feingewebliche Untersuchung von Lungenzellen war inbegriffen. Auch der Auswurf wurde …« Es waren nur drei Sätze, aber Aaron hustete erbärmlich, als habe er sich damit übernommen. Seine Erregung verstärkte den Husten und zwischendrin die Stimme von Schrimp: »Warum bist du dann noch hier?«
Eine Antwort kam nicht. Aarons Blick wurde stechend, beinahe böse und er fauchte ihn an, wie ihn Aaron niemals zuvor angefaucht hatte: »Du erzählst es niemandem. Klar?«
Als ob er das wandelnde Klatschblatt wäre. Hatte Aaron je nötig, ihre Freundschaft so infrage zu stellen?
»Erzähl du mir lieber, warum du nicht eher etwas unternommen hast.«
Aarons Augen schauten nicht mehr, sie suchten nach etwas in Schrimps Gesicht, das er nicht fand.
»Eher? Es wollte niemand hören. Auch du nicht.«
»Du hast immer nur über die Gerüche geschimpft. Und Raucher warst du schließlich auch einmal. Wie sollte man bei deiner Husterei etwas Ernstes vermuten?«
»Ich sage dir, wenn es nicht schädliche Strahlen sind, wenn es nicht Phosgene sind, dann ist es Formaldehyd oder PCB. Oder Arsene. Was weiß ich. Ich weiß nur eines. In den Ferien ging es mir immer gut. Zugegeben, zuletzt nicht mehr. Dieser Husten …« Die Worte klangen nicht mehr wie das Anbellen der Welt, sie verbargen das Zittern von Katzenjammer.
»Das heißt, die Benommenheit und das mit dem Gedächtnis …«
»Das heißt es. Erst seit die Lunge beteiligt ist, hatte ich auch in den Ferien keine Ruhe mehr.«
Eine Weile sinnierte Schrimp, dann sagte er: »Phtalate vielleicht?«, doch Aaron hatte die Worte nicht mehr gehört. Mit hängenden Schultern lief er davon, wortlos und ohne auch nur einmal zurückzublicken. Irgendwie schien es Schrimp, als hätte Aaron völlig vergessen, worüber sie gerade gesprochen hatten, als hätte er sein Problem völlig vergessen.
An Aarons Verdacht könnte was dran sein, dachte Schrimp bei sich, während er rasch und federnd den Flur durchschritt, der seit einiger Zeit mit teurem Parkett ausgelegt war. Man wusste um die Gefährlichkeit von Weichmachern, aber hier steckten keine drin. In Klebemassen könnten Substanzen stecken, die ausdünsten. Wo eine Rückrufaktion nicht möglich ist, lässt man das Teufelszeug ruhen, wo es gerade ruht. Wenn es doch ruhen würde.
An diesem Nachmittag wollte Schrimp kein einziger guter Gedanke mehr kommen. Nur einer war ebenso intensiv wie sein Mitgefühl für Aaron. Es war nicht die Empörung über Aarons viel zu langes Warten. Es war die Parallele zu Sebastian Hamm, diesem Schüler mit der hysterischen Mutter, die – wie er erst seit Kurzem wusste – alleinerziehend war.