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Parallelen

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Für gewöhnlich prasselten die Gespräche im Lehrerzimmer quer über den langen Tisch. Heute herrschte erwartungsvolle Stille. Es war nicht auszumachen woran das lag. Obwohl er nicht glauben konnte, dass es etwas damit zu tun hatte, was er jetzt wusste, obwohl er nicht glauben konnte, dass es jemanden aus dem Raum überhaupt interessierte, empfand er als ärgerlich, dass er dieses Wissen hatte und dass er von Aaron zum Schweigen verurteilt worden war. Schweigen aus Freundschaft? War das die Lösung?

Er erwartete nicht, dass sich irgendjemand für Aaron interessierte. Er erwartete nicht einmal, dass es sie interessieren würde, läge in Aarons Vermutung ein Fünkchen Gewissheit. Eigentlich erwartete er nichts. Gar nichts. Er setzte sich an den Tisch und harrte darauf, was Direktor Mudrack zu sagen hatte.

In der Tagesordnung standen zwei Punkte: Die Chemieolympiade und das Personalkonzept. Nur Letzteres konnte der Grund des spannenden Lauerns sein. Kein anderer.

Mudrack erschien. In seinem Gefolge Sven Krüger. Mudrack rieb sich wie stets die Hände. Krüger war nicht nervös. Im Gegenteil. Selbstsicher blickte er in die Runde. Selbstgefällig? Das war jene Eigenschaft, die Schrimp nicht ausstehen konnte. Er war gewillt, das ganze Theater um diese Olympiade nicht sehr ernst zu nehmen. Genauso hielt er es auch mit der Mathematikolympiade. Um die wurde ein ebensolches Aufsehen gemacht, während man sich um die Biologieolympiade gar nicht scherte – höchstens dann, wenn die Schule als Sieger hervorging. Dann konnte man sich nicht genug spreizen. Die Arbeit blieb allein dem Fachbereich überlassen. Für Chemie und Mathe standen finanzielle Mittel bereit, aus Fördertöpfen und von Sponsoren. Alle Lehrkräfte hatten sich einzubringen, dafür kämpften die Emporkömmlinge Krüger und Bär, die sonst nichts von Kollegialität hielten.

Mudrack erging sich in ellenlangen Litaneien, die man schon im Schlaf beherrschte und die jedem auf die Nerven gingen. Schrimp wollte sich nicht erregen, nicht innerlich und äußerlich schon gar nicht. Noch waren die Schülervertreter anwesend. Das war nicht nur ihr Recht. Denen gönnte er sogar den Stolz auf ihre Schule als Ausrichter der Landesolympiade.

Schrimp saß gelassen da, beinahe gelangweilt. Es gelang ihm nicht, auf seinem Block herumzukritzeln und gewisse Sehnsüchte in Form von Schiffen oder Düsenjets auf das weiße Blatt Papier zu fabrizieren wie einige seiner Kollegen. Irgendwo hatte er mal gelesen, diese Kritzelei baue Spannung ab. Andererseits könne man aus der Kritzelei lesen wie aus einem Tagebuch.

Maddy Brown zu seiner Rechten kritzelte auch. Es sah komisch aus. Alle ihre kleinen und großen geometrischen Muster entstanden auf der linken Blattseite, während Heiner Bär die rechte Blattseite benutzte, um seine chaotischen Muster zu malen, die nach oben gerichteten Pfeilen glichen. Schrimps Blatt war noch jungfräulich weiß. Ein Zeichen von Mangel an Kreativität? Hatten diese Zeichen tatsächlich eine Bedeutung? In seiner Erinnerung kritzelte Aaron auch immerzu winzige Schiffchen aufs Blatt. War es die Sehnsucht, von hier wegzukommen? Von der Schule? Oder von Hanna? Am Ende der Dienstberatung sollte Schrimp bemerken, dass auch er kleine Muster auf Papier gebracht hatte. Eine sehr gerade Kante vieler kleiner, von Offenheit zeugender Sterne mitten durch das Blatt.

Inzwischen sprach Mudrack schon über die Vorgabe vom Schulamt. Also hatte er die Verteilung der Aufgaben in seinem Grübeln mal wieder überhört. Das war kein Problem. Alljährlich ist er für das Rahmenprogramm zuständig. Auch das beherrschte er im Schlaf, wenn auch jährlich neue Programme erdacht werden mussten. Ihm würde schon was einfallen. Nur eines würde sich nicht ändern. Er selbst wollte die Gastschüler nur zu den Themen begleiten, die für sein Fach relevant waren. So viel Eigennutz durfte sein.

Solange Mudrack über die Personalveränderungen sprach, kritzelte niemand mehr. Zwei Lehrkräfte mit geeignetem sozialen Hintergrund sollten für den Einsatz im Speckgürtel von Berlin benannt werden. Man wusste es aus der Zeitung. Der Wälzungsprozess zwischen den Schulen hatte begonnen, um jene Lehrer weiter beschäftigen zu können, für die lange Anfahrtswege nicht zumutbar waren. Mudracks Rede nahm ebenso kein Ende wie seine Vorschläge nicht Hand und nicht Fuß hatten. Vom allgemeinen Murren ließ er sich wie stets nicht abhalten.

»Meine Vorschläge haben Empfehlungscharakter«, sagte er gerade, als Schrimp mit seinen lautlosen Rückschlüssen zu den Kunstwerken auf den Notizblöcken fertig war. »Ich darf noch einmal daran erinnern: Das ist nicht meine Idee und es ist nicht mein Bestreben. Wer Vorbehalte hat, sollte sie jetzt vorbringen, aber bitte mit konkreten Fakten belegen, die ich bedenkenlos weiterreichen kann.«

Maddy Brown sprach zuerst, ungefragt. Ihre Worte waren ebenso geordnet, wie ihre Muster auf dem Blatt.

»Vorbehalte im rechtlichen Sinne habe ich nicht. Wir sind Staatsdiener und wir haben uns als solche zu verstehen. Der Staat überragt die Mauern dieser Schule, aber diese Schule ist keine gewöhnliche Schule. Wir haben erlebt, was Lehrkräfte fachlich bringen, die bisher ihre Konzentration auf Disziplin und Ordnung im Unterricht verschwenden mussten und wir wissen alle wie es aussieht, wenn nur mal ein Fachlehrer in einer Sektion fehlt. Das kann man nicht ausbügeln. Jedenfalls nicht anspruchsgerecht.«

Schrimp saß ungerührt dabei. Ging er mit falscher Einstellung an die Sache? Nein. Es kümmerte ihn tatsächlich nicht sonderlich. Wenn sie ihn auswählten, er würde gehen. Seine Bedingung war lediglich ein adäquater Ersatz. Es war nicht zu erwarten, dass Ole Fedder jeden Versuch unternehmen würde zu prüfen, ob sein Nachfolger adäquat sei. Schon ärgerte er sich über das Wort, das er zuließ, weil es das meistgebrauchte Wort von Mudrack war, auch wenn Schrimp es nur in Gedanken zuließ. Was man in Gedanken zuließ, war der Anfang vom Übel.

»Nun gut. Zur Sache.« Mudrack kürzte sein Fazit auf das Nötigste. »Frau Heinrich ist Mutter von zwei Kindern. Ihr können wir einen Drei-Stunden-Arbeitsweg ebenso wenig zumuten, wie wir ihr einen Umzug zumuten können. Sie hat ein eigenes Haus. Bliebe in der Sektion Kunsterziehung noch Aaron Barthels.«

Bisher war Schrimp ruhig und uninteressiert. Jetzt spürte er, wie er wütend wurde, wütend genug, um sich selbst damit zu überraschen.

»Wäre es nicht besser, wir würden über jemanden befinden, der anwesend ist? Wir sollten jedem die Möglichkeit geben, seinen Standpunkt zu vertreten.«

»Wir befinden nicht. Wir schlagen vor.«

»Um Namen in den Raum zu stellen, hättest du ein Rundschreiben machen können und jeder kritzelt einen Strich unter jeden Namen, den er für geeignet befindet. Die mit den meisten Strichen kommen in die engere Wahl. Auch so geht Demokratie.«

Es war nicht nur Mudrack, der nach Luft schnappte, es war auch Sven Krüger, der dasaß mit einem Kopf, rot wie eine Rübe und einem Pullover gelb wie eine Zitrone. Er holte tief Luft, ehe er sich wieder wichtig geben konnte.

»Ich bin mir sicher«, sagte er, doch die Atemlosigkeit machte ihn unsicher, »dass wir alle, die wir hier sitzen, Besseres zu tun hätten, als uns deine Witze anzuhören.«

Links neben Krüger der Sportlehrer Franz brummte beinahe unverständlich:

»Also doch keine Demokratie?«

»Wenn es nur pro forma sein sollte, dass wir hier sitzen, können wir auch pro forma eine geheime Abstimmung machen. Ich denke, jeder kennt die sozialen Hintergründe seiner Kollegen.«

»Wenn du dich da mal nicht irrst«, wetterte Schrimp und in diesem Moment tat es ihm sofort leid. Warum hatte er etwas gesagt. Sollten die doch ins offene Messer rennen. Wenn Aaron jetzt krank war, würde er automatisch aus dem Kalkül fallen, oder man benutzt ihn hinterlistig als Karteileiche.

Sein Ausdruck, den er genau wie zuvor nur in Gedanken verwendet hatte, überraschte ihn. Aber diesmal war es ein Stich, den er nicht vermutet hatte. Wie konnte er das Wort Leiche mit Aaron in Verbindung bringen und es nicht als Blödelei verstehen? Früher hätte er es so verstanden und jeder andere hätte es auch als Blödelei verstanden. Jetzt aber hieß früher nicht die Zeit, die er im Schuldienst bereits hinter sich gebracht hatte. Früher betraf in diesem Moment die Zeit vor Aarons Offenbarung.

Aaron würde es nicht treffen, nicht mehr. Dafür musste er gar nicht sorgen. Dafür hatte irgendjemand oder irgendetwas bereits gesorgt. Gründlich. Eine ganz andere Frage quälte ihn und die ließ sich bei aller Gelassenheit nicht überspielen: Wer hätte etwas zu verantworten, wenn Aaron Recht behielt?

Die Beratung hatte sich festgefahren. Es würde heute zu keinem Ergebnis kommen. Irgendwie war Schrimp darüber nicht ärgerlich. Es war ihm egal wie es die anderen sahen. Es war die Sache eines jeden, wie er in das Wochenende ging. Jeder hatte das Recht zu hoffen, das Damoklesschwert gehe an ihm vorbei. Jeder hatte das Recht, seinen sozialen Hintergrund zu erhöhen oder zu vertiefen. Ganz nach Belieben.

Irgendetwas hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Musste er sich jetzt Vorwürfe machen, über Aaron Bescheid zu wissen? Oder konnte er davon ausgehen, dass sich alles fügen würde und Aaron sich zu seiner Krankheit bald offen bekannte?

Er wartete, ließ das ungewisse Schweigen ebenso vergehen, wie das Schwatzen über Himmel und die Welt, das sich stets breitmachte, wenn die Schulleitung untereinander diskutierte, weil sie mal wieder unschlüssig war.

Irene Paulick hob die Zeitung an, die zwischen ihren Papieren versteckt lag und in der sie gerade mit halbherzigem Interesse gelesen hatte, während der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit den Gesprächen galt, die über den Tisch wechselten.

»Der Quentin Heider ist gestorben.«

Warum lesen immer Frauen die Todesanzeigen, dachte Schrimp, doch das dachte er nur für einen winzigen Moment. Dann war er da, der Klick in Ole Fedders Kopf.

Eine halbe Seite mit Todesanzeigen lag offen vor jedermanns Augen. Auf einer großen Anzeige, begrenzt von einer schmalen Abbildung einer trüben Herbstlandschaft in Grautönen, stand nur der Name Quentin. Gleich daneben eine kleinere, schlichte, von Freunden aus dem Planetarium, und diese trug den vollen Namen Quentin Heider. Dieser Quentin war ein kleines Schlitzohr gewesen, pfiffig in Schrimps Augen, großspurig in den Augen von Frau Weber. Sie mochte es nicht, wenn Schüler glaubten, ihr in Sachen Astronomie etwas vormachen zu können. An Quentin Heider erinnerte sich noch jeder hier. Vielleicht seines Namens wegen, vielleicht, weil das mit den ungebügelten Charakteren so ist. Schrimp erinnerte sich auch an Quentin. Ganz genau sogar. Quentin Heider hatte den Bio-Leistungskurs gewählt, um Chemie ganz schnell loszuwerden. Das galt für ihn als sicherste Bank, um sein Abitur überhaupt zu schaffen.

»So jung und schon Krebs«, sagte Frau Weber mit schwacher Stimme.

Ohne Vorwarnung steckte Schrimp nach diesen Worten mitten in einer verrückten Welt, in der es zu leben lohnt und in der doch gestorben wird. Beängstigend war das gleiche Prinzip, das langsam erkennbar wurde. In seiner Brust hämmerte das Herz so heftig, dass er kaum hörte, wie Maltschew, der Informatiker, mehr fragte als feststellte: »Da war doch diese brünette Frau damals, die Kunsterzieherin. Wie hieß die noch?«

»Meinst du die, deren Busen dauernd eigene Wege ging?« Das beißende Glucksen kam von Heiner Bär. Schrimp klappte den Deckel seines Blockes zurück und hörte, wie Bär zu Maltschew raunte: »Das war doch die, die andauernd zu Barthels auf die Liege im Musikkabinett musste, weil ihr schlecht war?«

»Genau, die war das.«

»Gerber hieß die«, wusste Maddy Brown. »Die war in der Tat mehr krank als gesund. Kein Wunder, dass die so rasch vergessen ist.«

»Die ist, soviel ich weiß, im vorigen Jahr verstorben. Blutkrebs«, sagte Irene Paulick wie nebenbei.

Maltschew staunte und in Schrimp drückte eine ganz bestimmte Erinnerung. Das Los dieser Frau Gerber interessierte hier niemanden so sehr, wie die Selbstdarstellung von Heiner Bär.

»Was lernt uns das?«

»Was lehrt uns das. Herr Bär!«, berichtigte Maddy Brown.

»Schon mal was von Idiom gehört, Fräulein Brown?«

Schrimp pfiff leise durch die Zähne, ehe er sagte: »Gerade jetzt, aber hinten mit scharfem T.«

Wenn es jemanden an dieser Schule gab, der trockenen Humor pflegte, dann war es Ole Fedder. Doch für dieses hirnlose Geplänkel hatte er gar keine Lust. Unvermittelt stieg die Erinnerung an Aarons Worte auf und irgendwie hatten die sogar etwas mit dieser Frau Gerber zu tun. Er wusste nicht mehr genau was es war. Er wusste nur, dass Aaron ihm einmal etwas über diese Frau erzählt hatte. Sicherlich nichts Weltbewegendes, sonst würde er es noch wissen, sein Gedächtnis war noch intakt, so intakt, dass ihm in diesem Moment eines sehr klar wurde: Diese Individualisten um ihn herum könnten nie gemeinsam ein großes Problem lösen, so wie sie selbst es bei Teamarbeit von den Schülern verlangten.

Als wäre er aus einem Wachtraum gefallen, polterte er los: »Ihr könnt es nehmen, wie ihr wollt. Ich sage euch jetzt was. Das sind keine Zufälle mehr. Erst diese Gerber, jetzt der Quentin und dann noch Sebastian Hamm und Aaron Barthels ...«

»Aaron? Schlechter Scherz, Ole. Über eingebildete Kranke schrieb schon ein gewisser Molière seine Posse.“

Woher nahm Sven Krüger diese Unverfrorenheit? Manchmal vergaß Ole Fedder sein aufgeräumtes Gemüt. Es reizte ihn ungemein, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

»Immer noch besser, als aus der eigenen Dummheit eine Posse zu machen.«

»Wo ist das Problem, Ole?«, polterte Direktor Mudracks Stimme.

»Das Problem ist diese Schule. Hier tickt eine Zeitbombe.«

»Es reicht, wenn Kollege Barthels diese Schule diffamiert. Beinahe jeder hier weiß, dass er nicht mehr sehr arbeitswillig ist. Vielleicht sollten wir ihn in die Frühpensionierung schicken.«

»Aaron diffamiert diese Schule?«

»Du solltest nicht in sein Horn blasen, auch wenn ihr die dicksten Freunde seid …«

»Soll das heißen, auch ich diffamiere diese Schule? Ich diffamiere nicht die Schule und niemanden hier. Ich werde mich aber informieren. Und zwar gründlich, zum Zwecke der Abwehr möglicher Schäden Schutzbefohlener. Das ist zwar nicht meine originäre Aufgabe, aber …«

Mudrack fiel ihm ins Wort: »Ach. Da fällt mir die Sache mit deiner originären Aufgabe ein. Es gab massive Beschwerden wegen dieser Ambrosia-Pflanze. Darüber wird noch zu reden sein.«

»Okay. Diese eine massive Beschwerde kenne ich bereits, aber wenn du meinst, Herr Direktor, reden wir auch darüber. Meinetwegen sofort.« Schrimp erhob sich so spontan, dass sein Stuhl nach hinten kippte, was einem Wutanfall gleichkam. Quer durch die Mithörenden ging ein hämisches Grinsen, das von Mudracks befehlendem Ton abrupt unterbunden wurde.

»Nach der Olympiade! Jetzt habe ich weiß Gott andere Sorgen.«

Schrimps überstürzter Aufbruch riss ein paar der Kollegen mit. Und das war das einzig Gemeinsame an diesem Tag und es verlief anders als gewöhnlich.

GIFT geschädigt

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