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Das junge Leben und Ben

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Wie froh war sie, überhaupt einen Freund gefunden zu haben. Irgendwann – als sie sechzehn oder siebzehn war – glaubte sie, kein Junge mochte sie. Mia Anderson hatte zu dieser Zeit schon erste sexuelle Erfahrungen, aber was sie davon erzählte, hat Nelli – damals Nelli Pohl - eher erschreckt.

Sie hatte noch keine Erfahrungen mit Jungs – keine körperlichen. Sie ist nicht das Schönheitsideal. Ihr rötliches Haar stört sie seit der ersten schmerzlichen Erfahrung ihres Lebens im Kindergarten, und die hat sie unsicher gemacht.

Gulu Ülkan war ganz nah an sie herangetreten, so nah, dass Frau Sommerscheid, ihre Erzieherin, kein Wort hätte verstehen können. Eigentlich hatte Gulu seine Lippen gar nicht bewegt, aber Nelli hörte jedes Wort so deutlich, als hätte er es durch ein Megaphon gebrüllt.

»Heute rot, morgen tot. Hau ab, rotes Tuch, roter Hexenkopf…«

Im ersten Moment war Nelli so tief erschüttert, dass sie kein Wort sagen konnte. Sie wartete nur darauf, dass endlich ihr Papa kam und sie in seine schützenden Arme nahm, wie er es immer tat. Zum Glück. Noch nie hatte ihr Papa so an ihr herumgezerrt, wie es Gulus Vater tat, wenn er seinen Sohn ausnahmsweise einmal abholen kam. Diesen bärtigen Mann mit der nuschelnden Stimme nervte es offensichtlich, Weiberkram erledigen zu müssen.

Für einen Moment war die Angst vor Gulu gebrochen, bis dieser Junge mit den pechschwarzen Haaren und seinem alles erfassenden Rundumblick sah, wie ihr rothaariger, sommersprossiger Vater den Raum betrat. Ein einziger Blick in Gulus Augen verriet Nelli, was er dachte und was er in Zukunft noch öfter zu ihr sagen würde, was er womöglich sogar mit ihr tun würde…

Was macht man mit einer Hexe?

Natürlich war ihr klar, dass er sie in keinen Backofen stoßen würde, aber es gab nicht minder schlimme Aussichten, die der boshafte Blick von Gulu vermuten ließ. Von diesem Moment an war Nellis unerschütterliche Liebe zu ihrem Vater überschattet von tiefer Verzweiflung. Umso mehr genoss sie seine schützenden Hände, wenn sie auf ihrer Schulter ruhten, als lege sich ein Tarnmantel um die kleine, ängstliche Gestalt. Diese Hände… Niemals wird sie diese Hände vergessen.

Sie konnte es weder ihrer Mutter noch ihrem Vater sagen, warum sie seither nicht mehr gerne in den Kindergarten ging. Allzu oft spielte sie irgendeine Krankheit vor. Sie hatte schnell gelernt, wann auch Erwachsene nicht so leicht erkennen konnten, ob man Schmerzen hatte oder nicht. Mama ahnte bald etwas und wollte der Sache auf den Grund gehen.

»Was ist wirklich los, Nelli. Liebling, du musst es uns erzählen, sonst können wir dir nicht helfen.«

Heute glaubt Nelli, ihre Eltern hatten gute Gründe, besorgt zu sein … Sie wusste damals nichts vom bösen Mann, der kleine Kinder einschüchtert, um schrecklicheres mit ihnen zu tun, als es Gulu Ülkan je könnte. Sie dachte, wenn sie jemandem ihre Sorge über Gulus Worte verrät, würde Papa sie nicht mehr lieben. Die Liebe ihrer Eltern war für Nelli das Wichtigste im Leben. Also blieb sie konsequent:

»Nichts …Es ist nichts. Ich habe nur immer Kopfweh.«

Eine Zeit lang forschten die Eltern nach, ob diese Einrichtung, die noch aus dem sozialistischen Sozialbauprogramm stammte, von irgendwelchen Schadstoffen belastet war. Vergebens.

Niemand hatte später bemerkt – auch Frau Sommerscheid nicht – dass Nellis Beschwerden schlagartig endeten, als Gulu nicht mehr kam. Wo er abgeblieben war, wusste Nelli nicht und es interessierte sie auch nicht. Nur mit ihrem »Makel« des roten Haares konnte sie nie mehr glücklich sein. Auch jetzt nicht, wo alle Welt von der Schönheit ihrer »Tönung« spricht. Zumeist glaubt sie an zwei Dinge: Trost oder Spott. Beides macht sie nicht gerade selbstsicherer.

Sie hätte auch lieber eine makellose Haut, anstatt mit so vielen Sommersprossen besprenkelt zu sein. Da kann Mia noch so oft palavern, wie süß die wären und wie menschlich sie diese kleinen Tupfer machten. Was sollte das? An der Vererbung kann sie nicht drehen. Ihr Vater war ein herzensguter Mann, aber er hat ihr vermutlich alles vererbt, was es an weniger guten Eigenschaften gab – wobei Nelli natürlich weiß, dass rotes Haar und Sommersprossen mit menschlichen Eigenschaften so viel zu tun haben, wie ein Chamäleon mit einem Kamel. Alles zusammen und dazu die fehlenden Modelmaße - was sie erst später im Vergleich zu Mia erkannte – haben sie letztlich kleinlaut gemacht. Ben hatte Recht, schüchtern ist sie immer gewesen. Womöglich hätte sie in ihrer Introvertiertheit vom wahren Leben nur halb so viel mitbekommen, wäre nicht die überaus hübsche Mia Anderson seit Kindesbeinen ihre beste Freundin. Warum das so ist, konnte sich Nelli nie recht erklären. Mia meinte später, sie wäre auf jemand angewiesen gewesen, als sie kurz vor der Einschulung mit ihren Eltern aus Schweden nach Deutschland kam, wo ihr Vater einen Betrieb für Windkraftanlagen zu leiten hatte.

In der Tat hatte das blonde, zarte Mädchen zuerst eine komische Aussprache. Bei jedem Satz sah es aus, als würde sich die Zunge im Mund einmal herumdrehen – aber das legte sich bald. Heute ist Mia der taffste Mensch, den Nelli kennt, und zugleich das hübscheste Geschöpf. Sie könnte jeden Mann haben, den sie will. Aber sie will nicht. Nicht fest, jedenfalls. Warum das so ist, habe sie spätestens die Beziehung zwischen Nelli und Ben Winter gelehrt. Nellis Mutter Norma gab Mia sogar Recht…

Nelli Pohl war an diesem denkwürdigen Tag einundzwanzig Jahre alt geworden. Ihren Geburtstag feierte sie – nein, sie weiß, dass man dazu nicht feiern sagen konnte. Sie beging ihn mit Mia und einem fremden Typen, weil der im Moment an Mia klebte. Alle Kerle klebten an Mia, bis sie ihnen brüsk ins Gesicht sagte, dass ihr Klammern nervte. Sie saßen zu dritt in diesem Disco-Schuppen bei schummrigem Licht, das hin und wieder von den Lichtblitzen unterbrochen wurde, die vom DJ-Pult kamen. Bei diesem Licht fühlte sich Nelli irgendwie geborgen und konnte mit den anderen herzlich lachen. Seit einiger Zeit beobachteten sie einen Kerl, der sich an tanzfreudige Mädchen machte, ohne nennenswerte Erfolge zu haben. Witzigerweise setzte er sich später ungefragt auf den freien Stuhl an ihren Tisch. Zum Tanz forderte er keine von ihnen auf. Längst hatte er mitbekommen, dass Mia für diesen Abend vergeben war. An einem sommersprossigen, schüchternen Rotschopf wie Nelli Pohl, war kaum ein Kerl interessiert. Mia redete ihr zwar immer wieder ein, es sei weder das Haar, noch die süßen Sprenkel. Sie solle mehr lachen und aus sich herausgehen, aber das kam ihr aufdringlich vor.

»Wenn ich den so weit kriege, mit dir zu tanzen, versprich mir, dass du locker bleibst«, raunte Mia, was Nelli zu heftigem Kopfschütteln veranlasste.

Nach dem ersten, bald merkwürdig innigen Tanz mit Ben Winter – so viel Anstand hatte er, wenigstens auf ihre Frage zu antworten, wenn er sich schon nicht von selbst vorstellte – gab Mia eindeutige Zeichen.

»Brenn΄ bloß nicht mit dem durch…«

Ob es eine Warnung war, ob Mia selbst auf den ganz passabel aussehenden Mann spekulierte, oder ob Mia nur nicht mit dem neuen Lover alleine nach Hause gehen wollte, blieb Nelli bis in alle Ewigkeit unklar.

Ein halbes Jahr lang lebte Nelli auf Wolke sieben. Ben entpuppte sich als wachsweicher Mensch aber glasharter Liebhaber. Bei ihm lernte sie kennen, was Liebe und Hingabe mit einer Frau machen können.

Sie heirateten schon ein paar Monate später, mehr auf Bens Drängen als auf Nellis Wollen. Ben war damals 29 Jahre alt. Seine Eltern waren ein halbes Jahr zuvor für den Rest ihres Lebens auf die kanarischen Inseln ausgewandert, lebten dort von ihrer Rente und dem Ersparten in einer Finca in den Bergen und überließen Ben das schmale Reihenhaus mit kleinem Innenhof und sich anschließendem Garten. Schon seine Eltern hatten es von deren Eltern geerbt. Ben lebte bis zur Ausreise seiner Eltern noch bei Mama, wurde von ihr verwöhnt aber vom Vater dafür gescholten.

Nelli spürte von Anfang an, dass sie nicht Bens Traumfrau war, aber er brauchte endlich Ordnung in seinem Leben, und die konnte nur eine Frau für ihn schaffen.

Im ersten Jahr ging es sehr gut zwischen ihr und Ben. Er gab sich äußerst begehrlich, was Nelli als große Liebe verstand. Sie liebte ihn dafür von Herzen, dennoch wurden sie nicht glücklich miteinander.

Das Leben, das sie beide bald führten, stürzte Nelli beinahe in eine Sinnkrise, die nur mit angeborenem Gleichmut zu beherrschen war. Ben wurde zwar seiner Rolle als Liebhaber noch immer mehr als gerecht, nicht aber als Verantwortungsträger für das gemeinsame Leben. Das Grundstück, das Haus und zu allem Überfluss hatte Ben auch noch Tauben und Hühner angeschafft, versorgte Nelli neben ihrer Arbeit fast völlig allein. Ben war selten daheim. Zwar arbeitete er viel – wie er beteuerte - und er hatte seinen Sport, aber mit der Liebe klappte es zwischen ihnen, wenn auch manchmal erschreckend ausufernd – leider außerhalb des Bettes sofort erlahmend. Bei genauem Überlegen allerdings war Bens Liebe merkwürdig uniform in den Abläufen.

Nie hätte sie gedacht, dass sich ihr gleichförmiges Leben so rasant ändern würde, dass sich ihr begieriger Mann bald auch für andere Frauen interessierte. Als es ihr endlich klar wurde, war es zu spät.

Bald nach der Hochzeit war sie schwanger, aber sie verlor das Kind durch eine Krankheit, die als erblich deklariert wurde, aber wenig erforscht war.

Seit dieser Zeit begann – und es zog sich hin bis zuletzt – ihr Martyrium. Ben machte sie für den Tod des Kindes verantwortlich. Vermutlich weil es ein Junge war. Sogar beim Sex demütigte er sie damit, keine richtige Frau zu sein und überhaupt, er hätte es wissen müssen, so verklemmt wie sie sei. Wie habe er den Notnagel für eine spielen können, die womöglich nie einen Kerl abgekriegt hätte. Noch schlimmer waren seine schmerzlichen Beleidigungen: Vielleicht war es gut so. Wie hätte das Kind einmal ausgesehen? Wie seine Mutter? Ein rothaariger Junge mit Sommersprossen – na klasse!

Das Schlimme war, er schien Recht zu haben, auch wenn Mia einmal sagte: Der Kerl ist dich nicht wert. Und sie mache sich seit langem Vorwürfe, ihn damals zum Tanzen ermuntert zu haben.

Irgendwann schmiss Ben schließlich Mia raus und verbot ihnen – mit noch drastischeren Mitteln auch Nelli – den Umgang miteinander.

Nelli bemühte sich fortan auf eine friedliche Art mit Ben auszukommen. Sie liebte ihn so, wie sie ihn die erste Zeit nach dem Kennenlernen geliebt hatte und sie glaubte fest daran, diese Zeit kommt wieder.

Nervös wurde sie erst, als sie bald danach wieder schwanger war. Es war ein so strahlender Sommertag, als es ihr klar wurde, aber Nelli Winter fiel in dunkle Betrübnis. Sie konnte es ihm nicht sagen. Nach zwei Monaten fiel ihm etwas auf. Ben hatte sein Frühstück verschlungen, leckte über seine Lippen und verabschiedete sich auf seine Weise. Er nahm die Tasche, die sie ihm sorgfältig gepackt hatte, wie er es erwartete und wie es seine Mutter vermutlich bis zuletzt getan hatte. Er führte eine Hand an die Stirn und ging grußlos. Erst von der Tür aus musterte er sie schräg und murmelte etwas wie, sie sehe miserabel aus und zugelegt habe sie auch schon wieder. Nach Besorgnis klang das nicht…

Den Rest klammert Nelli aus all den Betrachtungen über ihre Ehe stets aus. Nur auf Drängen von Mia hatte sie spärlich davon erzählt, wie Ben sie zu schlagen begonnen hat, wie er ständig betrunken war und wie er sie zu perverser Befriedigung zwang, als sie kurz vor der Entbindung stand. Noch vor dem errechneten Termin der Niederkunft nahm sie die Klinik auf Station. Am Vorabend hatte sie Ben mit einer anderen Frau erwischt. Ihren Namen hatte Nelli nicht verstanden, aber sie erinnerte sich später an den Satz, den die Vollbusige lächelnd von sich gab, als Nelli sie wütend aus der Wohnung schmiss: »So ist das Leben, Süße. Soll er sich sein Zeug wochenlang durch die Rippen schwitzen?«

Zum ersten Mal wusste Nelli, dass sie etwas ändern musste. Egal, was das Schicksal für sie bereithielt, sie konnte das, was den Namen Ehe nicht verdiente, nicht länger aufrechthalten.

Das zweite Kind hat sie wenigstens ein paar Tage lang sehen und berühren können, auch wenn es keine Chance hatte, in diesem Leben zu bestehen. Dieses Unvermögen war wohl das Erbe, das sie mit ihrem Kind teilte. Von einem tödlichen Erbe allerdings, das sie in sich tragen könnte, wusste sie gottlob nichts.

Der erste kleine Junge hatte noch keinen Namen, als er zu den Sternenkindern fuhr. Den zweiten hatte sie dann Chris genannt, wie das Christkind, das ein Geschenk Gottes war. Aber Chris konnte kein Geschenk Gottes gewesen sein. Er war ein Mondkind, was man bei der Geburt nicht erkannt hatte. Sein erster Kontakt mit dem Sonnenlicht hatte sofort eine Mutation ausgelöst und alle Vorkehrungen kamen zu spät.

Die Scheidung von Ben Winter ging gut für Nelli aus. Das hatte sie Mias Mutter Inga zu verdanken, die eine angesehene Rechtsanwältin ist. Und irgendwie hatten die Mütter - Nellis Mama Norma und Mias Mom Inga - mit ihren zufällig dahingeworfenen Sätzen etwas in Nelli bewirkt, was ihr noch einmal zu einem Glück verhelfen könnte.

»Du solltest wissen, ob du diesen Erbfehler in dir trägst…«, waren die Worte von Inga. Mama Norma hält nichts von Objektivität. Ihre Familie ist ihr über alles heilig.

»In unserer Linie gibt es kein solches Syndrom…«

Vor dem Glück

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