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Gewissheit

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Nelli fühlte sich in der Zeit danach, als folge sie einer Serie im Fernsehen, bei der der Held tat, was gegen seinen tiefen Willen, nicht gegen seine Vernunft sprach. Ihr war, als konzentrierte sie sich nur noch auf den Ausgang des Geschehens, das nichts mit ihr zu tun hatte, das fesselnd war und zugleich Angst machte. Ihr Wille hätte Bens Liebe zurückerobern wollen, die vermutlich nur am doppelten Schicksalsschlag zerbrochen war. Ihre Vernunft sagte ihr, dass sie bei aller Liebe nicht den Märtyrer spielen musste.

Letzten Endes hatte ihr über dreijähriges Single-Leben nicht gerade etwas Prickelndes. Seit dem Tod ihres Vaters hatte Nelli ihre Mama Norma oft besucht. Zuerst eher heimlich, weil Ben es nicht mochte. Nach der Scheidung wieder bei Mama einzuziehen, wäre dennoch ein fatales Signal an ihr Selbstvertrauen. Ihren Alptraum würde sie auch dort nicht loswerden. Jede Nacht erscheint ihr das Kind, das niemand retten konnte. Ein Psychotherapeut, den Mia ihr empfohlen hatte, sprach davon, dass sie nur durch ein gesundes Kind von ihrem Schuldgefühl erlöst, zumindest abgelenkt werden könne.

Bisweilen – an Tagen, an denen auch Mia anderes vorhatte – versuchte sie sich von ihrem Traum abzulenken. Sie kochte etwas Schönes nur für sich. Auch deckte sie den Tisch mit all dem schmückenden Zusatz, wie sie es für ein Essen mit Ben getan hatte. Ben hatte ebenso wenig ein Auge dafür, wie ihr neuer, unsichtbarer Tischgast. Nur das Danach fiel gänzlich weg. Es fehlte ihr aber irgendwie doch nicht, schließlich waren seine pseudoästhetischen Sexmethoden für Nelli nicht immer ein Grund zur Freude. Zu selbstvergessen hatte Ben stets sein Recht gefordert, zu egoistisch nur auf seinen Körper gehört. Ihre Seele war ohnehin für ihn keiner Überlegung wert. Wenn sie sich ihm gänzlich versagen musste - was aus hormonellen Gründen nicht regelbar war und was dem Sinn jeder Vereinigung diente – verschwand Ben geknickt, kam tief in der Nacht oder erst morgens entspannt zurück und das Spiel ging tags darauf von Neuem los.

Die Erfahrung mit der Ehe hatte Nelli gelehrt, künftig besser zu prüfen, was sie tat, bevor sie einen Schritt ging. Anders sah es mit ihrem Gefühl für die verlorenen Kinder aus. Bisweilen, wenn sie an jene Stellen ging, wo die Stadt die Ruheplätze für die Sternenkinder – und für das einzige Mondkind - geschaffen hatte, fühlte sie sich als so schlechte Mutter, dass sie alle Achtung vor sich selbst verlor, dass sie mit feuchten Augen nach Hause schlich und für Stunden weder die Tür öffnete noch das Telefon ernstnahm. Wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte, sie würde alles versuchen, ihr Kind zu retten. Sie würde ihr ganzes Vermögen für diesen notwendigen Raumanzug ausgeben, den solch ein Kind für immer tagen muss. Sie würde nächtelang mit ihrem Kind herumspazieren, damit es die Welt da draußen kennenlernen könnte. Sie würde ihre Arbeit aufgeben und ihrem Kind all die Liebe und Fürsorge schenken, die in ihr steckte.

Nun hatte das Leben entschieden und das entschied mitunter rigoros und unumkehrbar. Nie wieder würde sie das Mutterglück erleben, das höchste Glück, das eine Frau haben kann. Daran reichte all das Kribbeln im Bauch nicht heran, das ein Verliebtsein mit sich brachte. Sogar ihre Höhenflüge tiefer Zuneigung wurden vom kurz erlebten Mutterglück in den Schatten gestellt.

Dein Kind bleibt dein Kind, auch wenn es etwas fordert, was dir nicht behagt. Du tust es dennoch mit der Gewissheit, dem Liebsten, was du hast, das Nest zu polstern.

Dieses Glück war erschreckend kurz für Nelli Winter. Noch erschreckender aber war, dass sie es nie wieder in ihrem Leben würde erfahren können. Noch einmal wollte sie die Enttäuschung einer Ehe, die Kränkung, ausgenutzt und ungeliebt zu sein, nicht erleben. Da blieb sie lieber allein.

»Ich wäre so gerne Mutter geblieben «, sagte sie unter Tränen.

»Ja, das kann ich verstehen. Du wärst eine gute, wenn auch selbstaufgebende Mutter!« Mia hätte sich genervt abwenden können, aber sie versuchte, ihre Freundin zu verstehen, und das dankte Nelli ihr, obwohl ihre Tränen dem verlorenen Glück galten.

»Diesen Wunsch werde ich mir niemals mehr erfüllen können…«

Sie spürte es mehr, als sie es durch den Tränenschleier sehen konnte; das schöne Gesicht neben ihr wurde noch sanfter, noch schmeichelnder. Mia nahm Nelli beim Kopf, zog ihn an sich und drückte ihre weichen Lippen gegen die erregte Stirn.

»Doch, das wirst du… Das wirst du, ganz bestimmt!«

Fest umarmt saßen sie eine Weile wie zwei Liebende, jeder mit einem anderen Gefühl. Nelli spürte die Geborgenheit, die sie sich von Ben gewünscht, aber nie bekommen hatte. Mias Gefühl war unergründlich.

Zum ersten Mal nach all der aufregenden Zeit war sie danach ein wenig zu sich gekommen. Nicht zum Entspannen, das würde sie wohl lange nicht können. Was sie in die Kissen ihrer Couch drückte, war eine Art Erschöpfung, eine tiefe Kraftlosigkeit, die sie stets im Leben nach Zuneigung lechzen ließ, nach einer streichelnden Hand, nach tiefer inniger Liebe ohne ekstatische Vereinigung. Nur das Herz sollte sprechen – ohne Worte und ohne Überrumpelung.

Am nächsten Abend nach dem Dienst war Mia wieder gekommen und sie hatte erneut so etwas wie eine innige Zuneigung gespürt, wenn auch anders als am Tag zuvor, aber tief und ehrlich. Geredet haben sie und Nelli war klar geworden, dass Mia nur ihr Herz sprechen ließ, auch wenn es Nellis Herz noch gar nicht erreichte, eher erschreckte:

»Ich glaube nicht, dass du dich nach Liebe sehnst. Du hast viel zu viel Angst, wieder enttäuscht zu werden. Wenn du ehrlich mit dir bist, brauchst du nur jemanden, dem du Liebe geben kannst… Zum Glück verschwendest du sie nicht länger an dieses Arschloch… Entschuldige Nelli.«

Sie schrak heftig zusammen. Mia mochte Recht haben, aber sie war ein anderes Kaliber Mensch. Sie würde niemals einem Typen hinterher trauern, der sie so behandelt hatte, wie Ben sie behandelt hatte. Ganz zu schweigen, dass sie sich aus Kummer um eine zerbrochene Liebe verzehren würde. Manchmal fragte sie sich, ob Mia überhaupt lieben konnte – richtig, so aus vollem Herzen.

Später, als Mia gegangen war, wusste sie, dass ihre Freundin in allem Recht hatte. Ja, auch Liebe zu geben macht glücklich, wenn sie der Nehmende bedarf. Ihr allererster Impuls war, aufzuspringen und Mia zurückzuholen. Womöglich hat sie in Rätseln gesprochen, weil sie selbst einer bestimmten Liebe bedurfte? Nelli Winters. Hatte sie darüber schon einmal ernsthaft nachgedacht? Immerhin hielt es ihre wunderschöne Freundin mit keinem Kerl lange aus.

Noch während Nelli überlegte, warum sie all die Anzeichen übersehen haben könnte, wusste sie, dass die Liebe zu einer Frau die zu einem Kinde nie würde ersetzen können. Ihr Leben war damit in einem Gleis, das keine Weiche kannte.

Der Weichensteller war letztlich und einigermaßen überraschend Mia Andersson. Zwar hatte Nelli längst über die dahingeworfenen Sätze der beiden Mütter nachgedacht. Nur weil sie beide ganz unabhängig voneinander Gleiches im Sinn hatten, war sie gewillt, darüber nachzudenken.

Es gab die Möglichkeit, genetisch zu erforschen, wer der Erbträger der tödlichen Anlage war. Viel Sinn, das zu wissen, maß Nelli dem Labortest nicht bei. Was sollte sie mit diesem teuren Verfahren jetzt noch? Ihre Kinder machte es nicht wieder lebendig und ihrem heimlichen Gedanken an eine Adoption nützte dieser Test herzlich wenig. Zudem half alles Wissen nichts mehr. Ihre Ehe war zerbrochen und ein zweites Mal wollte sie nicht so enttäuscht werden. Mutter hingegen wäre sie gerne geblieben. In ihr steckt so viel Liebe, die sie schenken könnte, was ihr der Schöpfer versagt hatte. Wenn dieser imaginäre Alleskönner ihr diesen Streich gespielt hatte, verdiente er es, hintergangen zu werden. Eine Adoption wurde immer wahrscheinlicher. Dennoch bestand ihre Mutter Norma darauf, Nelli solle sich Gewissheit verschaffen. Für die Kosten würde sie aufkommen. Das sei sie ihrer Linie schuldig

In ihrer Lethargie wäre ihr ein logischer Gedanke niemals von selbst gekommen. Nicht einmal, als sie nach Monaten endlich zur Ruhe gekommen war. Erst als ihre Trauer verblasst war und ihre Sommersprossen wieder im natürlichen Sommerteint verschwammen, sah sie die Dinge nüchtern: Die Wunden würden verheilen, langsam aber stetig etwas mehr. Vielleicht war es gut so. Vielleicht wäre ihr Leben mit Ben Winter für immer und ewig eine Tortur geblieben, wie zuletzt. Und Mia hatte Recht. Vermutlich hätte sie sich nie wirklich von ihm getrennt.

Die beste Idee aber hatte ihre Freundin an einem Sonntagmorgen, an dem sich Mia entschieden hatte, Nelli spontan zum Frühstück einzuladen. Warum so spontan, war ihr erst viel später klar geworden.

»Sieh doch die Sache mal realistisch. Wenn der Erbfehler nicht in dir liegt, könntest du wieder Mutter werden, und sei es durch eine Samenspende…«

Nelli antwortete nicht, biss in ihr Honigbrötchen und lauschte dem Ticken der alten Wanduhr. Es lag ein Gefühl von tiefem Frieden in Mias Küche, den sie mit keinem Wort zerstören wollte. Mia wusste zu gut, dass Nelli nie wieder heiraten wollte, aber die letzte Überlegung stand bisher niemals zur Debatte. Dabei war es die beste, die es für Nelli und ihre Erwartung ans Leben geben konnte, würde sie nicht so viel Geld verschlingen, das Nelli im Moment nicht aufbringen konnte. Außerdem brauchte Nelli Winter in der Tat erst Gewissheit über sich selbst.

Wochen später hatte sie die vage Erklärung eines Arztes: Der Gendefekt sei rezessiv über den Vater auf das Kind übertragen worden. Auch sagte er, dass ein Mädchen den Mangel mit seinen zwei X-Chromosomen wahrscheinlich ausgeglichen hätte. Jungen mit nur einem X-Chromosom gelinge das nicht oder seltener.

Vor dem Glück

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