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Die Tücken der Realität

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So einfach, wie sich Mia die Sache vorgestellt hatte, war sie dann doch nicht. Die Aussichten für eine alleinstehende Frau standen denkbar schlecht.

Nelli hatte durch Mias Idee gerade wieder neuen Mut geschöpft, doch noch Mutter werden zu können, aber nicht einmal eine Adoption war für eine ledige Frau möglich.

Sie hatte den Gedanken an das, was kurze Zeit für möglich erschien, wieder weggeschoben. Es war müßig, länger an einer Utopie festzuhalten. Außer Frust konnte das nicht bringen.

Nach einer langen, schlaflosen Nacht war Nelli Winter zu der Überlegung gelangt, dass sie Mia zu Unrecht verdächtigt hat. Der Anruf ihrer Freundin am frühen Morgen versprach, dass sie etwas aufgestöbert hatte, was sie ihr in der Mittagspause unbedingt zeigen müsse.

Eigentlich wollte sie nichts dergleichen mehr zulassen. Ihr junges Leben der letzten Jahre war von Abhängigkeit überzogen. Kein Wunder, dass sie ständig das Gefühl hatte, mit allem gescheitert zu sein. Nur langsam wuchs die Gewissheit: Wenn wirklich jemand gescheitert war, dann waren es die Menschen, die für sie bestimmt hatten, was zu tun war. In erster Linie Ben. Sollte es nun Mia werden?

Sie hatte gehofft, Ben würde sie immer beschützen und er würde das Leben mit ihr meistern, nicht gegen sie. Als sie endlich Klarheit mit sich selbst hatte, kam wieder Mia ins Spiel. Hätte sie selbst entscheiden können, wäre sie einfach nur gegangen, ohne Scheidung und das ganze peinliche Prozedere. Dass Mias Mama Inga Andersson es gut für sie ausgehen ließ, konnte sie nicht voraussehen. Im Nachhinein begriff sie schließlich, dass diese konsequente Trennung nur allzu berechtigt war. Jetzt, wo sie wusste, dass Ben mit dieser anderen Frau noch weniger klarkam, das hieß, diese Frau mit ihm, konnte sie sich gar nicht darüber freuen. Aber sie erkannt für sich: Sie war endlich frei genug, sich einzugestehen, dass er kein Mann fürs Leben war, vielleicht nie sein würde. Er war ein verwöhntes Muttersöhnchen, das womöglich neunundzwanzig Jahre lang im Hotel Mama inzwischen sogar seinen Erzeugern zu viel wurde, weshalb sie ihn mit ihrer »Flucht« zur Selbstständigkeit zwangen.

Das Café »Milch & Zucker« war Nelli nicht allzu vertraut. Hierhin aber hatte sie Mia bestellt, weil sie die folgenden Abende mit ihrem Ensemble unterwegs sein würde, wie sie sagte. Ihr unbändiger Hang zu tanzen hatte sie zu einer kleinen Gruppe junger Frauen gebracht, die sehr moderne Tänze einstudierten. Ihre Auftritts-Hochzeit war alljährlich um den Karneval herum. Einmal hatte Mia Nelli regelrecht zu einer Probe mitgeschleift. Seitdem findet sie Mia noch attraktiver und sich selbst noch unscheinbarer. Aber auch all die langbeinigen Mädchen und deren Beweglichkeit flößten Nelli Respekt ein.

Sie trafen sich schon vor der Tür. Mia völlig außer Atem, Nellis Verstand arbeitete im Leerlauf. Dennoch bemerkte sie, wie sie zu frösteln begann.

Bisher hatte es für sie nie einen Grund gegeben, in dieses Café zu gehen, das allzu nah an Bens Zuhause lag, was auch eine unglückliche Zeit lang ihr Zuhause war. Später hatte sie die Gegend bewusst gemieden. Und jetzt musste sie ausgerechnet mit Mia hier sein und sich die nächste unvergoren Idee anhören?

Nelli versuchte in Mias Augen zu lesen, um gewappnet zu sein. Sie konnte nicht direkt ausmachen, was in ihrer Freundin vorging, aber ihr Blick sah zweifellos sehr mild, sehr mitfühlend aus.

Nachdem sich die Kellnerin wieder entfernt hatte, legte Mia – für Nellis Geschmack allzu vorsichtig – einen Zeitungsartikel zwischen beide Gedecke. Der Wirkung ihrer leisen Worte konnte sich Nelli nicht erwehren.

»Schwangerschaft durch Samenspende geht auch bei unverheirateten Partnern, also auch bei gleichgeschlechtlichen.«

Hinter Mias Worten witterte Nelli ein Lauern, ein starkes Interesse auf ihre Reaktion. Sie hatte gemeint, von einer zur anderen Sekunde keine Luft zu bekommen. Das also soll Mias Plan sein: Von hinten durch die Brust? Vielleicht war Mias Ansinnen schlimmer, als alles, was sie bisher durchmachen musste. Hatte Mia an all den Männern kein Interesse, weil sie auf Frauen stand? War sie – Nelli – für Mia begehrenswert? Aber warum? Selbst als Lesbe würde Mia eine andere Frau als sie bekommen können. Zudem war ihr der Gedanke schlicht absurd. Mia als beste Freundin war der Glücksumstand ihres Lebens. Mia als gleichgeschlechtliche Partnerin war für Nellis Verständnis einfach absurd. Und genau das sagte sie Mia auf den Kopf zu. Endlich hatte sie den Mut für klare Worte.

Einen Moment lang konnte sie Mias Gesichtszüge sehen. Ihre Augen wurden größer, ihre Mundwinkel zuckten. Nervös? Oder aggressiv? Enttäuscht!

Jetzt könnte es zum ersten Mal während den vielen Jahren ihrer Freundschaft unangenehm werden, wenn nicht sogar zum gänzlichen Bruch kommen.

»Oooch Nelli!«, bringt der rosige Mund heraus.

Mias Enttäuschung zu sehen, bereitete Nelli beinahe körperliche Schmerzen, dennoch stand ihr Entschluss fest: Nie wieder tun, was gegen die eigenen Interessen verstößt, nur weil es andere wollen. Diese Konsequenz hat mehr als zehn Jahre zu lange auf sich warten lassen.

»Was denkst du denn von mir. Hier, lies endlich und dann sage mir, ob du für eine kleine Mogelei zu feige bist, oder ob du mal etwas riskieren willst für deinen Traum.«

Unter dem Bild glücklicher Eltern mit einem Baby stand die fette Überschrift: Landeszuschuss für Wunschbaby.

Mit klopfendem Herzen überflog Nelli den halbseitigen Artikel. Etwas länger verweilten ihre Augen bei jenen Zeilen:

 Wir wissen, dass zu einem nicht unerheblichen Prozentsatz auch unverheiratete Paare von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind – sagt die Sozialministerin. Wir wollen unverheiratete Paare in Zukunft genauso unterstützen wie verheiratete.

Das Kinderwunsch-Förderprogramm galt bisher nur für Verheiratete. Seit Juli können nun auch unverheiratete Paare eine Finanzspritze für die infrage kommenden Methoden bekommen, vorausgesetzt die Bedingungen stimmen…

»Vorausgesetzt die Bedingungen stimmen? Sie stimmen nicht, Mia…« Nellis Stimme überschlug sich, was für diesen kleinen Raum an Peinlichkeit nicht zu übertreffen war.

»Ach komm, Nelli. Andere Menschen würden für einen so sehnlichen Wunsch ihre Großmutter morden…«

»Andere Menschen vielleicht…«

Erstaunt konnte sie sehen, wie die Enttäuschung in Mias Gesicht einer tiefen Verletzung wich. Sofern sie sich nicht irrte, vermochte Mia Andersson gerade nicht damit umzugehen, abgelehnt zu werden.

Nelli sprang auf und verließ das Café ohne einen Blick zurück. Voraus konnte sie freilich auch nicht blicken, zu konfus waren ihre Gedanken und zu verletzt ihre Gefühle.

Dass ihr so etwas überhaupt passieren konnte, war für Nelli Winter leider möglich. Unmöglich erschien ihr, dass es ihr ausgerechnet mit ihrer besten Freundin passierte. Wie konnte sie die ganzen Jahre an Mias Seite nicht bemerken, was mit Mia los war?

Freilich gab es da den einen oder anderen Moment, in dem sie ums Verrecken nicht verstand, warum Mia so abweisend zu ganz passablen Kerlen war, während sie selbst sich nach einem Menschen sehnte, der sie liebte.

Geradezu völlig verrückt schien ihr deshalb die Erinnerung an jenen Tag, als Mia in ihrer gemeinsamen Teenager-Zeit einmal bei ihr übernachtete. Erst hatte sie sie nach allerlei peinlichen Dingen gefragt. Ob ihre – Mias - Brüste geil wären. Ob sie – Nelli - sich ihre Muschi schon einmal ganz genau betrachtet habe und ob sie auch nicht verstand, warum ein Kerl beim Anblick von ein paar behaarten Hautfalten so in Ekstase geraten würde.

Nelli konnte nur kichern, aber dann erzählte Mia, wie Norbert Speer in sie eingedrungen war, wie seine Küsse eher beißend als zärtlich waren und dass er sie letztlich bespritzt hatte. Freilich dachte Nelli: Dieses Schwein! Sie hatte spritzen mit pinkeln assoziiert. Woher sollte sie damals schon wissen, was im männlichen Körper abgeht. Sie hatte ja ihren eigenen noch nicht einmal richtig verstanden. Dazu hatte ihr schließlich Mia verholfen.

Eines wurde ihr jetzt auf ihrem stolpernden Weg zurück zu ihrer Arbeit klar: Zu dieser Zeit und lange Zeit danach konnte Mia Andersson noch nicht mit falscher Neigung behaften gewesen sein. Ganz im Gegenteil. Was hat sie dazu gebracht? Vermutlich das gemeinsame Erforschen von Nelli Pohls Körper?

Zum Arbeiten kam Nelli Winter nur mit großer Anstrengung und Konzentration. Nebenbei aktivierte sie all ihre innere Kraft für den Selbsterhaltungstrieb, der sie in Zukunft besser gegen die Grausamkeiten des Lebens bewahren sollte. Wirklich erdrückend war, dass sich immer mehr Menschen aus ihrem Leben verabschiedeten. Erst ihr geliebter Vater. Dann ihre Kinder und ihr einst geliebter Mann. Jetzt auch noch Mia.

Eine halbe Woche lang hatte Mia Andersson ein schlechtes Gewissen. Auf irgendeine Weise verstand sie sich jetzt als Opfer, als fleischliches Opfer, dessen geistiges Opfer für die beste Freundin einen Sinn machte, der sich brutal in Luft aufgelöst hatte.

Das Training an jenem Abend war zu anstrengend, als dass sie noch die Kraft hatte aufbringen können, länger über Nellis Sturheit nachzudenken. Den bohrenden Schmerz hinter ihrer Stirn musste sie ignorieren. Sie war eine pflichtbewusste Person, hatte zu funktionieren, auch weil sie bei der Generalprobe für ihre Auftritte mit dem neuen Programm nicht fehlen durfte – erst recht nicht wollte.

Sie nahm sich ernsthaft vor, gleich nach der Probe zu Nelli zu gehen. Sie hatten so etwas wie eine Absprache. Damit keiner von beiden vor verschlossener Tür stand, hatte jede den Wohnungstür-Schlüssel der anderen. Ins Haus zu kommen, musste jeder allein überlassen bleiben. Fatal, seit einer der letzten Proben-Abende vermisste sie ihr Schlüsselbund. Zum Glück besaß sie ein zweites Bund, aber das lag in der Wohnung, und der Schlüsseldienst war kostspielig genug.

Schon zum dritten Mal rief sie bei Nelli an. Sie wusste, dass sie sehen musste, wer anrief, aber sie ignorierte es offenbar.

Am Sonntag – es war schon über die Mittagszeit hinaus – als sie sich nach zwei Aspirin endlich in der Lage fühlte, das Haus zu verlassen, steuerte sie zielsicher dem Wohnblock entgegen, in dem Nelli seit ihrer Scheidung wohnte. Zum Glück hatten die größeren Gebäude der Stadt einen Pförtner, der, wie sie von Nelli weiß, nicht als Pförtner angesehen werden möchte, sondern als Sicherheitsdienst. Zum ersten Mal verstand Mia, warum das so war. Der Mann im dunkelblauen Blouson mit einem Schriftzug auf dem Rücken ließ sie nicht ins Haus. Wenn der Mieter sich auf das Klingeln nicht melde, sei er nicht zu Hause. Wenn sie etwas abzugeben habe, könne sie es bei ihm hinterlassen.

Zum Glück hatte der Block noch einen zweiten Zugang auf der anderen Seite, die zum Zentrum hin zeigte. Der war zwar, wie sie vermutete, ohne Videoüberwachung. Hinein kam sie ohne Schlüssel deswegen noch lange nicht. Aber sie hatte Geduld, wenn auch nicht unendlich viel.

Mit einem kleinen Pulk – dem Knoblauchdunst nach zu urteilen kamen die Leute vermutlich vom Familientreffen beim gemeinsamen Mittagstisch – huschte sie mit ihnen durch die Tür und mischte sich vorsichtshalber dicht unter die Wartenden vor den Aufzügen.

Im Haus war es zu dieser Zeit sehr ruhig. Der lange Flur im siebten Stock war verwaist, hinter den gleichförmigen Türen hörte man keinen Laut. Am Ende des Flures das winzige Klingelschild: Nelli Winter.

Mia schluckte. Am liebsten würde sie auf dem Hacken kehrt machen, noch ehe sie ihren Finger auf den Schalter legte. Zu gerne hätte sie sich die ganzen Querelen erspart, aber Nelli war schon immer ein wichtiger Mensch in ihrem Leben gewesen. Sie haben sich immer gut ergänzt und waren stets ehrlich zueinander. Wo fand man das heute noch? Außerdem hatte sie seit Jahren ein schlechtes Gewissen, an Nellis Unglück durch Ben mitverantwortlich zu sein…

Vielleicht war es besser, nie mehr an diesem Problem zu rütteln, aber ihr Gefühl sagte, es war längst zu spät. Der Stein rollte bereits und es lag nicht in ihrer Macht, ihn aufzuhalten.

Nach dem ersten Läuten rührte sich nichts. Das hatte nichts zu bedeuten. Nelli konnte an der Tonfolge genau ausmachen, welche der Klingeln bedient wurde. Weil es die obere an der Wohnungstür war, würde sie nicht zum ersten Mal zögern. Oder sie schlief ein wenig, was für ein Wochenende total in Ordnung war.

Nelli wusste nicht, ob sie sich überhaupt erheben sollte. Zum Glück brauchte sie eines nicht zu befürchten. Mia würde es nicht sein können. Die hätte es garantiert zuerst mit ihrem Schlüssel probiert, wenn auch nach Nellis heimlicher Vorsorge in Zukunft vergebens. Aber von einem kratzenden Schlüssel im Schloss war nichts zu hören gewesen.

Auf dem kurzen Weg durch den Flur hatte Nelli das Gefühl, ihre Beine knickten ein, was nur an den Beruhigungspillen liegen konnte, die sie seit Tagen wieder nahm. Mit einer Hand ordnete sie ihr Haar, mit der anderen öffnet sie die Tür…

Mia! Das Wort kam nicht über ihre Lippen, aber vermutlich war sie kalkweiß im Gesicht. Eine Idee, wie sie ihr grenzenloses Entsetzen verbergen sollte, kam auch nicht. Nelli spürte, wie ihr übel wurde. Ihre Haut überzog sich mit einem dünnen Schweißfilm…

Jetzt hat Mia Andersson Blut geleckt und nichts wird sie davon abhalten, meine Not für ihre Zwecke auszunutzen. Schuftiger geht es nicht.

»Hättest du mir nicht von Anfang an sagen können, wie es um dich steht!« Klügere Worte fielen ihr auf die Schnelle nicht ein…

Das war keine Frage, das war bitterster Vorwurf. Endlich bekam Mia eine Vorstellung davon, warum Nelli regelrecht getürmt war.

»Wonach sieht es denn aus?« Mia lächelte trotz heftiger Schmerzen, die nicht nachlassen wollten. Für den katastrophalen Verdacht konnte sie Nelli nicht verantwortlich machen. Sie hätte wahrlich eindeutiger sein müssen. Wenn ein Mensch Missverständnisse sät, darf er nicht erwarten, dass sie keine Früchte tragen.

»Für mich hat sich genau dieses Rätsel noch nicht entwirrt, aber ich weiß, dass ich für deine Interessen nicht zur Verfügung stehe…«

Mia kannte Nelli wie keinen anderen Menschen. Sie wurde immer besonders sachlich, wenn sie keinen Ausweg sah.

»Also, wenn du mich fragst…«

»Ich frage dich nicht!« Nellis Stimme lallte verdächtig, was für eine wie sie immerhin äußerst merkwürdig war. »Du hattest jede Chance, Klartext zu reden, rechtzeitig Mia.«

Klartext also.

»Wenn einer ein Referat halten soll, muss er wenigstens das Thema kennen. Nelli, wollen wir hier zwischen Tür und Angel…«

Nelli ging Mia voraus ins Zimmer, stellte wie jedes Mal, wenn sie da war, einen Flasche Rotwein, eine Flasche Mineralwasser und eine Flasche Orangensaft auf den Tisch, während Mia die Gläser aus der Vitrine nahm – ein liebgewordenes Ritual. Daran hatte sich gottlob nichts geändert.

Nelli sah, dass es Mia nicht gut ging, und sie wünschte, sie könnte die kalte Verurteilung, die sie gegen Mia hegte, einfach vergessen. Sie ahnte zwar, dass es eine solche Möglichkeit für sie gab, aber dafür brauchte es noch etwas Zeit. Sie war ein toleranter Mensch, hatte nichts gegen gleichgeschlechtliche Liebe – obwohl sie in ihren sehr jungen Jahren der Anblick von zwei knutschenden Frauen an der Endhaltestelle der Straßenbahn regelrecht angewidert hatte. Das lag vermutlich daran, dass es zwei abstoßend ungepflegte Frauen mittleren Alters waren.

In ihrem Falle aber ging es nicht um die Freiheit der Persönlichkeit, es ging um Fremdbestimmung, um das Aufzwingen einer Neigung, die nicht in ihr lag.

Dass Mia aber nach einer so brüsken Ablehnung schon wieder bei ihr aufkreuzte, musste einen tieferen Grund haben, den sie zu gerne erfahren würde, allerdings war sie im Moment viel zu schlapp dafür…

Gewöhnlich – und das hatte in den Jahren offenbar von Mia abgefärbt – gab sie, wenn sie schon einmal eine Idee hatte, keine Ruhe, bis sie hinter die Details kam.

Mia saß ihr mit unruhigen Augen aber wortlos gegenüber. Nelli schien es, als könne Mia aus jeder Sommersprosse einen Schluss ziehen, so genau, wie sie sich betrachtet fühlte. Sie war umwerfend schön, obwohl sich ihre Stirn mit einer senkrechten Furche teilte, die noch unter dem Pony zu sehen war. Sie liebte Mias Haar und wie sie es trug. An diesem Sonntag gab es einen besonders reizvollen Kontrast zum schlichten blauen Kostüm, das Mia gewöhnlich wochentags zur Arbeit trug. Am Wochenende ging sie eher leger in Pulli und Jeans, oder auch mal in Jogginghose und Turnschuhen.

Der Pony war sorgfältig kürzer geschnitten, vermutlich damit er beim Tanzen nicht störte. Der sehr gerade sitzende Körper konnte nur zu jemandem gehören, der alles daran setzte, fit zu bleiben. Auch Mias Stimme kam ihr heute um eine Nuance rauchiger vor als an allen Tagen ihres Lebens. Sie liebte diesen Ton und verglich ihn heimlich mit ihrer mädchenhaften Stimme, die ihr geradezu banal vorkam. Wie oft hatte sie geschwiegen, nur damit Mia nicht aufhörte zu reden.

Soll sie doch reden. Soll sie doch endlich bekennen, was los ist…

Als hätte ihre Freundin das lautlose Flehen gehört, wiederholte Mia, vorsichtig jedes Wort abwägend, ihre Version von der staatlichen Hilfe bei Kinderlosigkeit, die sie im Café »Milch & Zucker« nicht hatte vollenden können, weil sie von Nelli Winter ein erstes Mal in die Schranken gewiesen wurde.

Diesmal kam noch ein kleiner Schachzug dazu, der Nelli aufhören ließ, aber nicht reagieren. Der resignierte Blick von Mia war kaum wahrnehmbar, aber er war da, so gut kannte Nelli dieses Gesicht. Resigniert und zugleich gereizt - keine angenehme Kombination.

»Schon mal was von Gleichstellung gehört?«

Nelli schüttelte fast unmerklich den Kopf. Hartnäckig kann Mia sein. Würde mir nie gelingen.

»Herrje, ich sehe doch, wie du leidest. Mach es dir nicht immer so schwer. Es gibt inzwischen einen Wandel in den Köpfen, auch in den heterosexuellen. Wenn in unserem ach so demokratischen Land gleichgeschlechtliche Paare heterosexuellen öffentlich als gleichgestellt deklariert werden, ist es nur gerecht, dass die gleichgeschlechtlichen durchweg dieselben Rechte verlangen.« Mia sah Nelli erwartungsvoll an: »Was ist? Ich sehe doch, wie es in deinem Kopf rotiert. Vertraust du mir nicht…?«

Nelli bemerkte ein kleines Entsetzen in Mias Augen. Sie musste antworten, um nicht als völlig verbohrt dastehen zu müssen nach all dem Guten, das Mia in den letzten Jahren für sie getan hatte.

»Lass es mich so ausdrücken. Ich dachte, ich kenne dich zu gut, um dir nur eigene Interessen zu unterstellen. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, deinem Ansinnen etwas Uneigennütziges abzugewinnen. Leider gelingt mir das diesmal nicht…Versetz dich mal in meine Lage. Ich verliere gerade meine beste Freundin, so oder so. Anderenfalls: wie stünde ich selbst vor aller Welt, so als Lesbe. Alle würden glauben, Ben sei unschuldig gewesen und alles habe an mir gelegen.«

Mia trank auffallend langsam. Dann schüttelte sie ihren Kopf, wobei das helle Haar locker hin und her fiel, ehe sie herausbrachte, dass ihr genau dieser Gedanke auch schon gekommen war, dass ihr die Meinung anderer aber piep-egal sein würde, wenn sie einen so sehnlichen Wunsch hätte, wie sie, Nelli, ihn habe.

Für einen Moment war ihr vermutlich aufgefallen, dass ihre Meinung wie eine Bevormundung klang und sie schwieg wieder, lehnte sich zurück und nippte an ihrem Glas. Stets trank Mia Rotwein mit Orangensaft, heute rührte sie den Wein nicht an.

Als Nelli nicht protestierte, stieß sie Worte heraus, die in genau dieser Kombination von resigniert und gereizt unangenehm waren, aber die sich dennoch ganz neu anfühlten.

»Wer will uns beweisen, dass wir kein Paar sind…! Mehr Opfer kann ich für dich nicht bringen. Ich spiele die Rolle mit, bis du erreicht hast, was du willst. Die einzige Voraussetzung, die ich sehe, ist die: Du musst es wirklich wollen!«

Noch tappte Nelli im Dunkeln, worauf Mia wirklich hinaus wollte. Es dauerte logischerweise, ehe sie etwas zu begreifen begann und noch einmal, ehe sie etwas erwidern konnte.

»Und wie ich will …« Sie weinte lautlos in sich hinein. Weniger aus Freude, diese Hoffnung überhaupt noch einmal in ihr Leben lassen zu können, mehr, weil sie Mia so Unrecht getan hatte mit ihrer Lesben-Vermutung. Nein, Mia wäre nicht Mia, hätte sie für sich selbst einen so hinterlistigen Plan geschmiedet. Und überhaupt… Wo hatte sie ihre Augen und Ohren? Mia war gar kein Typ für die andere Fraktion.

Nelli beobachtete, wie Mia zwei Stunden später in Richtung Zentrum lief, beinahe schleppte sie sich vorwärts. Also waren ihre Schmerzen nicht erfunden.

Es hatte sich gut angefühlt, wieder auf gleicher Welle zu schwimmen, obwohl die Intensität, mit der Mia Problemen zuleibe rückte, in diesem Falle für Nelli einfach unheimlich war. Sie glaubte nicht recht, dass da etwas gehen könnte und sie wusste vor allem nicht, warum Mia an ihrer Mutterschaft überhaupt Interesse haben sollte. Wäre sie lesbisch, hätte es wenigstens einen Sinn gemacht – gerade für Mia. Aber als Freundschaftsdienst war es einfach zu groß.

Am Ende des Tages wusste Nelli Winter, einen Menschen zu kennen, eine Freundschaft erfahren zu haben, die sonst niemand so schnell erleben würde. Dennoch lagen noch Tage und Wochen vor ihr, in denen eine Mauer aus Unbekanntem zu durchbrechen war, wofür sie ihre Kraft noch nicht einzuschätzen wagte.

Sie hätte es wissen können. Sie kannte Mia besser als sie sich selbst kannte. Mia würde immer versuchen, den besseren Weg zu finden und die Informationen, die sie dafür benötigte, sich selbst zu besorgen.

Erst einmal kam sie mit zur Frauenärztin. Auch wenn Dr. Rowling, die Nellis familiäre Situation kannte, aus allen Wolken fiel, so gestand sie doch ein, dass der Verlust ihrer Kinder und die Abneigung gegen den Vater als Träger einer so schrecklichen Erbkrankheit eine neue Neigung in Nelli erzeugt haben konnte.

Dr. Rowling füllte in den folgenden Monaten ihre Rolle sehr gut aus – wenn auch abwartend, weil sie an eine vorübergehende Laune dachte. Mia war sogar aufgefallen, dass die Ärztin unabhängig davon, ob die Geschichte wahr war oder nicht, für Nelli einen Weg sah, ihr Trauma endlich zu verarbeiten. Voraussetzung war das Gelingen.

Sie hatte dann auch die Kinderwunschklinik von Dr. Henry Klatt und seiner Frau Constanze ausfindig gemacht, wo aus den Samenbänken die anonymen Spender passgenau nach den Vorstellungen der Frauen ausgesucht werden können und wo auch das eigenetliche Verfahren der Befruchtung durchgeführt wird, die keine künstliche Befruchtung sei, wie sie sagte, weil der Körper der Frau auf natürliche Weise alles alleine übernähme. Nur der männliche Part sei assistiert, wie sie es ausdrückte.

Das endlich waren die ersten Töne der Hoffnung für Nelli Winter…

Vor dem Glück

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