Читать книгу MORO - Maxi Magga - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1
Der Fluss führte zu dieser Jahreszeit mäßiges Hochwasser, gerade so hoch, dass die Ratte an die für sie ungünstigste Stelle geschwemmt worden war. Das Flussbankett war dort so steil und glatt, dass sie immer wieder ins Wasser zurückrutschte. Stur blieb sie am selben Ort und ahnte nicht, dass eine größere Gefahr auf sie wartete, als zu ertrinken. Am Ufer lauerte Moro, bewaffnet mit einem schweren Stein. Nahezu unbeweglich kniete er in der Deckung einiger Pflanzen und harrte geduldig aus, dass das Tier in Reichweite käme. Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie diese schlauen, flinken Vierbeiner überlistet werden konnten. Er hatte es oft getan, bevor er sich an den Mann, den er nur „Herr“ nannte, in die Sklaverei verkauft hatte. So manche Ratte hatte ihr Leben lassen müssen, damit sie einen weiteren Tag überlebten, er und seine Familie. Jetzt profitierte er von seiner Erfahrung. Dieses Tier war fett. Falls es ihm gelänge, es zu erlegen, hätte er Nahrung für zwei Tage. Wenn er sich stark einschränkte, vielleicht sogar für drei.
Eine gewisse Euphorie machte sich in ihm breit, als er an seinen Zusammenbruch vor gut einer Woche dachte. Damals, nach seinem Irrweg und dem Zusammentreffen mit der Gruppe der Arbeitssklaven und ihren Aufsehern, als er glaubte, einfach liegenbleiben und sterben zu können. Aber der Mensch ist nicht dafür gemacht, sich hinzusetzen und zu verhungern. Trotz seiner Verzweiflung nahm er im Lauf des Tages das aufgeregte Gehabe eines Amselpärchens wahr. Endlich begriff er, was das bedeuten konnte. Er störte sie und vor allem ihr Nest, in dem sie zu dieser Jahreszeit brüten wollten. Wie elektrisiert sprang er auf und suchte im angrenzenden Gebüsch nach dem Gelege. Es war nicht schwer zu finden. Mit zitternden Händen holte er die fünf bläulich-grün schimmernden Eier heraus. So winzig! Kaum drei Zentimeter lang waren sie, aber sie verhießen ihm die Rettung. Vorsichtig öffnete er eines nach dem anderen und schlürfte den Inhalt. Er hielt das letzte schon in der Hand, da wurde er sich des immer wütenderen Gezeters der Vögel bewusst. Bedauernd, aber ohne das kleinste Zögern, legte er das Ei zurück.
„Ich hab auch ein Kind“, murmelte er. „Danke, dass ihr mir geholfen habt.“
Kopfschüttelnd ertappte er sich selbst dabei, in Erinnerung an die winzigen Lebensretter zu lächeln. Verdammt, jetzt war nicht die Zeit dafür. Er musste sich besser konzentrieren, durfte nicht seine Aufgabe vernachlässigen, nur weil er seinen Tagträumen nachhing. Er erneuerte seinen Griff um den Stein und verfolgte die unbeirrbaren, aber vergeblichen Bemühungen der Ratte, ans Ufer zu gelangen. Plötzlich verharrte sie unbeweglich, äugte eine Strecke voraus und huschte fluchtartig in den Fluss. Moro war enttäuscht und zugleich alarmiert. Sein Fokus auf die Nahrungsbeschaffung hatte ihn unachtsam werden lassen gegenüber dem, was sich hinter seinem Rücken abspielen mochte. Vorsichtig, ohne das bisschen Deckung im Gestrüpp aufzugeben, sah er sich um.
Da! Vielleicht vierzig oder fünfzig Schritte von ihm entfernt, marschierten zwei Guardians am Flussufer entlang. Wären sie nicht so in ihr Gespräch vertieft gewesen, hätten sie ihn längst gesehen. Die Furcht vor der enormen Macht der Sicherheitsbeamten, die auf ihn als Flüchtigen aufmerksam wurden oder ihn auch nur als Herumtreiber kontrollieren und dabei das fehlende Kastenabzeichen bemerken würden, war zu groß. Moro ließ den Stein fallen und, jede Vorsicht vergessend, rannte er los. Nur weg von hier! Weg von den Guardians, die ihn in die Hölle im Haus des Herrn zurückstoßen konnten. Im gleichen Moment, in dem er seinen lächerlichen Schutz verließ, wurde ihm bewusst, welch großen Fehler er begangen hatte. Noch bevor er die Flussbankette verlassen hatte, waren sie hinter ihm her. Er holte aus seinem geschwächten Körper heraus, was nur möglich war. Aber die Verfolger waren gut ausgebildete, durchtrainierte Polizisten, die neben ihren Schlagstöcken auch mit Tasern ausgestattet waren, die den Getroffenen bewusstlos machten, sowie mit den gefürchteten Gummiwaffen, die kinderfaustgroße Hartgummikugeln verschossen. Mit diesen Waffen wurden schon unzähligen Verfolgten die Knochen gebrochen.
Nach wenigen Minuten fing Moro an zu keuchen. Die Schuhe hatte er bereits auf den ersten Metern verloren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er eingeholt wurde. Verzweifelt suchte er ein Versteck oder wenigstens einen Abzweig von diesem schnurgeraden Weg zwischen einem riesigen, mit Zäunen und Stacheldraht abgesperrten Areal und einem verwilderten Gelände, in das kaum einzudringen war.
Endlich schien der Pfad einem Knick zu folgen, einige der höher gewachsenen Sträucher bildeten dort einen spärlichen Blickschutz. Die Guardians mussten das ebenfalls bemerkt haben, denn unvermittelt flog eines der Gummigeschosse mit einem unheilvollen Zischen auf Moro zu. Er wurde zwar nur an der Schulter getroffen, aber der Druck reichte aus, um ihn herumzureißen und zu Fall zu bringen. Jetzt hatte er nicht viel Zeit. In wenigen Sekunden würden die Beamten an dieser Stelle sein, dann durften sie nichts mehr von ihm vorfinden. Mit der Kraft der Verzweiflung robbte er zwischen die Wurzeln und verschlungenen Pflanzen und zwängte sich unter Büschen hindurch. Er lag trotzdem noch so dicht an der Straße, dass er die Verfolger hörte. Voller Angst aufgespürt zu werden, atmete er nur flach. Gegen das donnernde Pochen seines Herzens und das betäubende Rauschen des Blutes in seinen Ohren, konnte er nicht das Geringste tun. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sie es hörten und ihn entdeckten. Aber die Zeit verging und nichts geschah.
Im gleichen Maß, in dem das Gefühl für die akute Gefahr nachließ, wurde Moro sich der Verletzungen bewusst, die er sich beim Verstecken im harten, teilweise dornigen Gebüsch zugezogen hatte. Etliche Dornen steckten in seinem Fleisch und die auf Spannung gebogenen Zweige rissen an der Haut. Trotzdem harrte er unbeweglich aus. Die Angst, dass den Beamten die unnatürlichen Bewegungen der Pflanzen auffallen könnten, war zu groß. Erst nach einer Zeit, die ihm unendlich lang erschien, arbeitete er sich langsam und vorsichtig aus dem Schlupfloch heraus.
„Nein! Bitte nicht“, flüsterte er. Entsetzt hielt er die Luft an und seine Augen weiteten sich, denn er sah, dass er seine Verfolger nicht hatte abschütteln können, im Gegenteil, dort auf dem Weg kamen zwei weitere Guardians auf sein Versteck zu. Gemeinsam machten sie Anstalten, mit Hilfe langer Stöcke in die verwilderte Fläche einzudringen, die Moro die einzige Zuflucht bot.
Jetzt durfte es kein Überlegen und nicht das kleinste Zögern mehr geben. Er befreite sich, so schnell es ging, aus der Umklammerung der Pflanzen und hetzte ohne Rücksicht über das Gelände. Er achtete nicht darauf, dass seine Kleidung endgültig zerfetzt und seine Haut vielfach aufgerissen wurde. Das Grauen verlieh ihm ungeahnte Kräfte, die Gesetzeshüter, die mehr als Moro auf den Eigenschutz bedacht waren, blieben zurück. Zwei oder drei auf ihn abgegebene Schüsse verfehlten ihn deutlich. Aber die Guardians gaben nicht auf. Sie versuchten ihn einzukreisen. Der Flüchtige bemerkte es zwar, sah jedoch keine Möglichkeit, es zu verhindern. So trieben sie ihn auf eine kleine Gruppe verstreut liegender Gebäude zu. Dort gab es höchstwahrscheinlich Menschen, was gefährlich für ihn war, andererseits bedeutete es aber auch offene Wege und mit sehr viel Glück vielleicht ein Versteck. Egal, es gab ohnehin keinen Ausweg.
Moro erreichte das Grundstück deutlich früher als die Verfolger. Vier unterschiedliche Bauwerke waren an drei Seiten eines freien Platzes errichtet. Er rannte auf eine Art Scheune zu, die ihm am nächsten lag. Nur einen Wimpernschlag, bevor er an der nächstgelegenen Ecke ankam und aus dem Blickfeld der Guardians hätte entkommen können, öffnete sich ein Tor an der linken Seite. Ein oder zwei Sekunden lang verdeckte es ihn vor den Blicken dessen, der dort herauskam. In fliegender Hast bog er rechts ab und rettete sich vorläufig in den Durchgang zwischen der Scheune und einem Stall. Aber das Manöver hatte ihn Zeit und Kraft gekostet. Außerdem hatte er jetzt die Guardians hinter sich, wurde auf beiden Seiten von Gebäuden behindert, und rannte geradewegs auf das Wohnhaus dieses Hofes zu. Moro schaute sich hektisch um. Nirgends ein Ausweg. Sein Zögern brachte die Verfolger heran. Er setzte alles auf eine Karte, riss eine schmale Seitentür des Stalles zu seiner Rechten auf und flüchtete ins Innere.
Mit tief heruntergebeugtem Oberkörper kämpfte er darum, wieder Luft holen zu können. Jeder Atemzug stach wie mit tausend Nadeln in seine Lungen. Noch immer heftig schnaufend sah er sich schließlich um. Das Innere des Stalles lag im Halbdunkel, die Wände waren mit verschiedensten Gerätschaften zugestellt, aber in der Eile sah Moro nirgends etwas, das ihn davor hätte schützen können, sofort entdeckt zu werden. Sein Blick fand zurück zu einem großen, mit einem Bretterzaun gesicherten Pferch, in dem etliche Tiere untergebracht waren.
Schweine? Richtige, lebendige Schweine? Er hatte noch nie eines gesehen. Ein totes, ja. In Wahrheit war es nur ein halbes totes Schwein gewesen, das der Koch in das Haus des Herrn getragen hatte. Moros Großvater hatte vor langer Zeit erzählt, dass es früher so viele davon gegeben haben soll, dass nicht nur die höchsten Kasten sich Schweinefleisch leisten konnten. War er denn wieder in das Reich eines Hochgeborenen geraten?
Er sah sich um. Panik stieg in ihm hoch wie eine giftige Blase. Hier gab es nichts, was sich auch nur annähernd als Versteck geeignet hätte. Gar nichts. Bis auf die Schweine? Gefährlicher als die Guardians waren sie bestimmt nicht. Mit dem Mut dessen, der keinen anderen Ausweg sieht, kletterte er über die Absperrung und versuchte, sich in der dunkelsten Ecke in den Morast einzugraben. Er war nicht tief genug, viel flacher als Moro gedacht hatte. Und die neugierigen Tiere drängelten sich dazu und lenkten die Aufmerksamkeit auf diesen Teil des Stalles. Draußen hörte er bereits die Guardians. Einen letzten Versuch noch, bevor er sich stellen würde: Mit aller Macht wühlte er sich in den Fresstrog hinein, hoffte inständig, dass er ausreichend vom Futter bedeckt wäre. Mehr konnte er nicht tun.
Nur Sekunden später wurde die Tür aufgerissen, zwei der Verfolger stürmten herein, in einer Hand den Taser, in der anderen den erhobenen Schlagstock. Moro hielt die Luft an. Wenn er doch nur auch den Herzschlag stoppen könnte! Ob sie das wilde Klopfen von außen hörten oder sogar die pochende Bewegung sahen?
Laute, wütende Stimmen drangen an Moros Ohr und das scheußliche Krachen, wenn die Knüppel mit Gewalt gegen einen Gegenstand geschmettert wurden. Die namenlose Angst, vielfach verstärkt durch das Schreien und Dröhnen, raubte ihm jeden klaren Gedanken, einzig der Wille, sich nicht sehen zu lassen, blieb.
Unvermittelt mischte sich eine andere, weibliche Stimme ein, die nicht weniger zornig klang. Nur Sekunden später hörte Moro sie direkt neben dem Trog. Eine Lücke in dem stinkenden Schweinefraß, mit dem er sich bedeckt hatte, erlaubte es ihm, ihr Gesicht zu sehen. Er versuchte, sein Auge zu schließen, damit es nicht so leicht zu erkennen wäre, aber es wollte ihm nicht gehorchen.
Die Frau drehte sich, noch immer mit den Guardians schimpfend, in seine Richtung, hob den Eimer, den sie mit sich führte, und kippte seinen Inhalt in den Trog. Eine Winzigkeit, bevor die weiteren Küchenabfälle Moros Guckloch verdeckt hätten, bemerkte sie das Auge und schreckte zurück. Er sah eine Hand, die sich näherte, und das Futter sorgfältig über ihm verteilte. Dann fand diese Hand seinen Arm. Aber anstatt daran zu ziehen und den Flüchtigen zu verraten, drückte die Frau ihn leicht, als ob sie ihm Mut machen wollte, und wandte sich von dem Trog ab. Moro hörte, wie ihre Stimme und die der Guardians leiser wurden.
Er gestattete sich, in winzigen Stößen die so lange angehaltene Luft auszuatmen. Draußen, außerhalb seines Verstecks wurde es still. Kein Geschrei mehr, keine Drohgebärden mit den Schlagstöcken. So gerne er sich etwas zusätzlichen freien Raum zum Atmen verschafft hätte, er blieb bewegungslos liegen, wo er war, und lauschte weiter auf jedes Geräusch. Solange er hin und wieder Gesprächsfetzen hörte, würde er sein Versteck nicht aufgeben. Inständig hoffte er, dass er das Signal der Frau richtig gedeutet hatte, und sie ihn nicht verraten würde.
Aber Moro hatte die Rechnung ohne die Schweine gemacht. Kaum war die von den Menschen verursachte Störung ihres Reviers beendet, beruhigte sich das aufgeregte Quieken und die Tiere näherten sich ihrer Futterquelle. Bald drängten sie sich um den Trog herum und stießen ihre kräftigen Schnauzen auf der Suche nach dem besten Brocken in die Abfälle. Schon bekam der Mann einzelne Bisse ab, die unangenehm, aber anfangs nicht wirklich schmerzhaft waren. Doch dann verbiss sich eines der Schweine in seinen Unterschenkel und zog daran. Moro wehrte sich panisch und brachte damit Unruhe und Anspannung unter die Tiere. Eines von ihnen reagierte besonders aggressiv und griff ihn an. Er schaffte es zwar, aus dem Trog herauszukommen, fiel dabei aber dem Angreifer direkt vor die Klauen. Der ließ nicht locker und attackierte weiter. Mittlerweile durch mehrere Bisse verletzt, robbte Moro bis zur Umzäunung des Pferchs. Einzig die Todesangst half ihm darüber hinweg. Keuchend und am ganzen Körper bebend, brach er auf der anderen Seite zusammen.
Er wusste nicht, wie lange er so dort gelegen hatte, als das Scheunentor geöffnet wurde. Er hörte es, aber er hatte nicht einmal mehr genug Kraft, um sich erneut zu fürchten.
„Gut“, fand er resignierend, „sie sind da. Es ist vorbei. Sollen sie mit mir machen, was sie wollen.“
„Heiliges Kastensystem! Was ist denn hier passiert? Hallo, hörst du mich?“ Das waren fraglos nicht die Guardians. Die Emotionen überwältigten Moro. Er hielt seine Augen fest geschlossen. Die Frau sollte auf keinen Fall die Angst darin flimmern sehen. So nickte er nur.
„Sie sind weg. Sei beruhigt, die Gefahr ist vorbei. Kannst du aufstehen?“, fragte sie teilnahmsvoll.
Moro war zwar bereit, aber der Versuch endete in einem Fiasko. Als sie den schwankenden Mann stützen wollte, zuckte er erschrocken zurück und stürzte erneut in den Dreck. Die Frau schrie leise auf und kniete sofort wieder an seiner Seite.
„Ich habe dich erschreckt, oder? Tut mir wirklich leid. Probieren wir es noch einmal?“
Moro schüttelte entmutigt den Kopf.
„Sie machen sich schmutzig. Bitte, wenn ich noch ein bisschen hier liegenbleiben dürfte? Nur ein paar Minuten. Dann verschwinde ich“, bat er stockend.
„Das ist Unsinn!“, unterbrach sie ihn resolut. „Dieser Unrat beschmutzt nur meine Kleidung, nicht mich. Auf die eine oder andere Art bringe ich dich hier raus. Deine Wunden müssen schnellstens versorgt werden. Danach sehen wir weiter. Ich bin gleich wieder da.“
Langsam löste sich die Spannung in Moros Muskeln. Zum ersten Mal seit Stunden beruhigte sich der Herzschlag und die Atmung wurde regelmäßiger, um sich nur Minuten später von neuem zu überschlagen. Wie hatte die Frau es geschafft, völlig unbemerkt an seine Seite zu kommen? War er so unaufmerksam? Oder war er kurze Zeit ohnmächtig gewesen? Plötzlich stand sie wieder neben ihm. Vor sich hatte sie eine Schubkarre abgestellt, auf die sie mit beträchtlicher Mühe den doch nur aus Haut und Knochen bestehenden Körper des Mannes wuchtete.
So traten sie den kurzen, beschwerlichen Weg zum Wohnhaus an. Moros Augen waren die meiste Zeit fest geschlossen, nur manchmal blinzelte er. Flüchtig fiel sein Blick dabei auf den unverhältnismäßig großen, stabilen Zwinger nahe am Gebäude. Sklavenhalter, schoss es ihm durch den Kopf. Der Gedanke wollte ihm den Magen umdrehen, aber die Strapaze, mit der Schubkarre über die drei Stufen ins Haus zu kommen, verdrängte alles andere.
Endlich schafften sie es in die große, altmodische Küche. Dort half sie ihm, sich auf den Boden zu legen und wusch ihm das Gesicht. Erstaunt nahm er den Becher mit frischem Wasser und leerte ihn in einem Zug.
„Wir müssen dich ausziehen, da hilft nichts. Der Stallmist muss gründlich abgewaschen werden und die Wunden gesäubert und desinfiziert. Die Gefahr einer Infektion ist extrem groß. Es wird am wenigsten quälend für dich sein, wenn ich die Sachen vorsichtig herunterschneide. Leid tun wird es dir darum sicher nicht. Von Kleidung kann man da wohl kaum noch sprechen“, redete sie beruhigend auf ihn ein. „Falls ich bisher versäumt habe, dir zu sagen, mit wem du es zu tun hast – mein Name ist Amelie, ich wohne hier mit meinem Mann Vedhes auf dieser ehemaligen Farm. Du heißt Moro, wenn ich die Guardians richtig verstanden habe? Fein, dann lass uns anfangen.“
So hatte in seinem ganzen Leben niemand mit ihm gesprochen. Wie hatte er sie nur mit einem einzigen Gedanken mit Sklavenhaltern in Verbindung bringen können? Verwundert, aber voller Vertrauen nickte er zu allem, was sie sagte.
Die Arbeit forderte beide bis zur Erschöpfung. Hauptsächlich die offenen Bisswunden und die Schulter, wo ihn das Gummigeschoss getroffen hatte, schmerzten fürchterlich. Der Knochen erweckte nicht den Anschein gebrochen zu sein, vorsichtshalber legte sie dennoch eine Fixierung an. Etliche weitere Risswunden der Haut und eine Reihe Hämatome, die ihre blaugrüne Pracht erst in der Folge vollständig preisgeben würden, zierten den Körper. Nicht genug jedoch, um die alten Narben zu überdecken. Die Frau sah sie genau, schwieg aber zunächst dazu. Sie nahm sich fest vor, mit ihrem Mann darüber zu reden. Auch zu diesem merkwürdigen Halsring sagte sie nichts. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Nirgends fand sie einen Verschluss, mit dem sie ihn hätte öffnen und abnehmen können.
Schließlich war die Arbeit getan. Amelie wechselte ihre völlig verdreckte Kleidung, bevor sie sich neben den Verletzten auf den Boden setzte.
„Moro, du kannst nicht hierbleiben. Das wäre entschieden zu gefährlich für uns alle. Die Guardians haben ihre Suche mit Sicherheit nicht eingestellt. Wir müssen damit rechnen, dass sie wieder auf der Farm auftauchen.“
Moro machte Anstalten aufzustehen.
„Ich gehe sofort, Madam.“
Amelie stutzte kurz bei dieser Anrede, überging sie aber.
„Nichts da. Du kannst kaum stehen, geschweige denn deine Flucht fortsetzen. Was ich sagen wollte, ist, dass du dich verstecken musst. Hier, unter der Küche, gibt es einen geheimen Raum. Den entdeckt so schnell niemand. Dort bleibst du, solange es notwendig ist. Nur, dahin zu kommen, dürfte in deinem Zustand ein wenig schwierig werden. Wirst du mir helfen?“
„Ja“, stimmte Moro zu und senkte den Kopf. „Ich danke Ihnen.“
Leicht war es in der Tat nicht, Amelies Patienten in diesen Raum zu bringen, der eher ein unterirdischer Bunker war. Sie schob den großen Tisch und die Stühle zur Seite, rollte den Bodenbelag teilweise auf und öffnete endlich die Luke, die den einzigen Zugang zu dem Keller bildete. Es führte nur eine steile, herausnehmbare Leiter hinunter. Diesen Weg zusammen mit dem verletzten Mann zu nehmen, war schlicht unmöglich. Stattdessen holte sie einen kleinen Flaschenzug, wie er beim Einlagern schwerer Kisten oder Fässer benutzt wurde, und baute ihn über der Öffnung auf. Einen Augenblick zögerte sie.
„Ich frage mich“, murmelte sie, „ob es nicht doch besser ist, zu warten, bis Vedhes zurückkommt? Was, wenn der Aufbau dein Gewicht nicht aushält? Du bist zwar erschreckend dünn und ausgemergelt, wiegst aber bestimmt mehr als eine Kiste unserer selbst angebauten Kartoffeln, die wir sonst im kühlen Keller verwahren. Nicht auszudenken, was passiert, wenn der Flaschenzug zusammenbricht und wir beide abstürzen. Nein, ich fürchte, wir müssen es trotzdem riskieren. Die Gefahr, dass du entdeckt wirst, ist viel zu groß.“
„Es dauert nicht mehr lange“ redete sie Moro gut zu, „ jetzt kommt dein Part. Ich werde dir dieses Seil unter den Achseln durchziehen. Dann lasse ich dich mithilfe dieser Konstruktion hinunter. Falls dabei ein Verband verrutscht, macht das nichts aus. Das richte ich, wenn wir den Abstieg geschafft haben. Es tut mir leid, aber die Aktion wird nicht ohne Schmerzen für dich abgehen. Bist du bereit?“
Moro tat sein Möglichstes, um Amelie zu unterstützen. Dennoch bedeutete es eine enorme Kraftanstrengung. Gemeinsam schafften sie es dann doch. Bevor sie selbst im Keller ankam, war er bereits eingeschlafen. Er merkte nicht mehr, dass sie das Seil löste, seine Verbände überprüfte und eine Decke über ihm ausbreitete. Zu guter Letzt stellte sie ihm Wasser hin und schloss leise die Luke.
Moro saß auf dem Boden in Vedhes‘ Werkstatt und beobachtete angespannt, wie er versuchte, einen Holzklotz vor der vernichtenden Hitze des Schneidbrenners zu bewahren. Im nächsten Augenblick flog das unschuldige Scheit mit Wucht gegen die gegenüberliegende Wand.
„Ich weiß mir, ehrlich gesagt, bald keinen Rat mehr“, gestand der Ältere der beiden aufgebracht. „Nichts, was auch nur ansatzweise schützen würde, kann zwischen deinen Hals und dieses vermaledeite Halsband geschoben werden. Zumindest nicht so, dass es dich vollständig absichert. Seit vier Tagen versuchen wir schon, eine Lösung dafür zu finden. Dabei wissen wir nicht einmal, ob ich mit meinen Gerätschaften auch nur das Geringste gegen diese Legierung ausrichten kann. Wie einer aus der B-Kaste an so ein Material kommt und es nutzt, um dich zu zwingen etwas zu tun, über das du nicht einmal sprechen willst, verstehe ich bis heute nicht. Dir dein Kastenzeichen wegzunehmen und sich die Hilfe der Guardians zu organisieren, um dich suchen zu lassen, das allerdings entspricht ihrer Art genau.“
Diese Geschichte war erbärmlich. Moro wusste es. Genauso gut wusste er, dass weder Amelie noch Vedhes sie glaubten. Ihm war auf ihre Nachfragen einfach nichts Besseres eingefallen. Geschwächt von den Strapazen der Flucht und des hefigen Fiebers, das ihn quälte, nachdem sich die Wunden infiziert hatten, war er ihrer Befragung nicht gewachsen. Seine Geschichte, die doch so dicht an der Wahrheit war, passte trotzdem vorne und hinten nicht zusammen. Es war gefährlich, nein, mehr als das, absurd, einen Herrn der B-Kaste zu beschuldigen, einem C-Kastigen, als der er sich ausgab, das Abzeichen wegzunehmen, um ihn zum Sklaven zu machen. Er musste noch halb im Fieberwahn gewesen sein, als er mit Bestürzung ihre blauen Anstecker der C-Kaste bemerkte und verzweifelt alles riskiert hatte. Nur, wenn er ihnen gleichwertig war, würden sie ihn schließlich nicht auf der Stelle davonjagen. Das war vor mehr als zwei Wochen, aber Moro fand weder einen Weg noch den Mut, seine Lügen zu gestehen. Das Paar setzte ihn nicht unter Druck. Hin und wieder bemühten sie sich, das Gespräch darauf zu lenken. Wenn der ohnehin äußerst schweigsame junge Mann nicht reden wollte, beließen sie es dabei.
Vedhes suchte in seinem gut bestückten Wortschatz nach einem angemessenen Fluch. Da er keinen fand, der seine Frustration gebührend herausgestellt hätte, schwieg er lieber und schüttelte seinen Kopf. Die Sonne, die an diesem Tag ihre Strahlen großzügig verteilte, ließ das silberweiße, schulterlange Haar des Mannes aufleuchten und sein Gesicht milder erscheinen. Moro vertraute dem Ausdruck von tiefem Leid, von dem die Falten um den Mund und die Augen sprachen. Vielleicht war das der Grund, dachte er, weshalb sie ihn nicht zum Reden drängten.
„Ich bin Ihnen unendlich dankbar, dass Sie es versucht haben.“
„Falsche Zeit, Moro“, ermannte sich Vedhes und ergänzte beim Anblick von dessen erstauntem Gesicht: „Du solltest sagen: ‚… dass Sie es versuchen, nicht versucht haben‘. Ich gebe nicht so leicht auf. Reich mir bitte ein neues Scheit aus dem Stapel.“
Der Jüngere drehte sich um und griff nach einem frischen Holzstück, da zischte es hinter ihm: „Versteck dich. Schnell!“
Mehr brauchte er nicht. Seit Moro zeitweise den Bunker verlassen durfte, kannte er die sichersten Wege zurück. Er sprang durch das Fenster auf der Rückseite der Werkstatt, lief geduckt zwischen großen Gegenständen, die absichtlich als Sichtschutz dort aufgestellt worden waren, zur Hintertür des Wohnhauses. Laut nach Amelie rufend, legte er die Falltür in der Küche frei und verschwand im Keller. Über ihm stellte die Frau die übliche Ordnung wieder her. Auch sie wusste genau, worauf es jetzt ankam.
Moro wartete in der Dunkelheit unterhalb der Treppe und lauschte. Falls er merkte, dass die Luke entgegen allen Erwartungen doch gefunden werden sollte, würde er nach den Kisten tasten, die an einer Wand gestapelt waren. In eine davon hatte Vedhes seitlich eine Klapptür eingebaut. Moro würde hineinkriechen und sein Versteck von innen verriegeln.
Lange Zeit geschah nichts. Doch dann hörte er herrische Stimmen, die lautstark die Durchsuchung des Hauses ankündigten.
Die Frau gab sich betont genervt: „Diese dumme Geschichte ist jetzt nahezu drei Wochen her. Was glauben Sie hier zu finden? Zweimal haben Sie uns schon mit Razzien belästigt. Was können wir dafür, dass Sie diesen Verbrecher in unserer Nähe verloren haben?“
„Keinen Verbrecher, wir suchen einen geflohenen persönlichen Sklaven eines verdienstvollen Wissenschaftlers und Beamten aus der B-Kaste. Und jetzt machen Sie den Weg frei.“
Moro prallte entsetzt zurück. Woher wussten sie das? Sie suchten nicht jemanden, der sich bei einer anstehenden Kontrolle auffällig benommen hatte. Auch keinen Mann, der das vorgeschriebene Kastenabzeichen nicht vorweisen konnte. Die Guardians fahndeten gezielt nach ihm, nach Moro oder „Nummer Zehn“, dem Eigentum eines unangreifbaren Mitglieds der zweithöchsten Gesellschaftsschicht. Die Hoffnung, dass der Herr die Flucht aus Furcht vor einem Skandal nicht angezeigt hatte, war endgültig dahin.
Schlagartig wurde ihm der Platz zu eng. Moro rang nach Luft. Er kämpfte verbissen gegen die aufsteigende Übelkeit. Hätte in diesem Augenblick jemand die Luke geöffnet, er wäre nicht fähig zu tun, was getan werden musste, wäre seinen Verfolgern hilflos ausgeliefert. Im Winkel unter der Leiter kauernd, wartete er. Er dachte nicht einmal mehr an das Versteck in den Kisten. Alles in ihm atmete die zwei Wörter, die ihm einst auf so grausame Weise beigebracht worden waren: Ja, Herr.
Langsam drang ein weiterer Gedanke in seinen Verstand. Verschwinden. Er durfte nicht länger hier bleiben. Selbst falls sie ihn heute nicht entdeckten, er hatte nur dann eine Chance, wenn er wieder weglief.
Weg! Auf und davon! Die Wörter hämmerten in seinem Kopf, bis nichts außer ihnen mehr real erschien.
Irgendwann öffnete sich die Falltür. Amelie rief nach ihm: „Moro? Sie sind weg. Moro, bist du in Ordnung?“
Keine Antwort. Besorgt stieg sie die Stufen hinunter. Im gleichen Moment, in dem sie den letzten Schritt tun wollte, wurde sie am Arm gepackt und heruntergezerrt. Sie landete hart auf dem Bauch. Fast gleichzeitig stürmte Moro die Leiter hoch, zog sie aus der Luke und warf die Klappe mit lautem Krachen zu. Hektisch suchte er den Knüppel, der zum Selbstschutz immer in der Ecke zwischen einer Wand und dem großen Vorratsschrank lehnte. Wie ferngelenkt schnappte er sich den Prügel und rannte aus dem Haus und hinüber in die Werkstatt. Dort schlug er den ahnungslosen Vedhes nieder. Er zerrte den Bewusstlosen bis zur Falltür, öffnete sie. Dann hängte er den schlaffen Körper in die Öffnung und ließ ihn die letzten eineinhalb Meter tief fallen. Auf die Rufe und Schreie Amelies achtete er nicht.
Moro nahm sich weder die Zeit, den Zugang zum Keller zu tarnen, noch etwas für die Flucht Nützliches mitzunehmen, nicht einmal den Kartendispenser, der ihn bis hierher begleitet hatte. Er rannte einfach los.