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7. Winter

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Der Sonntag war für mich unerträglich gewesen. Ich hatte Lucas nicht in die Augen blicken können, ohne an die Nachricht von Eliza denken zu müssen. Natürlich hätte ich Dairine anrufen können, aber ich musste ihr den Zettel einfach persönlich zeigen. Deshalb freute ich mich ausnahmsweise auf den sonst so verhassten Montag. Lucas saß still im Schulbus neben mir und musterte mich nachdenklich von der Seite, wie er es am Vortag bereits oft getan hatte.

„Ist irgendetwas?“, fragte ich ihn grober als beabsichtigt.

„Das wollte ich dich gerade fragen“, erwiderte er. „Seitdem ich dich von dem Club nach Hause gefahren habe, bist du seltsam.“

„War ich das nicht schon immer?“, scherzte ich in der Hoffnung, ihn damit ablenken zu können.

Doch der Versuch schlug fehl. „Nein.“ Er blickte mir weiter ins Gesicht, als würde er dort die Antwort finden. „Vertraust du mir nicht?“

Ich sah ihn entsetzt an. „Natürlich vertraue ich dir! Mehr als jedem anderen“, rief ich sofort aus, fügte jedoch im Stillen hinzu: Solange es nicht um Eliza geht. Es wäre eine Erleichterung gewesen, mich Lucas anzuvertrauen, aber er war nicht zurechnungsfähig, wenn es um meine Schwester ging. Er würde sofort zur Polizei laufen und die Ängste und Sorgen meiner Eltern aufs Neue aufwühlen und anspornen. Wir entwickelten gerade erst wieder so etwas wie einen normalen Alltag.

„Warum redest du dann nicht mit mir?“ Er klang ehrlich verzweifelt.

Ich verfluchte meine Schwester dafür, dass ich ihretwegen meinen Freund belügen musste. „Das tue ich doch. Es ist wirklich alles in Ordnung.“

Er glaubte mir nicht, trotzdem fragte er nicht weiter nach, bis wir vor der Schule hielten. Zur Verabschiedung gab er mir nur einen Kuss auf die Wange, so, als hätten wir einen Streit gehabt. Mit einem schlechten Gewissen schlurfte ich ins Klassenzimmer, doch meine Stimmung hellte sich schlagartig auf, als ich Dairine auf ihrem Platz sitzen sah. Ich eilte zu ihr, ließ meine Schultasche von den Schultern gleiten und legte ihr den Zettel von Eliza direkt auf den Tisch.

„Das habe ich Sonntagmorgen in meiner Jackentasche gefunden“, fügte ich hinzu und sah sie gespannt an. Sie las die Nachricht, wobei sich ihre Augen vor Überraschung weiteten. „Sie war also doch da!“

„Ja, sie muss sich in die Garderobe geschlichen und mir den Zettel dort zugesteckt haben.“

„Aber wie kann es dann sein, dass niemand sie gesehen hat?“, überlegte Dairine laut. „Eliza war in der ganzen Stadt bekannt. Jeder kannte sie.“

Leider, fügte ich in Gedanken hinzu. „Sie versteckt sich, aber warum?“

„Vielleicht hat sie vor jemandem Angst“, schlussfolgerte Dairine.

„Das passt gar nicht zu ihr“, erwiderte ich und versuchte mir dabei meine respektlose Schwester ängstlich vorzustellen. Es gelang mir nicht.

„Oder …“, rief Dairine plötzlich aus, „jemand will, dass du aufhörst, nach ihr zu suchen und hat dir deshalb diese Nachricht zugesteckt. Vielleicht war es gar nicht Eliza?“

Ich nahm ihr den Zettel aus der Hand. Es war eindeutig Elizas Handschrift. „Aber ich hab sie doch gesehen“, setzte ich verzweifelt an. Das ergab alles keinen Sinn.

Mrs.Kelly betrat das Klassenzimmer, ohne dass irgendjemand sie beachtete.

„Und was ist mit dem Typ aus dem VIP-Bereich?“, wandte ich mich an Dairine. „Vielleicht hätte er uns mehr sagen können.“

„Ehrlich gesagt, fand ich den ziemlich merkwürdig“, gestand Dairine. Normalerweise war ich es, die sich vor Leuten fürchtete. Ich dachte an den dunklen, mystischen Ausdruck in den Augen des Fremden, während er mich unverhohlen gemustert hatte. Sein Blick war mir nicht unangenehm gewesen, sondern hatte mich irgendwie sogar stolz gemacht. Sonst wurde immer Eliza so angesehen, so begehrt.

„Wer mit meiner Schwester Zeit verbringt, kann nicht ganz normal sein“, entgegnete ich nur.

„Könnten wir bitte mit dem Unterricht anfangen?“, piepste Mrs. Kelly hinter dem Lehrerpult hervor. Sie war ein hoffnungsloser Fall. Niemand reagierte auf sie und so begann sie mit dem Musikunterricht, indem sie eine DVD in den Computer schob. Es war eine Dokumentation über Amadeus Mozart und uns stand es frei, zuzuhören und uns Notizen zu machen oder eben auch nicht. Ich tat Mrs. Kelly und mir selbst den Gefallen. Außerdem musste ich erst über Dairines Einwände nachdenken, bevor ich weiter mit ihr über Eliza sprechen konnte.

Dairine und ich saßen alleine in der Cafeteria an einem Fenster. Lucas hatte mir nur zugewunken, bevor er sich mit seinen Teamkollegen an einen Tisch gesetzt hatte. Offenbar war er sauer auf mich, denn sonst kam er wenigstens kurz vorbei, um mir einen Kuss zu geben. Sein distanziertes Verhalten tat mir weh und Dairine sah es mir an. „Alles okay bei euch?“

„Er spürt, dass ich ihm etwas verheimliche“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Warum weihst du ihn dann nicht ein?“, fragte sie. „Immerhin kennt er Eliza.“

„Aber er würde dem Ganzen mehr Aufmerksamkeit schenken als nötig“, sagte ich ausweichend.

„Tust du das denn nicht schon?“

Dairine verstand mich nicht. Ich suchte nicht nach Eliza, weil sie mir fehlte, sondern um sie daran zu hindern, wieder in das Leben von Lucas und mir zu treten. Wenn ich sie finden würde, würde ich ihr sagen, dass sie sich zurück nach Amerika verziehen solle, weit entfernt von mir.

Plötzlich kniff Dairine die Augen zusammen und fixierte einen Punkt hinter meinem Rücken. „Was ist los?“, fragte ich sie.

„Kevin O’Brian starrt die ganze Zeit schon zu uns“, flüsterte sie.

Sofort drehte ich mich um und blickte in dieselbe Richtung. In dem Moment stand Kevin auf und kam geradewegs auf uns zu. Ich hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt.

Er blieb direkt vor unserem Tisch stehen und blickte zögernd auf mich hinab.

„Du bist die Schwester von Eliza, oder?“

Ich sah ihn mit großen Augen an. „Ja, warum?“

„Kann ich kurz mit dir reden?“ Er blickte von Dairine zu mir. „Alleine?“

Seine Bitte überrumpelte mich völlig. Stockend stand ich auf. „Klar, sollen wir raus gehen?“

Er nickte und ging voraus. Dairine beäugte uns neugierig, während ich ihm durch die Cafeteria auf den Schulhof folgte. Wir ließen die einzelnen Schülergruppen weit hinter uns zurück und suchten uns einen Platz am Rande des Schulhofs unter einem Baum. Er knetete unruhig seine Hände, während er mir unentschlossen ins Gesicht sah. Unter seine Augen lagen dunkle Schatten und seine Nase war wund und gerötet. Offenbar hatte ihm der Tod von Alannah stark zugesetzt. Immerhin waren sie lange ein Paar gewesen, bevor meine Schwester alles zerstört hatte.

„Worum geht es denn?“, half ich ihm neugierig auf die Sprünge, obwohl ich mir bereits denken konnte, dass es um Eliza ging.

Er holte tief Luft. „Ich habe Eliza gesehen.“

Ich starrte ihn fassungslos an. „Wann?“

„Gestern Abend“, gestand er mir leise. „Sie stand plötzlich vor meinem Haus.“

„Hast du mit ihr gesprochen?“, wisperte ich.

Er nickte traurig. „Sie hat sich bei mir entschuldigt und gesagt, wie leid ihr die Sache mit Alannah täte.“

Das hörte sich überhaupt nicht nach meiner Schwester an. Sie entschuldigte sich bei niemandem. Niemals.

„Warum erzählst du mir das?“, fragte ich ihn misstrauisch.

„Sie hat gesagt, dass ich mit niemandem darüber reden darf, aber ich kann nicht aufhören, daran zu denken“, gestand Kevin und flüsterte nun ebenfalls, so, als ob uns jemand belauschen könnte.

„Hat sie noch etwas gesagt?“

„Nein“, antwortete er, aber ich sah ihm deutlich an, dass da noch mehr war. „Aber sie …“, er zögerte. „Sie war plötzlich weg.“

Ich runzelte die Stirn und verstand nicht, was er damit meinte. „Wie weg?“

Er raufte sich verzweifelt die Haare. „Im einen Moment stand sie vor mir und im nächsten war sie verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.“

Seine Worte ergaben keinen Sinn. Er war offensichtlich, dass ich ihm nicht glaubte. „Verdammt, ich weiß, wie verrückt sich das anhört“, stieß er aus. „Aber es war so!“ Er zuckte mit den Schultern und ließ mich alleine unter dem Baum stehen. Tausend Fragen schwirrten durch meinen Kopf. Eigentlich war ich froh gewesen, dass jemand außer mir Eliza gesehen hatte, aber was sollte ich mit Kevins Gestammel anfangen? Menschen lösten sich nicht einfach in Luft auf.

Plötzlich stand Lucas vor mir. Ich hatte ihn nicht kommen gesehen und fuhr erschrocken zusammen.

„Was wollte Kevin denn von dir?“, fragte er misstrauisch. Er musste uns aus der Cafeteria gefolgt sein. Es sah ihm nicht ähnlich, mir hinterher zu spionieren.

„Es geht ihm nicht gut. Alannahs Tod macht ihm ziemlich zu schaffen“, antwortete ich ausweichend.

„Und was hast du damit zu tun?“, wollte Lucas skeptisch wissen.

„Er hat mich gefragt, ob ich etwas von Eliza gehört hätte.“

„Was hast du ihm gesagt?“

„Nichts“, entgegnete ich und schob mich an ihm vorbei, um ebenfalls zu gehen, doch Lucas hielt mich am Arm zurück. „Du belügst mich!“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein …“

„Doch, tust du und ich kann nicht verstehen, warum.“

Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit. Wir waren immer ehrlich zueinander gewesen und nun stand mein Geheimnis zwischen uns wie eine Mauer. Ich biss mir auf die Unterlippe und sah ihn entschuldigend an. „Ich kann mit dir darüber nicht reden“, gestand ich.

Er packte mich bei den Schultern und sah mir flehend in die Augen. „Es geht um Eliza, oder?“

Ich schüttelte den Kopf, ohne ihm zu antworten und schob seine Hände von mir. „Bitte, lass es gut sein.“

Ich wollte an ihm vorbeigehen, doch er versperrte mir den Weg. „Du weißt, wo sie ist!“, klagte er mich an.

„Ich wünschte, es wäre so“, erwiderte ich ehrlich und lief weiter. Dieses Mal hielt Lucas mich nicht auf.

Lucas und ich hatten uns noch nie ernsthaft gestritten. Zwar hatten wir natürlich schon jede Menge Auseinandersetzungen gehabt, aber sie hatten nie länger als ein paar Stunden angehalten. Doch dieses Mal war es anders. Lucas ignorierte mich völlig auf der Heimfahrt im Schulbus. Er setzte sich nicht einmal neben mich. Ich war geschockt, verärgert und verletzt zugleich. Versuchte er mir etwa so, die Wahrheit zu entlocken? Er ließ mich ja schon links liegen, sobald er nur glaubte, dass ich etwas über Elizas Aufenthaltsort wusste. Wie würde er dann erst reagieren, wenn er erfuhr, dass ich sie gesehen hatte? Und nicht nur ich, sondern auch Kevin. Selbst Dairine hatte das zum Nachdenken gebracht. Sie war sich nun genauso sicher wie ich selbst, dass Eliza zurückgekehrt sein musste. Das konnte einfach kein Zufall sein.

Ich versuchte mich mit meinen Hausaufgaben abzulenken, was jedoch nur bedingt klappte. Gedankenverloren hob ich den Kopf und sah aus dem Fenster auf die alten Burgruinen, als ich plötzlich einen Mann zwischen den Mauern entlanglaufen sah. Das war an sich nicht ungewöhnlich. Schließlich gehörte Slade’s Castel zu einem beliebten Touristenziel in der Umgebung. Aber der Mann kam mir seltsam bekannt vor. Sein Haar war hellblond, fast weiß. War es der Fremde aus dem Club? Die Möglichkeit war zu verlockend, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen und so ließ ich meine Hausaufgaben auf meinem Schreibtisch zurück und stürmte die Treppe hinunter in den Flur. Meine Mum kam neugierig aus der Küche: „Gehst du zu Lucas?“

„Ähm … ja“, erwiderte ich spontan und fügte eilig hinzu: „Ich muss ihn etwas wegen meinen Mathehausaufgaben fragen.“

Mum war beruhigt und verschwand wieder hinter den Herd. Das Fenster der Küche richtete sich glücklicherweise nicht zu den Burgruinen, sodass sie meine Lüge wohl kaum bemerken würde.

Ich schlüpfte eilig in meine gelben Gummistiefel und zog mir die Regenjacke über, da es draußen bereits ordentlich stürmte und bald zu regnen beginnen würde.

Das Gras quietschte unter meinen Füßen, als ich über die Wiese zu dem alten Gemäuer lief. Genau hier hatte ich den Mann gesehen. Vielleicht war er weiter in die Burg gegangen. Ich betrat den rissigen Pflasterboden und lief langsam, aber aufmerksam tiefer in die alte Ruine hinein, so, dass man mich von außen nicht mehr hätte sehen können. Die Ruinen warfen lange Schatten und der Wind heulte durch die verlassenen Flure. Ich bekam eine Gänsehaut und wusste nicht, ob daran meine Angst oder die Kälte schuld war. Hinter der nächsten Ecke sah ich ihn. Er starrte in den Himmel. Ich räusperte mich und er drehte sich zu mir um. Sofort erkannte ich ihn wieder. Ihm schien es genauso zu gehen, denn sein Mund formte sich zu einem Lächeln, als er auf mich zusteuerte.

„Hey, was machst du denn hier?“, fragte er fröhlich.

In der Dunkelheit des Clubs hatte ich seine Augenfarbe nicht erkennen können, sie hatten nur dunkel und unheimlich ausgesehen. Jetzt sah ich, dass seine Augen grau waren, fast wie der Himmel an diesem Tag.

„Ich wohne hier“, entgegnete ich nur knapp.

Er runzelte amüsiert die Stirn. „Ich wusste gar nicht, dass du ein Schlossgespenst bist.“

Ich sah ihn strafend an. „Nicht hier, sondern neben der Burg.“

„Schon klar“, grinste er. Obwohl wir uns nicht kannten, ging er seltsam vertraut mit mir um. So, als ob uns irgendetwas miteinander verbinden würde.

„Und was machst du hier?“, fragte ich zurück.

„Ich bin neu in der Gegend und wollte mir die touristischen Highlights ansehen“, erklärte er schulterzuckend. „Leider hab ich mir dafür wohl einen schlechten Tag ausgesucht“, fügte er mit einem Blick auf den bereits donnernden Himmel hinzu.

„Das Wetter ist hier meistens schlecht“, erwiderte ich. Eigentlich hatte ich ihn nur nach Eliza fragen wollen, aber irgendwie erschien es mir jetzt, wo ich vor ihm stand, als unhöflich, direkt mit der Tür ins Haus zu fallen.

Wir gingen nebeneinander in Richtung des Ausganges. Er war in etwa so groß wie Lucas, nur muskulöser gebaut. Er trug wieder dieselbe Lederjacke, die mir in der Toilette in London schon an ihm aufgefallen war. Ich kam mir neben ihm schäbig vor in meinen gelben Gummistiefeln. Aber nicht ich war es, die hier nicht hergehörte, sondern er. „Hast du vielleicht Lust, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen?“, fragte er, als wir bei seinem Auto, einem unauffälligen schwarzen Audi, ankamen.

Ich sah zögernd zu unserem Haus und schüttelte dann den Kopf. „Vielleicht ein anderes Mal.“

Er schenkte mir ein spöttisches Grinsen. „Muss ich erst ein drittes Mal fragen, um mir keinen weiteren Korb von dir einzufangen?“

Ich errötete sofort. So hatte ich das noch nicht gesehen. „Du weißt ja jetzt, wo ich wohne“, entgegnete ich ausweichend mit einem Zwinkern.

„Ich werde es mir merken“, grinste er zurück und öffnete die Autotür. „Bis zum nächsten Mal“, sagte er, bevor er einstieg und losfuhr. Erst da fiel mir auf, dass ich ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.

Dear Sister 1 - Schattenerwachen

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