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6. Winter
ОглавлениеKurz vor dem Ende der letzten Schulstunde schrieb ich Lucas heimlich mit dem Handy eine Nachricht: Hey Lucas, ich fahre heute mit zu Dairine. Du brauchst nicht auf mich zu warten. Ich liebe dich, Winter.
Wir benutzten grundsätzlich keine Kosenamen füreinander, da wir das beide albern fanden. Seit nun schon einem Monat beendete ich jede meiner Nachrichten mit einem Ich liebe dich, ohne es auch nur einmal persönlich gesagt oder von Lucas eine Erwiderung darauf erhalten zu haben. Er ignorierte die drei Worte völlig.
Seine Antwort kam sofort: Alles klar, viel Spaß!
Enttäuscht starrte ich auf das Handydisplay. Was hatte ich erwartet? Dass er mich bitten würde, mich nicht ohne ihn mit jemandem zu treffen? Es war ja schließlich nicht so, als hätte Lucas außer mir keine Freunde. Jeden Mittwoch hatte er nach der Schule Fußballtraining mit seiner Mannschaft, sodass ich an diesen Tagen immer ohne ihn nach Hause fahren musste. Freitag- oder samstagabends traf er sich regelmäßig mit seinen Teamkollegen in einer Kneipe oder sie fuhren gemeinsam in den nächsten Club. Lucas hatte eine Art zweites Leben, in dem ich keine Rolle spielte. Meine ganze Welt drehte sich hingegen nur um ihn. So war es schon immer gewesen. Es musste ihm doch auffallen, dass ich ihm zum ersten Mal absagte, auch wenn es nur um eine gemeinsame Busfahrt ging.
Ich starrte auch noch auf mein Handy, als es bereits zum Schulschluss klingelte. Dairine war wie alle anderen Schüler schon startklar und stöhnte genervt auf, als sie meine Unterlagen immer noch auf dem Tisch herumliegen sah. Doch anstatt mich anzuschnauzen, nahm sie kurzerhand meine Tasche und stopfte meine Bücher selbst hinein. Danach hielt sie mir grinsend die Tasche entgegen. „Kommst du?“
Ich lächelte sie entschuldigend an und ließ das Handy in meiner Uniformjacke verschwinden. Lucas würde sich ohnehin nicht mehr bei mir melden.
Dairine wohnte mit ihren Eltern nahe dem Zentrum von Wexford. Sie fuhr normalerweise mit dem Fahrrad zur Schule, sodass sie dieses nun neben mir herschieben musste, während wir langsam an den Schaufenstern vorbeischlenderten. Wexford war eine typisch irische Kleinstadt mit Pflastersteinen, vielen alten Gebäuden mit bunten Hausfassaden und jeder Menge Pubs, in denen abends Livemusik gespielt wurde. Es ließ sich hier ganz gut aushalten. Doch wenn man wie Dairine in Amerika aufgewachsen war, musste es geradezu verschlafen und langweilig wirken.
Wir bogen von der Einkaufsstraße in eine kleine Seitengasse ab, die bei einem Strandzugang endete. Doch anstatt bergab zum Meer zu gehen, liefen wir den Berg hinauf, wo einsam ein großes Haus in den Dünen thronte. Ich hatte zwar gewusst, dass Dairines Eltern wohlhabend waren, aber mit so einer Villa hätte ich nicht gerechnet. Das Grundstück war von einem hohen Eisenzaun eingerahmt. Das Tor ließ sich nur durch den Fingerabdruck von Dairine oder dem ihrer Eltern öffnen. Meine Verwunderung musste mir ins Gesicht geschrieben stehen, denn Dairine wurde plötzlich sehr still. Sie wirkte fast verlegen, was ich von ihr nicht gewohnt war. Normalerweise prahlte sie ganz gerne, vor allem wenn es um Colorado ging.
„Jetzt schau nicht so. Ist auch nur ein Haus“, nuschelte sie, als wir den Garten passierten, in dem direkt mehrere Gärtner am Werk waren.
„Willst du was trinken?“
„Gerne“, erwiderte ich eingeschüchtert von dem ganzen Luxus. Der Boden war aus Marmor, die Decke stuckbesetzt und die Wände mit einer Goldtapete verziert.
„Geh doch schon mal in den Keller. Ich komme gleich nach“, sagte Dairine und deutete auf die Mahagonitreppe, die sowohl nach unten als auch nach oben führte. Geistesabwesend schlenderte ich die Treppe hinunter, wobei ich beeindruckt mit der Hand über das glatte Holz der Treppe fuhr. Es war nicht einmal ein leises Knarren der Stufen zu hören, wie es sonst bei alten Häusern der Fall war. Dairine wäre vermutlich entsetzt über den Zustand des Hauses, in dem ich lebte. Kaum dass ich die Treppe verlassen hatte, verschlug es mir erneut die Sprache. Der Keller war fast komplett mit einem Pool ausgefüllt. Die Rückwand des Hauses bestand aus deckenhohen Fensterscheiben, die freien Blick auf das Meer boten. Es war schlichtweg überwältigend.
Dairine räusperte sich hinter mir und reichte mir ein Glas mit Eistee. „Hast du Lust, eine Runde zu schwimmen?“
„Ich hab keine Badesachen“, murmelte ich verlegen, bevor ich einen großen Schluck nahm.
„Du kannst dir etwas von mir aussuchen, wir müssten die gleiche Größe haben.“
Eine halbe Stunde später ließ ich mich in einem von Dairines Badeanzügen über die Pooloberfläche gleiten. Daran könnte ich mich glatt gewöhnen! Dairine hatte nie von dem tollen Haus erzählt. Warum eigentlich nicht? Wenn die anderen aus unserer Schule davon wüssten, wäre sie mit einem Schlag eines der beliebtesten Mädchen der ganzen Stadt.
„Warum erzählst du eigentlich nie etwas von deinem Zuhause?“, fragte ich sie direkt.
„Warum sollte ich? Du erzählst doch auch nichts von deinem“, erwiderte sie ungerührt.
„Aber ich wohne auch nicht in einer Villa“, entgegnete ich verständnislos.
„Und ich würde lieber in unserem alten Haus in Colorado wohnen“, sagte Dairine abwehrend.
„Hattet ihr da keine Villa?“
„Nö, dabei hätte man dort einen Pool dringender als hier gebrauchen können. Damals hätte ich mir ein Bein ausgerissen für einen Pool.“
„Warum seid ihr eigentlich nach Irland gezogen?“
Es war das erste Mal, dass wir ein persönliches Gespräch führten, in dem es nicht um die Schule ging.
„Wegen der Arbeit meines Vaters. Er baut in Dublin eine Zweigstelle auf. Der Pool und die Villa sind reine Bestechungsgeschenke“, erwiderte sie zähneknirschend.
Ich merkte, dass sie das Thema nicht mochte und beließ es deshalb dabei. Dairine schwamm neben mich und ich spürte ihren musternden Blick auf meinem Gesicht. „Wolltest du mir nicht etwas erzählen?“, hakte sie neugierig nach. Richtig! Eliza … Den Gedanken hatte ich verdrängt.
„Es geht um meine Schwester“, setzte ich an und stieg aus dem Pool. Ich griff mir eines der Badetücher und wickelte es um mich, bevor ich mich in eine der Badeliegen gleiten ließ. Dairine folgte mir. „Was ist mit ihr? Hast du etwas von ihr gehört?“
„Das auch, aber ich glaube, dass ich sie heute schon wieder gesehen hab.“
„Hier?“, sagte Dairine erstaunt und zog dabei ihre Augenbrauen hoch.
„Vor der Schule in einem gelben Sportwagen“, bestätigte ich ihr.
„Im Englischunterricht“, ergänzte sie, da es die Stunde gewesen war, die ich fluchtartig verlassen hatte.
„Genau“, stimmte ich ihr zu. „Die Polizisten haben mich auch nach ihr gefragt. Sie wollten wissen, ob Eliza etwas mit Alannah zu tun gehabt hätte. Ich hab es verneint.“
„Aber du hast gelogen?“, hakte Dairine nach und ich war überrascht, wie gut sie mich in der Zwischenzeit schon kannte. Diese Erkenntnis brachte mich dazu, ihr von meiner Beobachtung mit Kevin zu erzählen, und auch über Elizas Brief und über das belauschte Gespräch in der Toilette des Black Rabbits. Dairine hörte aufmerksam zu, ohne etwas zu sagen. Erst als ich endete, legte sie ihre Stirn nachdenklich in Falten. „Okay, mal angenommen, Eliza wäre zurück, warum sollte sie sich bei dir und euren Eltern dann nicht melden?“
„Vielleicht schämt sie sich?“, überlegte ich laut, wobei ich sofort merkte, dass das nicht zu meiner älteren Schwester passen würde. Sie kannte so etwas wie Schamgefühl gar nicht.
„Aber wenn sie nicht bei euch zu Hause ist, wo wohnt sie dann?“, fragte Dairine. „Wer waren früher ihre Freunde?“
Ich dachte sofort an Lucas, aber sein Gesicht war wie ein offenes Buch. Ich würde ihm direkt ansehen, wenn er mir etwas verheimlichte. Er war noch ahnungsloser als ich, dessen war ich mir sicher. Eliza hatte in der Schule nur oberflächliche Freundschaften geführt, da sie sich mit den meisten Leuten früher oder später zerstritt. Es erschien mir unwahrscheinlich, dass sie sich bei einem von ihnen versteckte. „Ich weiß es nicht“, gestand ich verzweifelt.
„Kennst du irgendwelche Orte, an denen sie früher oft war? Vielleicht ist sie auch jetzt dort.“
Eliza war Stammkunde in so gut wie jedem Pub, Kneipe oder Club der näheren Umgebung gewesen. Sie hatte unseren Eltern sogar Geld gestohlen, wenn sie ihr freiwillig nichts gaben. Doch meistens schnorrte sie sich einfach durch und ließ sich von Männern aushalten. „Sie war oft feiern.“
„Vielleicht hat ja einer der Wirte sie gesehen“, mutmaßte Dairine, verwarf diesen Einwand aber sofort wieder: „Aber dann hätte er vermutlich die Polizei gerufen, oder? Immerhin hing Elizas Vermisstenmeldung in der ganzen Stadt aus.“
„Eliza kann sehr charmant sein“, erwiderte ich zögerlich. „Vielleicht hat sie ihn bestochen und dort auch direkt einen Unterschlupf gefunden.“
Dairine verstand auf Anhieb, welche Art von Bestechung ich meinte. So gut kannte selbst sie meine Schwester. „Wir könnten mit einem Bild von ihr durch die Kneipen ziehen. Vielleicht erinnert sich jemand an Eliza?“, schlug sie mir vor und ich hätte sie am liebsten umarmt. Sie glaubte mir und war sogar bereit, mir bei der Suche nach meiner Schwester zu helfen. Nicht, dass ich Eliza vermisst hätte, aber diese Ungewissheit war unerträglich. „Am Wochenende?“, fragte ich sie grinsend und Dairine erwiderte: „Jawohl, Sir.“
Ich saß am Samstagabend neben meiner Mum in unserem alten Ford Focus. Sie hatte darauf bestanden, mich höchstpersönlich bei Dairine abzuliefern, egal, wie sehr ich mich auch dagegen gewehrt hatte.
„Mum, ich bin siebzehn!“, hatte ich gestöhnt. „SIEBZEHN!“
Doch sie hatte nur den Kopf geschüttelt und streng gesagt: „Siebzehn ist immer noch keine achtzehn, also fahre ich dich.“
Auch auf meinen Vorschlag, mich einfach in Wexford abzusetzen, war sie nicht eingegangen. Und so schwieg ich die Autofahrt über beharrlich.
„Ich habe natürlich gewusst, dass es irgendwann so kommen würde, aber ich hatte gehofft, wir hätten noch etwas länger Zeit“, seufzte sie. Ich sah sie skeptisch an. „Siebzehn“, erinnerte ich sie erneut. Ich gehörte zur absoluten Ausnahme und war geradezu ein Spätzünder, was das Ausgehen anging. Und jetzt beschwerte sich meine Mum auch noch?! „Wie lange hätte ich deiner Meinung nach denn noch warten sollen?“
„Wenigstens bis Eliza wieder da ist“, murmelte sie kaum hörbar. Ich sah meine Mum mitleidig und gleichzeitig wütend an. Sie und Dad litten unglaublich unter Elizas Verschwinden und mir war es so gut wie egal. Es wurde Zeit, dass ich sie fand und dazu zwang, mit unseren Eltern zu reden. Ich ertrug ihre traurigen Gesichter nicht länger. Genauso wenig wie das von Lucas, sobald die Sprache auf Eliza kam. Ich hatte es satt, dass sich alles immer nur um sie drehte.
Mum hielt staunend vor dem großen Anwesen von Dairines Familie an. „Und da wohnt deine Freundin?“
„Ja, sie kommt aus Colorado“, sagte ich, während ich ausstieg, als wäre es eine Erklärung.
„Lad sie doch auch mal zu uns ein. Ich würde sie gerne kennenlernen“, schlug sie lächelnd vor. Sie meinte es nur gut, aber ich würde meiner Tradition, niemanden außer Lucas mit nach Hause zu bringen, wohl auch weiter treu bleiben. „Ich schlafe bei Dairine und rufe dann morgen früh an, wenn du mich abholen kannst.“ Schnell schlug ich die Autotür hinter mir zu und lief zu der Sprechanlage. Das Tor öffnete sich, noch bevor ich überhaupt geklingelt hatte. Wahrscheinlich hatte Dairine auch noch den peinlichen Abschied von meiner Mum beobachtet.
Dairine lag auf ihrem großen Himmelbett und musterte mich von oben bis unten. Ich hatte meine Haare in einem lockeren Pferdeschwanz zurückgebunden, ein schwarzes T-Shirt, eine Jeans und meine roten Chucks angezogen.
„So kommst du nie in einen Club!“, entschied Dairine.
„Wir sind hier in Irland und nicht in Amerika“, entgegnete ich leicht gekränkt und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das tut doch nichts zur Sache. Wo bleibt denn dann der Spaß?“, erwiderte Dairine und drehte eine neongrüne Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Sie stand auf und öffnete zwei der Türen ihres großen Kleiderschranks. „Ich hab jede Menge Auswahl. Das meiste kann ich hier wegen der blöden Schuluniformen sowieso nicht mehr tragen. Willst du dir nicht etwas aussuchen?“
Sie selbst zog ein kurzes Minikleid hervor. Es war schwarz, jedoch mit grünen Pailletten und Steinen aufwendig verziert. Dazu wählte sie Pumps mit hohen Absätzen. Sie hätte Eliza locker Konkurrenz machen können mit diesem Outfit.
Ich wollte Dairine nicht verärgern und deshalb sagte ich: „Hast du vielleicht einen Rock?“ Sofort fügte ich aber sicherheitshalber hinzu: „Auf hohen Schuhen kann ich nicht laufen.“
Dairine war damit zufrieden und reichte mir einen Minirock aus schwarzem Leder. Eindeutig Elizas Geschmack, aber nicht meiner. Ich hasste es schon selbst, dass ich ständig an meine Schwester dachte, aber ich war machtlos dagegen, solange sie verschwunden war. Schnell zog ich meine Jeans aus und den Rock an. Er saß deutlich enger als die weiten Faltenröcke unserer Schuluniform. Es war ungewohnt und ich hatte das Gefühl, ihn ständig runterziehen zu müssen, damit man meinen Po nicht sah, aber Dairine fand, ich sähe damit scharf aus. Sie überredete mich noch zu rotem Lippenstift, bevor wir dann endlich loszogen.
Da es noch früh in der Nacht war, beschlossen wir, mit unserer Suche in den Pubs zu beginnen. Als erstes betraten wir einen Pub in der Nähe des Hafens mit dem Namen Sailors Pearl. Wir suchten uns einen Platz in einer Ecke und zeigten beim Bestellen dem Wirt das Foto von Eliza. „Hast du das Mädchen in den letzten Tagen hier gesehen?“
Der Wirt musterte das Bild nachdenklich. „Ist das nicht das Mädchen, das vor ein paar Monaten verschwunden ist? Früher war sie oft hier.“
„Und in letzter Zeit?“
„Hat man sie etwa gefunden?“
Ich merkte schon, dass das wenig Sinn hatte, aber Dairine blieb hartnäckig. „Nein, deshalb fragen wir dich ja.“
Der Wirt schüttelte den Kopf. „Ne, die war nicht mehr hier. Was soll die Fragerei eigentlich? Seid ihr nicht ein bisschen jung für die Polizei?“
„Das ist meine Schwester, ok?!“, erwiderte ich etwas barsch und der Mann hob abwehrend die Hände. „Schon gut, war ja nur eine Frage.“
In den nächsten Kneipen erging es uns kaum besser. Die meisten Leute, die wir über Eliza befragten, reagierten verstört und fühlten sich durch unsere Fragerei fast angegriffen. Niemand hatte sie gesehen. Da wir es mittlerweile kurz vor Mitternacht hatten, nahmen wir ein Taxi, das uns in den Club Devils hell bringen sollte. Eliza hatte oft von dem Laden geschwärmt, da sich dort die heißesten Typen rumtreiben sollten. Was Eliza als heiß bezeichnete, nannte ich jedoch eher zwielichtig. Schon als das Taxi in dem dunklen Industriepark hielt, wäre ich am liebsten sitzen geblieben und auf der Stelle zurückgefahren.
„Was ist denn jetzt? Willst du deine Schwester finden oder nicht?“, fragte Dairine ungeduldig.
„Vielleicht ist es nicht so gut, ausgerechnet jetzt, wo ein Mörder durch Wexford läuft, nach ihr zu suchen“, gab ich ängstlich zu bedenken.
„Wir sind zu zweit, da passiert schon nichts“, versicherte mir jedoch Dairine und öffnete die Tür des Taxis. Sie bezahlte den Taxifahrer und wünschte ihm noch einen schönen Abend. Ich hatte nicht genug Geld, um mich von ihm nach Hause fahren zu lassen und war so mehr oder weniger gezwungen, Dairine zu folgen. Ich klammerte mich dicht an sie, während wir über den dunklen Asphalt zu der angelehnten Stahltür liefen, aus der laute Musik drang. Der harte Bass tat mir jetzt schon in den Ohren weh und ließ mein Trommelfell vibrieren. Sobald wir die Tür aufstießen, wehte uns auch schon der Geruch von Zigaretten und hochprozentigem Alkohol entgegen. Kein Wunder, dass es Eliza hier gefallen hatte.
Hinter der Tür standen zwei Männer, sie ragten wie Schränke vor uns auf. „Wo soll es denn hingehen?“, knurrte einer der beiden.
„Na, wohin wohl?!“, grinste Dairine ihn frech an, ohne sich auch nur die geringste Furcht anmerken zu lassen.
„Seid ihr denn schon einundzwanzig?“, fragte der Mann misstrauisch. Solange wir in den Pubs keinen Alkohol tranken, nahm es niemand mit dem Alter so genau, aber hier war das wohl anders. Vielleicht war der Laden doch nicht ganz so heruntergekommen, wie es den Anschein machte. Fast erleichtert wandte ich mich bereits zum Gehen, doch Dairine ließ nicht locker.
„Wir haben unsere Pässe leider zu Hause vergessen, könnten zwanzig Euro diese ersetzen?“
Sie zog einen Schein aus ihrer Jackentasche und hielt ihn dem Mann unter die Nase. Er sah zögernd zu seinem Kollegen und erwiderte dann. „Mach vierzig draus und ich nehme es nicht ganz so genau.“
Dairine zog auch noch einen zweiten Schein hervor und reichte jedem der beiden Türsteher eine Zwanzigeuronote. „Kauft euch was Schönes“, erwiderte sie frech und zog mich an den beiden Männern vorbei. „Und da soll nochmal einer sagen, Geld regiere nicht die Welt“, murmelte sie zufrieden.
„Woher hast du das ganze Geld?“, fragte ich neugierig. Klar, ich hatte die riesige Villa, in der sie lebte, selbst gesehen. Aber gleichzeitig musste sie im Supermarkt arbeiten, um sich die Flüge nach Colorado leisten zu können.
„Meine Eltern unterstützen mich gerne darin, dass ich mir endlich Freunde aus der Gegend suche“, erwiderte sie mit einem komischen Unterton in der Stimme. Sie schien sich über irgendetwas zu ärgern. Vermutlich sahen es ihre Eltern nicht gern, dass sie immer noch so sehr an ihrer Heimat hing und sich jeden Tag danach zurücksehnte.
Wir gaben unsere Jacken an der Garderobe ab, bevor wir uns an der Bar zwei Colas bestellten. Ich war froh, dass Dairine es wenigstens nicht mit dem Alkohol übertrieb. Das Erlebnis in London hatte mir gereicht.
Neugierig sahen wir uns in dem vollen Club um und erkannten jede Menge Leute aus unserer Schule wieder. Offenbar machten die Türsteher für einen kleinen Extraverdienst öfter mal eine Ausnahme. „Siehst du sie irgendwo?“, fragte Dairine. Ich schüttelte den Kopf, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Eliza konnte sich unmöglich einfach zwischen ihre alten Bekannten mischen, solange sie noch als vermisst galt. Dafür hatte ich jemand anderen erspäht, den ich nur zu gut kannte: Lucas. Er saß mit einer Horde Jungen an einem Tisch vor der Tanzfläche. Zwischen ihnen saßen mehrere Mädchen. Lucas saß direkt zwischen zwei von ihnen und lachte aus vollem Hals.
„Oh“, sagte Dairine nur, die die Gruppe nun ebenfalls entdeckt hatte. „Wusstest du, dass er hier ist?“
„Nein“, knurrte ich. „Aber ich habe auch nicht gefragt.“
Ich hatte Lucas immer blind vertraut, war aber davon ausgegangen, dass er mit seinen Freunden unterwegs war. Daran, dass Mädchen dabei sein könnten, hatte ich nie gedacht. Es gefiel mir ganz und gar nicht, wie sie sich an ihn hängten und mit ihren Wimpern klimperten.
„Lass uns ein paar Leute nach Eliza fragen und dann wieder abhauen“, schlug Dairine vor und steuerte auf den nächsten Kellner zu. „Kennst du das Mädchen?“, fragte sie direkt und hielt ihm das Foto von Eliza vors Gesicht.
„Klar, das ist doch Eli!“, rief er sofort freudig aus. „Ist sie wieder da?“
Schon wieder eine Sackgasse.
„Leider nicht, aber kannst du mir sagen, mit welchen Leuten sie immer hier war?“, fragte Dairine weiter. Der Kellner verzog nachdenklich sein Gesicht. „Hm, Eli war immer sehr kontaktfreudig.“ Da verriet er mir nichts Neues. „Aber in den letzten Wochen vor ihrem Verschwinden war sie immer mit einem blonden Typen unterwegs, der ist heute Abend auch da.“
Blonder Typ? Sofort tauchten die Bilder aus der Toilette in London wieder vor meinem inneren Auge auf. „Wo ist er?“, stieß ich sofort aus.
Der Kellner deutete auf eine Treppe, die auf die Tribüne im oberen Stockwerk führte. „Er hat den VIP-Bereich gemietet. Da dürft ihr nur rein, wenn er euch einlädt.“
Dairine schenkte ihm ein breites Lächeln. „Vielen Dank, du warst uns eine große Hilfe!“ Dann nahm sie mich bei der Hand und zog mich quer über die Tanzfläche zu dem abgesperrten VIP-Aufgang. Ein weiterer Türsteher blockierte den Eingang.
„Kannst du dem Gastgeber bitte sagen, dass Eliza hier ist?“, raunte Dairine ihm ins Ohr. Der Türsteher runzelte die Stirn, zog aber ein Walkie-Talkie aus seinem Gürtel, in das er etwas sprach, während er uns den Rücken zuwendete.
„Clever“, lobte ich Dairine grinsend. Auf die Idee wäre ich nicht gekommen.
Es dauerte nicht einmal eine Minute, da kam auch schon ein Mann die Treppen heruntergeeilt. Sobald ich sein Gesicht und seine Haare sah, erstarrte ich. Es war wie eine Art Flashback. Das war der Typ, den ich in der Toilette mit Eliza hatte streiten sehen! Er wirkte jedoch enttäuscht, uns und nicht meine Schwester bei dem Türsteher vorzufinden.
„Was soll das? Keine von euch beiden ist Eliza. Soll das ein schlechter Scherz sein?!“, fuhr er uns wütend an und wandte sich bereits zum Gehen.
„Eliza ist meine Schwester!“, rief ich verzweifelt aus. „Bitte, ich suche nach ihr!“
Der Mann hielt sofort inne und wandte sich erneut zu uns um. Er musterte neugierig mein Gesicht. „Du siehst ihr nicht ähnlich“, stellte er verblüfft fest. Verlegen strich ich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatte. Eliza und ich waren wie Feuer und Wasser, völlig verschieden. Sowohl charakterlich als auch äußerlich. Während die meisten meine Schwester als hübsch und aufreizend beschrieben, entsprach ich eher dem Typ Mädchen von Nebenan. Doch plötzlich setzte der Mann ein Lächeln auf, bei dem seine strahlend weißen und perfekten Zähne entblößt wurden. „Du bist hübscher.“
Ich glaubte ihm kein Wort, dennoch war ich dankbar für die Dunkelheit, die meine glühenden Wangen versteckte. „Wie lange ist es her, dass du sie gesehen hast?“, fragte ich ihn und ignorierte sein Kompliment.
„Wollt ihr nicht mit rauf kommen und dort mit mir weiterreden?“, fragte er freundlich und reichte mir seine Hand. In dem Moment ertönte eine bekannte Stimme hinter mir. „Winter? Was machst du denn hier?“
Lucas! Erschrocken fuhr ich herum. Hatte er das Gespräch mitbekommen?
„Ich … ich …“, begann ich auf der Suche nach einer Ausrede zu stottern.
„Amüsieren, was denn sonst?!“, kam mir Dairine zur Hilfe.
„Es ist schon nach Mitternacht, machen sich deine Eltern denn keine Sorgen?“, fragte Lucas fürsorglich wie immer. Er sah von mir zu dem Mann, der uns gerade in seinen VIP-Bereich eingeladen hatte. „Kennt ihr euch?“, wollte Lucas misstrauisch wissen.
Ich schüttelte schnell den Kopf, worauf Lucas erwiderte: „Kommt, ich fahr euch nach Hause.“ Ganz untypisch für ihn, warf er dem Mann einen feindseligen Blick zu. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Sonst war er immer die Ruhe in Person und zu jedem freundlich. Konnte es sein, dass Lucas eifersüchtig war? Allein der Gedanke erfüllte mich mit Stolz und ich nahm dankbar seine Hand. Dairine sagte zu dem Mann mit den hellblonden Haaren: „Vielleicht ein anderes Mal.“
Wir holten unsere Jacken an der Garderobe ab und stiegen danach zu dritt in Lucas‘ Pick-up. So vernünftig wie er war, hatte er keinen Alkohol getrunken, um später noch nach Hause fahren zu können. Eben ganz mein Lucas.
Wir setzten Dairine vor ihrem Haus ab, bevor wir über die unebene Landstraße weiter nach Slades Castle fuhren. Da es auf diesem Weg keine Straßenlaternen gab, war Lucas sehr vorsichtig und drosselte das Tempo. Ich sah ihm gerne beim Fahren zu. Dabei hatte er immer diesen konzentrieren Ausdruck im Gesicht.
„Was wollte eigentlich dieser Typ von euch?“, fragte Lucas unerwartet.
„Er hat uns in seinen VIP-Bereich eingeladen“, sagte ich ehrlich.
„Warum?“, hakte Lucas weiter nach, so, als wäre es völlig unmöglich, dass ein anderer Mann sich für mich interessierte.
„Vielleicht stand er auf Dairine“, erwiderte ich ausweichend und dachte an die leuchtenden Augen des Mannes und wie er mich damit angesehen hatte. Sobald ich erwähnt hatte, dass Eliza meine Schwester war, galt seine Aufmerksamkeit nur noch mir. Er hatte Dairine nicht mehr mit einem Blick gewürdigt.
„Du hast ihn nach Eliza gefragt“, stellte Lucas fest. Also hatte er es doch gehört. „Warum?“
Ich schob meine Hände tief in meine Jackentasche und spürte sofort etwas knistern. Ein Papier. War es zuvor auch schon da gewesen? „Der Kellner hatte gesagt, dass er Eliza vor ihrem Verschwinden öfters mit dem Typen gesehen hat.“
„Du hast den Kellner auch nach Eliza gefragt?“
„Ja“, erwiderte ich knapp.
Lucas sah mich nachdenklich von der Seite an. In seinem Gesicht lag ein weicher, liebevoller Ausdruck. „Ich vermisse sie auch.“
Ich verkniff mir ein Augenrollen und sagte lieber nichts. Es war besser, Lucas in dem Glauben zu lassen, dass meine ältere Schwester mir fehlte, als ihm die Wahrheit zu sagen.
„Ich finde trotzdem, du solltest es der Polizei überlassen, nach ihr zu suchen. Immerhin wissen wir jetzt, dass sie am Leben ist. Wenn es gar nicht anders geht, wird sie sich bei euren Eltern melden, damit sie ihr Geld schicken, um von Amerika zurückfliegen zu können.“
Ich nickte eilig, um das Thema so schnell wie möglich zu beenden. „Willst du heute bei mir schlafen?“, fragte ich Lucas, jedoch mit wenig Hoffnung auf eine positive Antwort.
„Es ist schon spät und ich möchte mich nicht wie ein Einbrecher in euer Haus schleichen“, erwiderte Lucas ausweichend. Das war mir schon vorher klar gewesen. Wir hielten vor dem Haus seiner Familie und stiegen aus. Lucas brachte mich selbstverständlich bis zur Haustür, obwohl sie in Sichtweite seiner eigenen war. Er küsste mich erst auf die Stirn und dann auf den Mund. „Schlaf gut.“
Erst als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, ging er los. Ich wollte den Schlüssel in meine Jackentasche stecken, als ich erneut den Zettel ertaste. Verwirrt zog ich den kleinen Papierschnipsel hervor und zog scharf die Luft ein:
Hör auf nach mir zu suchen!
Eliza