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2. Winter
ОглавлениеAm Freitagmorgen war der Leichenfund im Wald nach wie vor das alles beherrschende Gesprächsthema in der Schule. Die Neuigkeit des Tages war, dass es sich bei der Leiche nicht, wie angenommen, um eine Schülerin aus Wexford handelte, sondern, dass das sechszehnjährige Mädchen vor einer Woche in London verschwunden war. Ihre Eltern hatten sie erst am Vortag des Mordes als vermisst gemeldet. Offenbar war es nichts Ungewöhnliches, dass sie für ein paar Tage nichts von ihr hörten, was mich an meine Schwester denken ließ. Aber länger als drei Tage war sie noch nie weggeblieben und deshalb hatten ihre Eltern sich schließlich doch dazu entschlossen, zur Polizei zu gehen. Es muss ein Schock für sie gewesen sein, bereits einen Tag später die Meldung zu bekommen, dass ihre Tochter nie nach Hause zurückkehren würde. Obwohl Eliza nun schon seit Monaten verschwunden war, wäre der Fund ihrer Leiche für meine Eltern nicht weniger schlimm, als wäre sie erst einen Tag weg gewesen.
So schockierend diese grausige Tat auch war, so zeigten sich die Bewohner von Wexford doch gleichzeitig irgendwie erleichtert darüber, dass die Tote nicht aus ihrer Stadt stammte. Der Mord war zwar hier verübt worden, aber da das Mädchen aus London kam, lag der Verdacht nahe, dass ihr Mörder ebenfalls nicht aus der Gegend kam. Vielleicht war Wexford nur rein zufällig zum Schauplatz eines Ritualmordes geworden? Dass nun jedoch London mit der Tat in Verbindung gebracht wurde, machte die Sache für mich nicht wirklich besser - ganz im Gegenteil. Denn genau dorthin war ein Klassenausflug samt Übernachtung für die nächste Woche geplant gewesen. Nun waren alle Lehrer in Sorge und überlegten, den Ausflug zu verschieben oder sogar ausfallen zu lassen. Nicht, dass ich viele Freunde in meiner Klasse gehabt hätte und wild darauf gewesen wäre, Zeit mit ihnen zu verbringen, aber ich war dankbar um jede Gelegenheit, die mir eine Chance bot, für wenigstens ein paar Stunden unserer tristen Graslandschaft zu entkommen. Und mal ehrlich, in einer Großstadt wie London verschwanden sicher täglich Mädchen. Dies war dort wohl keine Ausnahme und so auch kein unmittelbarer Grund, den Ausflug abzusagen.
Meine Klassenkameraden waren da glücklicherweise ganz meiner Meinung. Unser Klassensprecher und gleichzeitig auch Klassenclown Carson protestierte am lautesten: „Gerade jetzt sollten wir nach London fahren. Dort fallen wir viel weniger auf, als hier wie verängstigte Schafe auf den Mörder zu warten.“
Mrs. Kelly hatte vor wenigen Jahren ihr Lehramtsstudium beendet. Wir waren ihre erste eigene Klasse und demnach scheute sie sich vor jeglicher Gefahr und jeder Art von Diskussion, die außerhalb ihres Lehrplans stattfand. Auch jetzt fühlte sie sich sichtlich unwohl. Kopfschüttelnd schob sie ihre schwarze Brille auf ihrer Nase zurecht. „Ich kann das nicht alleine entscheiden. Darüber muss ich erst mit dem Direktor sprechen.“
Carson hatte kein Mitleid mit ihr: „Kommen Sie schon, Mrs. Kelly. Wenn Sie dafür sind, hat der Direktor auch nichts dagegen. Sie sind doch unsere Klassenlehrerin, Sie müssen sich für uns einsetzen!“
Mrs. Kelly dachte verzweifelt über seine Worte nach und wog das Für und Wider ab, so wie sie es wahrscheinlich in ihrem Pädagogikkurs an der Universität gelernt hatte. „Ich werde darüber nachdenken“, antwortete sie schließlich vage.
Meine Tischnachbarin Dairine stupste mich leicht mit dem Ellbogen an. „Was hältst du von einer Wette? Gibt die Kelly nach oder hat sie zu viel Schiss?“
Ich legte den Kopf leicht schief und betrachtete Mrs. Kellys ängstliches und verzweifeltes Gesicht. „Sie ist ein Angsthase.“
„Du glaubst also, aus London wird nichts?“
„Du weißt doch, ich bin Pessimistin.“
„Ich nicht. Ich sage, sie hat größere Angst vor Carson und der Meute als vor einem Mörder in London“, grinste Dairine mit einem siegessicheren Lächeln.
„Was ist der Wetteinsatz?“
„Ein Cocktail in London? “
„Wenn ich recht habe, fahren wir gar nicht nach London.”
„Na dann brauchst du doch auch keinen Cocktail zu zahlen“, grinste mir Dairine frech entgegen. Sie war meine einzige Freundin. Wenn man das, was uns beide verband, überhaupt als Freundschaft und nicht eher als Zweckgemeinschaft bezeichnen konnte. Ich hatte mich noch nie außerhalb der Schule mit ihr getroffen. Ich wusste nicht einmal, welche Hobbys sie hatte und ehrlich gesagt, hatte es mich auch nie interessiert. Meine Freizeit hatte ich schon immer mit Lucas und Eliza, sofern sie uns mit ihrer Anwesenheit beehrte, verbracht. Dairine erging es da ähnlich. Sie war vor drei Jahren mit ihrer Familie aus Colorado hierhergezogen. Sie sprach nicht nur anders als wir, sondern sah auch anders aus. Während unsere Schuluniformen alle akkurat gebügelt und gefaltet waren, peppte Dairine sie mit Buttons von mir unbekannten Rockbands und neonfarbenen Bändern auf. In ihren Haaren trug sie verschiedenfarbige Kunsthaarsträhnen. Man erkannte sie schon von Weitem wie ein leuchtender Stern. Viele glaubten deshalb, dass sie sich für etwas Besseres hielt oder verstanden sie schlicht nicht. Auch ich konnte Dairines Gedankengänge oft nicht ganz nachvollziehen, aber es war wohl normal, dass sich zwei Außenseiter zusammenschlossen. Wie hieß es so schön? Zusammen war man weniger allein - zumindest schien es so.
Am Abend machten sich meine Eltern fertig, um wie jedes Jahr an diesem Tag auszugehen. Es war der fünfundzwanzigste Oktober: Ihr Jahrestag und damit der einzige feierliche Anlass, an dem sie ohne mich und Eliza das Haus verließen. Wegen ihrer Sorgen um meine Schwester hatten sie ihn dieses Jahr eigentlich ausfallen lassen wollen. Eliza war nun schon seit einem halben Jahr verschwunden.
„Ich werde mich nicht amüsieren können, solange ich nicht weiß, wie es Eliza geht“, hatte meine Mutter traurig gesagt.
„Sie wird nicht ausgerechnet heute wiederkommen. Und selbst wenn, wird sie dann auch noch da sein, wenn ihr von eurem Rendezvous zurückkommt“, hatte ich erwidert, in der Hoffnung, dass sie mir glaubte.
Es war stunden- und tagelange Schwerstarbeit gewesen, sie zu überzeugen. Doch sobald ich meine Mutter überredet hatte, war Dad ein Kinderspiel gewesen. Er richtete sich grundsätzlich nach meiner Mum.
Sie standen in ihrer nobelsten Kleidung vor mir und taten so, als würden sie für einen ganzen Monaten verreisen und nicht nur für zwei Stunden in die Stadt fahren.
„Wir schließen gleich die Haustür ab, aber denke bitte daran, sie noch einmal zu kontrollieren, bevor du ins Bett gehst.“
Ich nickte brav, um die Belehrungen so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
„Kommt Lucas rüber?“
Wieder ein Nicken.
„Trinkt keinen Alkohol!“
Ich verdrehte die Augen. Lucas und Alkohol, guter Witz! „Nein, machen wir nicht.“
„Und wenn Eliza sich meldet, rufst du uns sofort an.“
„Natürlich!“ Sie erwarteten nach wie vor, dass meine Schwester jede Sekunde anrufen könnte. Sollte sie tatsächlich anrufen, würde ich ihr sagen, dass sie das letzte, verantwortungsloseste Miststück war und sofort wieder auflegen. Es würde tatsächlich zu ihr passen, ausgerechnet heute anzurufen und unseren Eltern damit den Abend zu versauen. Rücksichtslos und egoistisch waren Eigenschaften, die meine Schwester gut beschrieben. Wobei, für meine Eltern wäre es wohl ein Grund zur Freude. Als würden Weihnachten und Geburtstag zusammenfallen.
„Wir bleiben nicht lange weg, Schatz. Wenn du Angst bekommst, kannst du uns natürlich auch jederzeit anrufen.“
Ich stöhnte genervt auf. Ich war weder fünf noch alleine. Von mir aus hätten sie die ganze Nacht wegbleiben können, denn ich hatte meine eigenen Pläne. Pläne mit Lucas, von denen er genauso wenig wusste wie meine Eltern.
„Mum, ich bin schon ein großes Mädchen.“
„Für uns wirst du immer unsere kleine Prinzessin bleiben“, säuselte Dad, streichelte mir übers Haar und gab mir einen Kuss auf den Kopf. Mum tat es ihm nach. Seit Eliza weg war, waren sie noch besorgter und rührseliger als ohnehin schon.
„Geht jetzt bitte, bevor es noch peinlicher wird.“
Sie lachten beide und verließen endlich, endlich, ENDLICH das Haus. Ich wartete bis ich ihr Auto auf die Straße abbiegen sah, erst dann rief ich Lucas an.
„Sie sind weg, kommst du rüber?“
„Ich bin noch nicht mit den Mathehausaufgaben fertig.“
Mein kleiner Streber! „Die kannst du auch noch morgen oder Sonntag machen.“
„Ich mache sie aber lieber erst zu Ende. Hast du deine Hausaufgaben denn schon alle gemacht?“
„Nein ...“ Selbst wenn ich vorgehabt hätte, sie zu machen, war ich dafür im Moment viel zu nervös.
„Soll ich dir helfen?“
Würde er wohl schneller zu mir kommen, wenn ich ja sagte? „Das wäre lieb.“
„Okay, ich beeile mich, damit ich schnell bei dir bin.“
„Danke, du bist ein Schatz!“, flötete ich ins Telefon.
„Ich hab dich lieb.“
Ich hasste es, wenn er das sagte. Wie ein kleiner netter Junge. So etwas sagte man zu seinen Eltern oder der besten Freundin, aber nicht zu seiner festen Freundin. Trotzdem erwiderte ich: „Ich dich auch. Bis gleich!“
Ich wünschte er würde endlich Ich liebe dich sagen, aber vielleicht würde er das nach dem heutigen Abend ja.
Schnell holte ich den Beutel mit den Teelichtern aus dem Eichenschrank im Wohnzimmer hervor und flitzte ins obere Stockwerk. Ich hatte mein Bett bereits frisch bezogen. Nun verteilte ich die Teelichter im ganzen Zimmer und ließ nur einen schmalen Weg zu meinem Bett frei. Es waren genau hundert Stück. Auf Knien krabbelnd, zündete ich eins nach dem anderen an. Danach griff ich in meinen Kleiderschrank und zog das schwarze Minikleid hervor, das ich mir extra für diesen Anlass gekauft hatte. Es war das einzige Kleid in meinem Schrank und sah mehr nach Eliza als nach mir aus, aber es war perfekt für diesen Abend. Mit dem Kleid lief ich ins Badezimmer und streifte mir meine Jeans und das graue T-Shirt vom Körper. Auch meine Unterwäsche wechselte ich eilig. In schwarzem String und passendem Spitzen-BH blickte ich in den Spiegel. Das war die Nacht der Nächte. Heute sollte es passieren. Ich war bereit dafür. Mehr als bereit. Und Lucas war der einzig Richtige dafür. Ich hatte immer gewusst, dass er es einmal sein würde, daran bestand gar kein Zweifel.
Meine Wangen glühten rosig und ich strich mir grinsend eine meiner kupferfarbenen Haarsträhnen hinters Ohr, nur um im nächsten Moment meine Haare schwungvoll über den Kopf zu werfen. Sie waren so glatt wie die Bluse meiner Schuluniform. Ich hatte mir schon immer eine wilde Lockenmähne gewünscht, aber selbst die Versuche, sie mit dem Lockenstab zu bearbeiten, waren erfolglos geblieben. Also würde ich mich wohl mit meinem Los abfinden müssen.
Als es endlich an der Tür klopfte, stieg ich noch schnell in die schwarzen Pumps von Eliza und stolperte damit die Treppe hinunter. Mein Herz schlug bis zum Hals. Schwungvoll riss ich die Tür auf. Da stand er. Sein blondes Haar war wie immer unter einer grauen Wollmütze verborgen und seine Hände steckten in den Hosentaschen seiner Jeans. Lucas sah mich mit großen Augen an. Ich hatte mir schon beim Kauf des Kleides vorgestellt, mit welcher Begeisterung und Vorfreude er mich betrachten würde. Doch jetzt sah sein Blick eher panisch als begeistert aus.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte er verwirrt. Ich presste ärgerlich die Lippen aufeinander.
„Gefällt es dir nicht?“
Er musterte mich erneut und schien sich erst jetzt mein Outfit genauer anzusehen, so, als hätte er vorher nur bemerkt, dass es anders als normal war.
„Doch, aber sonst gefällst du mir auch. Hast du irgendetwas vor?“
„Nein, ich wollte mich nur mal schön machen, damit du siehst, dass ich das auch kann.“
Lucas begann zu lachen, während er immer noch wie angewurzelt an der Türschwelle verharrte, so, als traute er sich nicht, hereinzukommen. Der Wind wehte kühl um meine nackten Arme und Beine, sodass ich zu frösteln begann.
„Du bist auch ohne Kleid wunderschön.“
Ich grinste still in mich hinein. Ich wusste, dass er es so nicht gemeint hatte, dafür war er viel zu anständig, aber ich würde ihm gleich schon zeigen, wie ich ohne Kleid aussah.
„Wolltest du mir in der Tür bei den Hausaufgaben helfen?“
Er grinste und trat schließlich ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Wir gingen nach oben, ohne abzuschließen.
Sobald Lucas das Kerzenmeer in meinem Zimmer bemerkte, blieb er wie versteinert mitten auf der Treppe stehen.
Seine Augen weiteten sich und langsam schien er meinen Plan zu begreifen. Mit einem zögerlichen Lächeln drehte ich mich zu ihm herum.
„Meine Eltern sind nur einmal im Jahr außer Haus. Der Zeitpunkt ist perfekt.“
„Wir haben alle Zeit der Welt ...“
„... aber ich will nicht länger warten. Ich bin mir sicher, Lucas!“
Ich sah ihm bittend in die Augen. Er durfte mir jetzt keine Abfuhr erteilen. Er hatte sein erstes Mal bereits hinter sich und ich wollte meines mit ihm erleben. Ich hätte mir niemand Besseren vorstellen oder wünschen können. Lucas war zärtlich, liebevoll und fürsorglich. Alles, was sich ein Mädchen nur wünschen konnte. Oft konnte ich immer noch nicht glauben, dass er ausgerechnet mit mir zusammen war. Er war so beliebt, dass er jede hätte haben können und ich wettete, die anderen Mädchen hassten mich nur noch mehr dafür, dass er sich für mich entschieden hatte. Für mich, die immer etwas pessimistische Außenseiterin, die graue Maus.
Er sah zögernd zu mir auf. Ich stand eine Treppenstufe über ihm und war so ein paar Zentimeter größer als er. Nach einigen qualvollen Sekunden, erwiderte er endlich mein Lächeln. „Wenn du dir sicher bist, bin ich es mir auch.“
Ich strahlte und nahm ihn bei der Hand. Gemeinsam betraten wir mein Zimmer und ließen uns auf mein schmales Einzelbett gleiten. Da es nicht für zwei gemacht war, war es etwas eng, so konnte er mir aber wenigstens nicht entweichen.
Unsere Lippen berührten sich und ich spürte, wie sich das unbeschreibliche Kribbeln in meinem ganzen Körper ausbreitete. Es begann in der Magengegend und zog sich von dort aus meinen Rücken hinauf, um in einem Kitzeln in meinem Nacken zu enden. Ich bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, während Lucas‘ unbeschreiblicher Duft mich einhüllte wie eine Wolke. Sein Duft war nicht klar zu definieren, sportlich und sinnlich zugleich und doch mit nichts vergleichbar. Er war einzigartig, eben genau wie Lucas. Es war sein Duft und ich liebte ihn genauso sehr wie Lucas selbst. Seine Berührungen waren vorsichtig, so, als könne er mich zerbrechen, wenn er fester zugriff. Aber genau das wollte ich. Er sollte mich am ganzen Körper berühren. Ich wollte eins mit ihm sein. Es würde perfekt werden. Mein erstes perfektes Mal mit dem perfekten Mann dafür. Ich war berauscht vor Glück und Liebe.
Ich ließ meine Finger langsam unter sein T-Shirt gleiten und streichelte über seinen warmen und durchtrainierten Bauch. Er war seit Schulbeginn Mitglied in der Schulfußballmannschaft und dazu auch noch ihr bester Torwart. Obwohl ich Schulveranstaltungen normalerweise aus dem Weg ging, hatte ich bisher keines seiner Spiele verpasst. Ich feuerte ihn nicht wie die anderen Mädchen an, sondern saß still auf einer Bank und beobachtete ihn einfach das ganze Spiel über. Ich mochte den konzentrierten Ausdruck in seinem Gesicht und die Bewegungen, mit denen er sich warm hielt. Es machte mich glücklich, ihn einfach nur in seinem Element zu sehen und zu wissen, dass er nur mir gehörte.
Ich presste mich dicht gegen ihn, sodass seine Hand gar nicht anders konnte, als auf meiner Brust zu landen. Erst schien er unbeholfen, doch dann schob er mir langsam den Träger meines Kleides über die Schulter. Ich wollte mehr. Am liebsten hätte ich mir das Kleid selbst über den Kopf gestreift, aber das wäre nicht sehr stilvoll gewesen. Es war seine Aufgabe und ich würde mich gedulden, bis er soweit war. Dafür war es auch meine Aufgabe, ihn zu entkleiden und so zog ich ihm sein T-Shirt über den Kopf. Es war schließlich nicht verboten, den Anfang zu machen. Mein Mut schien auch ihn zu beflügeln, denn seine Hände suchten auf meinem Rücken nach dem Reißverschluss meines Kleides. Er fand ihn schnell und zog ihn langsam und verführerisch nach unten. Wie von selbst glitt ich aus dem Kleid. Es war eine Erleichterung, denn mir war schon jetzt unglaublich heiß.
Wahrscheinlich klebten mir meine Haare schon wieder am Kopf fest wie Spaghetti und womöglich stank ich unter den Achseln nach Schweiß. Ich hätte eben doch duschen sollen. Am Anfang hatte ich immer gewollt, dass alles perfekt war, aber mittlerweile nutze ich jede Möglichkeit, die sich mir bot.
Ich versuchte nicht daran zu denken, aber als seine Hände an meinen Armen entlangglitten, erfasste mich erneut Panik. Was, wenn er etwas riechen würde? Vielleicht würde ja etwas Parfum helfen, um mich sicherer zu fühlen. Schnell wand ich mich aus seiner Umarmung.
„Ich bin gleich wieder da“, flüsterte ich und rannte förmlich ins Bad. Dort griff ich automatisch nach meinem Parfum, doch ich hielt in der Bewegung inne, als mein Blick auf Elizas Parfümflaschensammlung fiel. Während ich seit meinem zwölften Geburtstag immer wieder denselben Duft benutzte, der sowohl fruchtig als auch seifig roch, hatte Eliza über die Jahre ein ganzes Meer an Fläschchen angesammelt. Sie mochte schwere Düfte, angereichert mit weißem Moschus, Opium oder Sandelholz. Ihr Geschmack schien mir für diesen Anlass passender als mein eigener klein Mädchenduft. Schnell stellte ich meinen rosa Flakon zurück in das Regal und griff stattdessen nach einem Fläschchen aus rotem Glas mit goldenem Verschluss. Ich sprühte mir den Duft sowohl auf den Hals als auch auf mein Dekolleté und verteilte schließlich auch noch ein paar kleine Spritzer unter den Armen und auf meinen Handgelenken. Es roch nach geballter Weiblichkeit und Sex. Aufgeregt riss ich die Badezimmertür auf und stürmte zurück zu Lucas ins Schlafzimmer. Er saß auf meinem Bett und hielt ein zerknittertes Stück Papier in den Händen: Elizas Brief. Vorwurfsvoll blickte er auf.
„Warum hast du mir nicht erzählt, dass sie dir geschrieben hat?“
„Ich dachte, es sei nicht wichtig“, stotterte ich und ließ mich neben ihm auf das Bett sinken.
Erbost fuhr er zu mir herum. „Nicht wichtig? Sie ist deine Schwester, verdammt.“
Er fluchte sonst nie und erhob auch nie die Stimme. So war er nur, wenn es um Eliza ging. Dahin waren die Stimmung und meine Pläne für heute Abend und schon wieder hatte meine Schwester Schuld daran.
„Sie wird früher oder später schon wieder zurückkommen.“
„Es geht ihr nicht gut“, erwiderte Lucas ernst und dabei lagen tiefe Sorgenfalten auf seiner Stirn.
„Sie ist in Amerika. Wahrscheinlich ist sie wie immer pleite, aber sie kommt zurecht. Das tut sie immer.“
„Dieses Mal ist es anders. Das spüre ich.“
Ich stieß wütend Luft durch meine Zähne. „Sie ist abgehauen. Sie interessiert sich einen Scheiß für uns. Du solltest nicht einmal an sie denken.“
Er schüttelte vehement den Kopf. „Aber du solltest an sie denken. Ich kann nicht verstehen, dass du dich nicht um sie sorgst. Es kommt mir fast so vor, als wärst du froh, dass sie weg ist und würdest gar nicht wollen, dass sie zurückkommt.“
Ich fühlte mich ertappt. Vielleicht war es so. Und wenn schon, Eliza war meist eine schreckliche Schwester gewesen. Gerade dafür, dass sie auch noch die Ältere von uns beiden war. Sie hätte mir ein Vorbild sein sollen. Sie hätte auf mich aufpassen sollen. Stattdessen hatte sie mir häufig nur Probleme gemacht. Alles in meinem Leben drehte sich immer nur um sie. Selbst jetzt, wo sie weg war oder gerade weil sie weg war.
Ich streichelte Lucas versöhnlich über den nackten Oberarm. „Vielleicht hast du recht. Ich hätte mir mehr Gedanken darüber machen sollen. Es tut mir leid.“
Ich wollte ihn gerade auf die Wange küssen, da drehte er seinen Kopf weg.
„Ich gehe jetzt lieber wieder rüber“, sagte er hart und griff nach seinem T-Shirt, welches hinter mir auf dem Bett lag. Ich hielt ihn an seinem Unterarm fest.
„Bitte geh nicht!“, bat ich ihn, während ich in Unterwäsche vor ihm saß. Das durfte er mir nicht antun. Heute sollte doch die Nacht der Nächte sein. Unsere Nacht. Er zögerte einen Moment, dann sah er mir entschuldigend in die Augen und ich wusste, dass ich verloren hatte. Also ließ ich ihn sein T-Shirt nehmen und blickte stattdessen zu Boden, um die Tränen in meinen Augen zu verbergen.
„Mir tut es auch leid“, sagte Lucas und küsste mich auf den Kopf, so wie meine Eltern zuvor. Dann ging er. Ich saß wie erstarrt da, bis ich die Tür ins Schloss fallen hörte. Dann ließ ich endlich meinen Tränen freien Lauf und schmiss mich laut schluchzend auf das zerwühlte Laken. Dass nun mein ganzes Bett nach Lucas roch, machte es nicht besser. Ich hasste meine Schwester. Obwohl sie nicht da war, zerstörte sie mein Leben. Sie war wie ein Fluch, der ständig über mir schwebte. Immer, wenn es gerade gut lief, schlug sie zu.