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1. Winter

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Die ganze Schule hatte über nichts anderes, als den grausigen Leichenfund vom Morgen, gesprochen. Es hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Flure und Kursräume verbreitet und löste die wildesten Spekulationen aus. Bisher war nicht bekannt, um wen es sich bei dem Opfer und der verschwundenen Anruferin handelte. Jede Schülerin, die an diesem Tag am St. Peters College unentschuldigt fehlte, kam dafür in Betracht. Theoretisch also auch meine ältere Schwester Eliza. Doch Eliza war schon so lange verschwunden, dass ich mir wenig Sorgen darum machte, dass sie es sein könnte. Unsere Eltern bangten trotzdem und würden erleichtert aufatmen, wenn herauskam, dass es sich um die Tochter eines anderen Paares handelte. Denn so müssten sie ihre Hoffnung nicht aufgeben, dass Eliza eines Tages doch zu uns zurückkehren würde. Es hörte sich schrecklich an, aber ich sah das Ganze etwas anders. Ich wünschte Eliza zwar nicht den Tod, aber die Gewissheit, was aus ihr geworden war, wäre für mich dennoch besser als der Zustand des permanenten Bangens und Hoffens meiner Eltern. Selbst wenn das bedeuteten sollte, dass es sich bei dem Opfer um meine Schwester handelte.

Seitdem Eliza verschwunden war, taten nicht nur meine Eltern, sondern auch Lucas so, als sei sie eine Heilige gewesen. Dabei war sie alles andere als fromm oder gar heilig. Sie war in meinen Augen sogar das ziemliche Gegenteil davon und genau deshalb war ich mir fast sicher, dass sie weder tot noch in Not war. Sie wusste wie man sich durchs Leben schnorrte und warf vermutlich gerade irgendwo auf der Welt das Geld eines anderen mit vollen Händen aus dem Fenster, ohne dabei auch nur einen einzigen Gedanken an ihre zurückgelassene Familie im verschlafenen Wexford zu verschwenden.

Lucas und ich verließen den Schulbus gemeinsam an der Haltestelle Slade Castle. Es war die letzte vor der Endstation Churchtown. Jeden Morgen legten wir über eine Stunde Fahrzeit zurück, nur um zur Schule zu kommen. Schon oft hatte ich meine Eltern angefleht, näher an die Stadt zu ziehen, aber sie weigerten sich standhaft. Jedes Mal mit derselben Begründung, dass sie die direkte Lage am Meer und die Nähe zu den alten Burgruinen gegen nichts in der Welt eintauschen würden. Sie mochten es, wenn bei Sturm die Wellen so hoch schlugen, dass wir sie von unseren Schlafzimmerfenstern aus sehen konnten und sie liebten das Pfeifen des Windes durch die alten Burggemäuer. Hier beschwerte sich niemand über unsere dreizehn Katzen, die das einzige Erbe unserer verstorbenen Großmutter waren. Der einzige Grund, der Slade Castle für mich liebenswert machte, war Lucas. Während unsere Familie das kleine quadratförmige Haus direkt neben dem Schloss bewohnte, lebte Lucas mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Toby in dem gelben langgezogenen Anbau des Schlosses. Er war nur zwei Tage vor Eliza zur Welt gekommen und somit ein Jahr, vier Monate und sechszehn Tage älter als ich. Seitdem ich denken konnte, mochte ich ihn. Während Eliza und ich ständig im Krieg lagen, war Lucas immer der Friedenswächter gewesen. Er hatte mich getröstet, wenn Elizas Worte oder auch Schläge zu hart gewesen waren und ich hatte ihm dafür meine kindlichen Geheimnisse anvertraut, von denen sonst niemand wusste. Er hatte nicht eines davon verraten oder mich je dafür ausgelacht, er hatte mich immer verstanden. Lucas war mein Held und nicht nur das: Seit drei Monaten und vier Tagen war er auch mein fester Freund.

Wir verabschiedeten uns mit einem kurzen, aber zärtlichen Kuss, bevor er in das Haus verschwand. Ich öffnete unsere Haustür und spähte dann erwartungsvoll in den Briefkasten. Es war eine alte Angewohnheit aus Kindheitstagen, in denen ich hoffte, Post zu bekommen, obwohl weder mein Geburtstag noch Weihnachten war. Vorsichtig steckte ich meinen Arm durch den schmalen Briefkastenschlitz und zog mit den Fingerspitzen einen weißen Briefumschlag hervor. Heute war einer der seltenen Tage, an denen ich Glück hatte: Der Brief war tatsächlich an mich adressiert. Winter stand in Computerschrift auf dem Umschlag. Neugierig wendete ich das Kuvert und suchte nach einem Absender. Nichts, nur mein Name und die Adresse. Ich sah mir gerade die Briefmarke etwas genauer an, als Miss Snowwhite sich gegen mein Bein presste und laut zu schnurren begann. Automatisch kniete ich mich nieder und begann, der weißen Katze mit den schwarzen Ohren über das Fell zu streicheln, während ich weiter auf den Briefumschlag starrte. Der Poststempel stammte aus den USA. Aber wer sollte mir von dort aus schreiben?

Miss Snowwhite schnupperte an dem weißen Papier und rümpfte dann angewidert die Nase. Sie drehte sich schnurstracks um und lief an mir vorbei zu der Burgruine. Komisch, das hatte sie schon lange nicht mehr getan. Seit Eliza weg war, hatte sich Miss Snowwhite zu einer richtigen Stubenkatze gemausert. Sie liebte es, egal ob im Sommer oder im Winter, auf dem Teppich vor dem Kamin zu liegen. Oft rollte sie sich auch auf meinem Bett zusammen oder verkroch sich auf die oberste Treppenstufe zum Dachboden. Früher hatte sie oft das Haus verlassen, wenn Eliza heimgekommen war. Eliza war laut und wüst. Eigenschaften, die Miss Snowwhite nicht leiden konnte.

Ich hielt nun den Brief vor meine eigene Nase und begann, daran zu schnuppern. Er roch nicht anders als jedes normale Papier. Ungeduldig riss ich den Umschlag auf, während ich die Tür hinter mir mit dem Fuß zukickte. Sie fiel mit einem Knall ins Schloss.

Im nächsten Augenblick stolperte ich über meine eigenen Füße, als ich die Handschrift des Absenders erkannte: Eliza - Eindeutig und ohne Zweifel.

Sie hatte Monate gebraucht, bis ihre Schrift aussah, als stamme sie aus einem anderen Jahrhundert. Niemand schrieb die Buchstaben mit ihrem Schwung und den vielen kleinen Schnörkeln.

Verstohlen blickte ich mich im Flur um. Aus der Küche war das geschäftige Treiben unserer Mutter zu hören, die das Essen zubereitete. Unser Vater war noch auf der Arbeit und würde erst in einer Stunde nach Hause kommen. Schnell streifte ich mir die Schuhe von den Füßen und schlich vorsichtig, wie auf Samtpfoten, in das obere Stockwerk. Ich schloss meine Zimmertür so leise wie möglich und verkroch mich auf mein Bett, direkt neben dem Fenster.

Liebes Schwesterchen,

seit Wochen habe ich mir vorgenommen, dir endlich zu schreiben, doch mal war zu viel los, ein anderes Mal hatte ich kein Papier, das nächste Mal fehlte mir der Stift oder ich verlor den Mut, weil schon so viel Zeit vergangen war.

Ich weiß, du musst mich für einen schrecklichen Menschen halten, weil ich einfach wortlos verschwunden bin. Aber mir hat sich eine Chance geboten, die ich mir unmöglich entgehen lassen konnte. Ich wollte das Leben mit all seinen Facetten und Farben spüren.

Doch das Leben ist nur halb so toll, wie ich es mir erträumt habe. Es gibt zu viele Schattenseiten. Du fehlst mir, Winter.

Mach dir keine Sorgen um mich. Unkraut vergeht nicht.

In Liebe,

Eliza

P.S.: Zeig den Brief nicht unseren Eltern. Sie würden es nicht verstehen.

Wütend zerknüllte ich den Brief und warf ihn in Richtung des Papierkorbs. Das war so typisch für sie! Nie um eine Ausrede verlegen und am Ende lud sie mir auch noch diese Bürde auf, obwohl wir uns nie besonders gut verstanden hatten. Wenn unsere Eltern davon erfuhren, dass ich ihnen einen Brief von Eliza verheimlichte, wäre am Ende ich die „Böse“, obwohl Eliza uns ohne ein Wort verlassen hatte. Ich konnte die Vorwürfe schon förmlich hören: Wie konntest du uns nur einen Brief deiner Schwester vorenthalten? Du weißt doch, wie große Sorgen wir uns um sie machen. Wir sind so enttäuscht von dir!

Dem Poststempel nach zu urteilen, trieb Eliza sich nun in Amerika herum. Scheinbar hatte sie nun auch die Schattenseiten des Lebens kennengelernt, doch was genau war ihr widerfahren, dass sie, die immer taffe Eliza, in diese Stimmung geriet und sich nach mir sehnte?

Eliza hatte es schon früher geliebt, sich in Rätseln auszudrücken und damit ihrem Gegenüber ein großes Geheimnis aufzugeben. Sie umgab sich mit Heimlichkeiten wie andere mit einer Parfümwolke. Eliza glaubte, das mache sie interessanter und wahrscheinlich hatte sie sogar recht damit, eine weitere Sache in der wir total gegensätzlich waren.

Der ganze Brief war eigentlich ein einziges Beispiel für Elizas Ignoranz unserer schwierigen Beziehung gegenüber. Nur ein einziger Satz ließ mich wirklich innehalten: Du fehlst mir, Winter.

Es war ganz und gar unüblich zwischen uns, dass wir der anderen sagten, dass sie uns fehlte. Sicherlich mochte ich meine Schwester irgendwie, aber wenn ich an Eliza dachte, fühlte ich nicht die Art von Sehnsucht wie man seine beste Freundin vermisste, wenn sie die Sommerferien in Spanien verbrachte. Ich vermisste es vielmehr mit jemandem zu streiten. Wir hatten zwar viel Zeit miteinander verbracht, das Resultat der einsamen Gegend, doch bestand zwischen uns keine Freundschaft oder gar enge schwesterliche Beziehung.

Wenn ich schlechte Laune gehabt hatte, war Eliza immer ein perfekter Prellbock gewesen – aber das beruhte auf Gegenseitigkeit. Selbst wenn sie nicht der Grund meiner schlechten Stimmung gewesen war, was tatsächlich eher selten vorkam, arteten die meisten unserer gemeinsamen Unternehmungen oder Gespräche sowieso in einem heftigen Streit aus, sodass ich darin immer ein Ventil für meine Gefühle fand.

Doch überkam Eliza in der Ferne tatsächlich so etwas wie Heimweh oder gar Schuldgefühle?

Selbst wenn, das war nun wohl ihr Problem. Schließlich hatte sie die Entscheidung getroffen, einfach abzuhauen und ihrer Familie den Rücken zu kehren. Spätestens in zwei Wochen würde sie ohnehin reumütig bei unseren Eltern anrufen und sie um Geld anbetteln. Der Brief an mich war nur der erste Vorbote. Wer weiß, vielleicht erwartete sie sogar, dass ich unseren Eltern den Brief zeigte, gerade weil sie mich darum gebeten hatte, es nicht zu tun, doch den Gefallen tat ich ihr nicht.

Dear Sister 1 - Schattenerwachen

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