Читать книгу Manchmal gehört mir die ganze Welt - Mecka Lind - Страница 4
An die Leser
ОглавлениеIch wollte meinen Ohren nicht trauen, als ich das erste Mal davon hörte, daß es in Kopenhagen Straßenkinder gibt – mitten unter uns, im sicheren, sozial perfekt organisierten Skandinavien.
Inzwischen weiß ich nur zu gut, daß es stimmt. Von Januar bis Mai 1988 habe ich mich immer wieder in Vesterbro in Kopenhagen aufgehalten. Und ich weiß inzwischen auch, daß Kopenhagen längst nicht die einzige europäische Großstadt mit solchen Straßenkindern ist.
Es gibt sie in vielen europäischen Großstädten ...
Vesterbro ist der ärmste Stadtteil von Kopenhagen. Viele Häuser sind heruntergekommen. Es gibt kein warmes Wasser. Die Leute heizen immer noch mit Petroleumöfen, und viele haben das Klo auf dem Hof.
In Vesterbro ist das Leben erschreckend hart. Auf der Istedgade liegen ein Pornoladen und ein Bordell neben dem anderen. Auf dem Strohmarkt prostituieren sich heroinabhängige Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahren und älter. In der Umgebung der Mariakirche halten sich die Penner auf, sie sind zwanzig Jahre und älter, sowohl Männer als auch Frauen. Sie haben keine Wohnung und keine Arbeit und sind meistens stark betrunken.
Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, und natürlich ist auch die Kriminalität in diesen Vierteln groß.
Und genau da lebt ein Teil der Straßenkinder von Kopenhagen. Hier schlafen sie in zugigen, schmutzigen Treppenhäusern, auf Speichern, in Kellern, in alten Autowracks, in ausgedienten Eisenbahnwagen auf dem Bahnhof. Eben überall, wo sie etwas halbwegs Geeignetes finden.
Es gibt eigentlich überall im anonymen Großstadtdschungel von Kopenhagen Straßenkinder. Aber die, mit denen ich etwas näher in Kontakt gekommen bin, verbrachten die meiste Zeit auf dem Hauptbahnhof und in Vesterbro. Es sind Kinder, die zu Hause rausgeworfen wurden oder abgehauen sind, oder solche, die noch nie ein Zuhause hatten, sondern ihr ganzes Leben in staatlichen Institutionen zugebracht haben. Es sind Kinder, die so verraten und von den Erwachsenen so schlecht behandelt wurden, daß sie sich lieber dem Hunger, der Gewalt und der Kriminalität auf der Straße aussetzen, als daß sie ein Bett in einem Kinder- oder Erziehungsheim wählen würden.
So ein Leben führt man nicht aus Abenteuerlust. Für diese Kinder ist es blutiger Ernst, und sie haben keine andere Wahl. Sie gehen nicht auf die Straße, weil es ihnen an Nahrung fehlt. Es fehlt ihnen an Liebe und Fürsorge, und es fehlt jemand, dem es wichtig ist, daß es sie überhaupt gibt.
Von einigen dieser Kinder handelt dieses Buch. Die Geschichte ist insofern wahr, als ich reale Berichte als Grundlage verwendet habe und mir dann als Schriftstellerin die Freiheit genommen habe, einen Roman daraus zu machen. Sanne ist also das Produkt aus mehreren Mädchen, die ich kennengelernt habe. Aber alles, was im Buch geschieht, ist irgendeiner von ihnen in Wirklichkeit passiert.
Mecka Lind