Читать книгу Manchmal gehört mir die ganze Welt - Mecka Lind - Страница 8

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Als sie wieder aufwacht, hat sie zuerst keine Ahnung, wo sie ist. Aber dann fällt es ihr wieder ein, und sie wird ruhiger. Solange, bis sie sich wieder daran erinnert, daß sie von einem Geräusch aufgewacht ist. Und es war nicht der Regen, der jetzt wie verrückt aufs Dach trommelt. Es war ein mehr menschliches Geräusch.

Obwohl ... vielleicht hat sie es auch nur geträumt.

Sie muß den ganzen Tag geschlafen haben, draußen ist es nämlich stockdunkel. Sie hat auch keine Uhr. Und da ist das Geräusch wieder! Das sind ja Schritte ... jemand geht auf dem Kiesweg draußen vorbei! Und es sind mehrere, denn jetzt hört sie auch Stimmen. Sie bleibt ganz still liegen. Ihr Herz klopft furchtbar wild. Sie hat Angst. Denn wer schleicht Ende Februar in Regen und Kälte durch die Schrebergärten? Bestimmt niemand, der Blumen pflanzen will. Wohnt hier vielleicht noch jemand, obwohl es nicht erlaubt ist? Oder sind es Einbrecher?

Sie liegt stocksteif da, aber schließlich zwingt sie sich dazu aufzustehen, um aus dem Fenster zu schauen. Sie sieht natürlich gar nichts. Sie tastet im Dunkeln herum, und es gelingt ihr, eine Decke vor das Fenster zu hängen. Dann endlich traut sie sich, die Taschenlampe anzuknipsen, die sie gottlob schon vorher zwischen Tante Kirstens Sachen gefunden hatte.

Gerade hat sie sich noch sicher und geborgen gefühlt. Und jetzt ist sie wieder nur noch ein kleines ängstliches Mädchen. Sie hatte schon immer Angst vor der Dunkelheit gehabt, aber damit muß man zu leben lernen, wenn man wie sie an dunklen Orten schlafen muß.

»Also nimm dich zusammen und leg dich wieder hin«, sagt sie barsch zu sich selber. »Du kannst ja genausogut im Liegen Schiß haben wie im Stehen oder Sitzen.«

Aber sie bleibt hellwach, bis die Morgendämmerung kommt und alle Schatten vertreibt. Dann erst schläft sie wieder ein.

Als ein Sonnenstrahl sie im Gesicht kitzelt, der einzige, der es schafft, sich zwischen Decke und Fenster durchzustehlen, wacht sie auf.

Als sie die Tür zu dem kleinen Garten öffnet, scheint die Nacht weit weg zu sein. Und sie hat auch überhaupt keine Angst mehr. Nicht jetzt bei Tageslicht. Sie traut sich sogar, hinauszugehen und sich umzuschauen. Im Lehmmatsch sind deutliche Fußspuren zu sehen. Sie folgt ihnen bis zu einem Gartenhäuschen ein Stück weiter weg, und natürlich ist hier eingebrochen worden!

»Aber sie kommen bestimmt nicht zwei Nächte hintereinander«, tröstet sie sich. »So bescheuert sind sie auf keinen Fall!«

Das Schrebergartengelände ist wirklich genauso einsam und verlassen, wie sie es erwartet hat. Das ist an und für sich nicht schlecht, denn so kann sie hier wohnen, ohne entdeckt zu werden. Aber schon der Gedanke, daß sie allein auf mehreren Quadratkilometern ist, läßt sie schaudern und sich nach Menschen sehnen, oder wenigstens nach ihrem Walkman. Ein bißchen Musik würde vielleicht helfen.

Auf dem Hauptbahnhof tobt das Leben. Sie holt ihre Tasche und setzt sich hin, um zu sehen, was passiert. Eine Gruppe von Jungen albert in ihrer Nähe herum. Einer von ihnen ist richtig süß. Er hat die blauesten Augen der Welt und ein goldiges Grübchen im Kinn. Seine halblangen Haare sind genauso mausgrau und strähnig wie ihre eigenen und hängen auf seine mageren Schultern herab. Er merkt, daß sie ihn anschaut, lacht zurück, und plötzlich setzt er sich neben sie und bietet ihr eine Zigarette an. So sitzen sie eine Weile da und reden über alles und nichts. Dann steht er auf und übergibt ihr eine Hundeleine. Sie bemerkt erst jetzt, daß er einen Hund dabei hat.

»Paß auf meinen Hund auf!« sagt er kurz.

Der Hund hat große angstvolle Augen und setzt sich folgsam neben sie. Es ist eine Labradormischung. Er hätte richtig schön sein können, wenn er nicht so mager gewesen wäre.

Aber Sanne ärgert sich nicht über den Hund. Sie mag es bloß nicht, wenn man ihr etwas befiehlt. Deshalb schnaubt sie böse: »Was heißt hier aufpassen! Ich hab keinen Bock, den ganzen Tag hier herumzusitzen!«

Der Typ stöhnt und drückt ihr eine sehr oft benützte Plastiktüte in die Hand. »Da ist eine nagelneue Lederjacke drin«, sagt er. »Und wenn du mir nicht glaubst, daß ich zurückkomme, um den Hund zu holen, dann aber ganz bestimmt, um die Jacke zu holen, kapiert?«

Er ist schon so gut wie weg.

»Wie heißt die Töle denn?« ruft sie ihm nach.

»Nicko!«

Nicko schaut seinem Herrchen traurig hinterher, dann seufzt er und legt sich hin, Schnauze zwischen den Vorderpfoten.

Sanne streichelt ihn tröstend.

»Ist ja gut«, murmelt sie. »Ich paß schon auf dich auf.« Am Anfang ist es richtig lustig, mit einem Hund dazusitzen. Die Leute kommen zu ihr und reden mit ihr. Und sie sind so freundlich! Aber je länger es dauert, desto ungeduldiger wird sie. Sie will hinaus und sich bewegen. Und der Hund will offenbar das gleiche, denn er winselt unruhig und schaut sie bittend an. Aber der Junge ist und bleibt verschwunden.

Schließlich steht sie trotzdem auf, um etwas herumzulaufen; in dem Augenblick kommt einer seiner Freunde auf sie zu. Sie stürzt sich direkt auf ihn.

»Wo ist denn der Idiot, für den ich auf den Hund aufpassen soll?« will sie wissen.

»Kim?!« höhnt der andere. »Der weiß wohl selber nicht so genau, wo er gerade ist. Er hat den besten Shit der Welt bekommen und ist so high, higher geht’s gar nicht.«

»Aber Nicko ... und die Lederjacke? Ich habe keine Lust, noch eine Ewigkeit hier zu warten!«

»Die Jacke kann ich in Verwahrung nehmen«, grinst der andere.

»Sonst noch was!« sagt Sanne empört. »Wenn ich mich um den Hund kümmere, dann gehört die Jacke mit dazu. Das kannst du diesem Kim gern ausrichten.«

Der Typ zieht die Nase hoch und schlendert weiter. Sanne schaut den Hund an, und der Hund schaut sie an. Sie ertrinkt förmlich in seinem traurigen Blick.

»Du armes mageres Elend«, lächelt sie mitleidig. »Du bestehst ja fast nur aus Augen, du Armer. Komm, wir gehen zu mir und futtern Konserven!«

Sie ist überhaupt nicht unglücklich darüber, Gesellschaft zu haben. Es trifft sich sogar ausgesprochen gut, angesichts der kommenden Nacht.

»Mit diesem widerlichen Flohpelz steigst du aber bestimmt nicht in meinen Bus«, schreit der Busfahrer so laut, daß auch die Leute, die Sanne und Nicko noch nicht bemerkt haben, jetzt auf sie aufmerksam werden. Sie glotzen sie an, so daß Sanne sich richtig provoziert fühlt. »Ich hoffe bloß, daß er dich in den Arsch beißt, wenn wir uns das nächste Mal sehen!« brüllt sie dem Busfahrer zu, ehe er direkt vor ihr die Türe zuklappen läßt.

Die meisten Leute, die noch an der Haltestelle stehen, lachen. Aber es gibt auch welche, die ein paar Schritte zurücktreten, als ob sowohl Sanne als auch Nicko wirklich Flöhe hätten.

Sie wartet nicht auf den nächsten Bus. Sie geht zu Fuß. Aber sie muß ja auch noch ihre Tasche schleppen, und so dauert es länger, als sie denkt. Es ist sogar schon dunkel, als sie endlich bei dem Loch im Zaun ankommen. Aber weil sie ja den Hund dabei hat, traut sie sich fast ohne Furcht in die Schrebergärten. Und als sie erst mal im Häuschen ist, ist alles wieder gut. Sie achtet darauf, daß die Decke ordentlich vor dem Fenster hängt, dann zündet sie eine Kerze an, macht eine Dose Würstchen auf und schaut zu, wie Nicko frißt.

»Eine Schönheit bist du ja nicht gerade«, lacht sie liebevoll. »Aber Flohpelz darf dich trotzdem niemand mehr nennen, auf jeden Fall nicht, wenn ich es höre.«

Sie fühlt sich überhaupt nicht mehr einsam, und in einem Anfall von Dankbarkeit holt sie ihre Haarbürste heraus und versucht vorsichtig, ein bißchen Ordnung in das zottelige Fell zu bringen. Das dauert seine Zeit, aber es ist der Mühe wert, und sie ist richtig zufrieden mit dem Ergebnis.

»Siehst du, bei Sanne bist du in den besten Händen«, schmeichelt sie und bekommt einen feuchten Blick als Antwort.

Als sie sich an diesem Abend hinlegt, springt Nicko aufs Bett und legt sich neben sie. Sein Körper wärmt sie angenehm.

»Morgen kaufen wir neues Petroleum«, murmelt sie schläfrig und holt ihren Walkman heraus. Sie macht Pläne und genießt die Musik.

Morgen will sie auch Jörgen besuchen gehen. Der wird stolz sein, wenn er sieht, daß sie einen Hund hat. Sie hat nämlich nicht die Absicht, zum Hauptbahnhof zu gehen und diesen Kim zu suchen. Nicko gehört jetzt ihr!

Sie kuschelt sich fester an den warmen Tierkörper, und Nicko stupst sie liebevoll mit der Schnauze an.

»Ich werde dich nie, nie verlassen«, flüstert sie und steckt ihre Nase tief in das Fell, das sich jetzt richtig weich anfühlt.

Manchmal gehört mir die ganze Welt

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