Читать книгу Manchmal gehört mir die ganze Welt - Mecka Lind - Страница 6

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Sie geht mit festen Schritten in Richtung Hauptbahnhof. Wenn sie sich beeilt, schafft sie es, bevor sie zumachen, und vielleicht ist dort jemand, den sie kennt und bei dem sie übernachten kann.

Als sie die riesige Bahnhofshalle betritt, ist es dort ungewöhnlich ruhig. Man hört fast nur das Geräusch der Kehrmaschine, die den letzten Schmutz auffegt. Ein paar Penner sitzen in einer Ecke, und ein paar andere liegen auf dem Steinboden und schlafen. Sie sind darauf angewiesen, noch die letzten Minuten Wärme auszunützen. Einer von ihnen ruft Sanne etwas zu, aber sie tut so, als höre sie nichts. Sie weiß nicht, warum, aber es graust sie immer vor diesen versoffenen, heimatlosen Verlierern.

»Nein«, sagt sie leise zu sich selbst. »Hier ist heute nichts zu holen.«

Sie dreht sich rasch um und geht wieder auf den Ausgang zu. Zuerst läuft sie aufs Geratewohl im Vesterbro-viertel in der Nähe des Bahnhofs herum. Es tut dem Chaos von Gedanken in ihrem Kopf gut, in der Kälte herumzulaufen. Aber sie wird ständig von Männern angemacht, die allein durch die Gegend fahren und Liebe suchen. Sie trifft auch ein paar jüngere Penner, die handgreiflich versuchen, sie zum Mitkommen zu überreden. Bei solchen Gelegenheiten kann sie gebrauchen, was sie im »Heim« gelernt hat.

Schließlich hat sie alles satt, außerdem friert sie so, daß sie am ganzen Körper steif wie ein Stock ist. Als sie vor einem Hauseingang steht, der nicht abgeschlossen ist, nimmt sie die Gelegenheit wahr und geht hinein.

Sie wartet regungslos in der Dunkelheit und lauscht. Als sie ganz sicher ist, daß sie auch nicht das leiseste Husten oder Schnarchen hört, niemanden, der flüstert, nicht einmal ein verdächtiges Atmen, nur das Knacken, das zu solch alten Häusern gehört, tastet sie sich vorsichtig am Handlauf der Treppe entlang nach oben. Sie bleibt erst stehen, als sie auf dem letzten Treppenabsatz angekommen ist. Dort legt sie sich zusammengekauert auf den Holzboden und deckt sich mit ihrer Jacke zu.

Aber es dauert lange, bis sie einschlafen kann. Die Gedanken drehen sich im Kreis und werden bei jeder Runde, die sie in ihrem Kopf machen, schwärzer.

Ich muß halt noch mal nach Hause und mit meiner Mutter reden, morgen, wenn der Typ gegangen ist, dann wird bestimmt alles wieder gut, denkt sie. Vielleicht kann ich im Laden an der Ecke auch ein paar Bier klauen und sie die erst trinken lassen, damit sie bessere Laune bekommt.

So tröstet Sanne sich, wie sie da allein im Dunkeln liegt. Und allmählich entspannt sie sich so weit, daß sie einschläft. Aber erst gegen Morgen fällt sie in einen tieferen Schlaf.

Ein gezielter Tritt weckt sie unsanft. Der Mann, der sich neben ihr aufgebaut hat, trägt Gabardinehosen mit Bügelfalten, einen großen, warmen Lammfellmantel, und er hat kurzgeschnittene Haare.

»Was zum Teufel machst du hier?« fragt er unwirsch.

»Ich versuche zu schlafen«, antwortet Sanne, und erst jetzt sieht sie die Wäsche, die über ihrem Kopf hängt. »Ich werde Ihre Wäsche nicht anrühren«, versichert sie.

»Ich will bloß schlafen.«

»Mach, daß du wegkommst, sonst rufe ich die Polizei!« »Daß wir auch immer noch keine Tür mit Klingel und Drücker bekommen haben«, mault eine Frauenstimme hinter ihm. »Wir werden das Elend so ja nie los.«

Sanne versteht sehr wohl, daß mit »Elend« sie gemeint ist. Zumindest im Augenblick.

»Ja, ja. Ich geh ja schon«, stöhnt sie und steht auf.

Da wird die Tür nebenan geöffnet, und eine ältere Dame mit Wicklern im silbergrauen Haar und einem rosa Morgenrock um ihren hageren, alten Frauenkörper kommt heraus.

»Aber so laßt die arme Kleine doch schlafen!« sagt sie. »Wenn sie nur die Finger von meiner Wäsche läßt.«

»Frau Olsen!« protestiert der Lammfellmantel scharf. »Das Treppenhaus ist doch wohl kein Hotel, verdammt noch mal!«

Sanne ist schon auf dem Weg nach unten, gefolgt von Andeutungen darüber, was man mit Leuten machen sollte, die sich die Freiheit nehmen, die Nacht vor anderer Leute Türe zu verbringen. Und das sind nicht gerade angenehme Dinge.

»Aber sie war doch noch ein Kind«, seufzt die alte Frau. Das Schlimmste für Sanne ist, so wie eben hinausgeworfen zu werden. Da fühlt sie sich wie eine Tüte Müll.

Aber draußen in dem diesigen, immer noch kalten Morgen muß sie über andere Dinge nachdenken. Zuerst muß sie nach Hause. Nicht, um mit ihrer Mutter zu reden. Die tröstlichen Gedanken der Nacht halten dem hellen Licht des Tages nicht stand. Nein, sie muß nach Hause, um ein paar Sachen zu holen. Den dicksten Pulli zum Beispiel, und den Walkman mit ein paar guten Kassetten, und ein paar Unterhosen und Socken. Aber vor allem muß sie Geld klauen.

»Wenn man seine Tochter ohne einen Pfennig in der Tasche auf die Straße jagt, dann ist man selber schuld«, brummt sie beim Gehen halblaut vor sich hin.

Wenn ihre Mutter um die Tageszeit bereits wach ist, was nicht oft vorkommt, dann bringt sie schon mal Jörgen in die Schule, weil das besser aussieht. Und sie hat auch allen Grund dazu, findet Sanne, denn einerseits ist sie arbeitslos und hat sonst nichts zu tun, und andererseits geht Jörgen gerade in die erste Klasse.

Sanne bleibt im Hauseingang des Hauses stehen, das genau dem gegenüber liegt, in dem sie »wohnt«. Die Uhr im Friseurladen zeigt ordentlich auf zehn vor acht. Schlag acht muß Jörgen in der Schule sein. Die Minuten hüpfen vorwärts, ohne daß jemand zu sehen ist. Um halb neun beschließt Sanne, dennoch einen Versuch zu wagen. Vielleicht sind sie ja schon weggegangen, bevor sie kam. Wenn nicht ... ja, dann muß sie eben besonders vorsichtig sein.

Sie steckt den Schlüssel in das Schloß und öffnet die Tür so leise wie möglich. Schon im Flur hört sie das durchdringende Schnarchen ihrer Mutter. Sie schleicht zum Schlafzimmer und schaut hinein. Der Typ ist natürlich auch noch da. Er schläft auf dem Rücken und ist wahrlich kein schöner Anblick.

Plötzlich taucht ein verschlafener Jörgen neben ihr auf. Sie schafft es gerade noch, ihm die Hand auf den Mund zu legen, ehe seine Fragen, die schon unterwegs waren, herauskommen. Dann zieht sie ihn hinter sich her in sein Zimmer und macht die Tür zu.

»Hör mir zu, Jörgen«, sagt sie und verstrubbelt ihm zärtlich die Haare. »Ich bringe dich heute in die Schule. Ich sage deiner Lehrerin, daß Mama krank ist, und daß du deshalb zu spät kommst. Aber du mußt versprechen, hier zu Hause kein Wort zu sagen, damit Mama oder dieser Typ nicht aufwachen.«

Das verspricht Jörgen nur zu gern. Aber dann bekommt er Angst. »Du darfst mich nicht alleine lassen, Sanne«, sagt er ernsthaft.

»Das würde ich doch nie tun, das weißt du doch«, murmelt Sanne und zieht ihn zu sich. »Aber jetzt mußt du ein großer Junge sein und mir helfen. Wir reden weiter, wenn wir draußen auf der Straße sind.«

Jörgen zieht sich lautlos an, und Sanne packt ihre rote Sporttasche mit dem Notwendigsten. Während Jörgen in der Küche frühstückt, sucht Sanne den Sommermantel ihrer Mutter im Flurschrank. Sie steckt die Hand in die linke Manteltasche und seufzt vor Erleichterung, als ihre Finger auf den Packen mit Scheinen stoßen. Die Mutter hat gottlob das Versteck seit dem letzten Mal nicht gewechselt. Sie zählt dreihundert Kronen ab, das muß reichen. In der Küche schnappt sie sich eine Plastiktüte und dann durchforstet sie gründlich den Kühlschrank.

»Nimm du die Hackfleischbällchen!« flüstert Jörgen. »Sie wird mir schon wieder welche machen.«

Sanne lächelt ihren Bruder an, der fertig gefrühstückt hat und gerade seinen Teller und sein Glas in den Ausguß stellt. Da sind Schritte im Flur zu hören. Sanne drückt sich blitzschnell in den Besenschrank, mit der Sporttasche und allem. Sie paßt fast nicht hinein, aber Jörgen drückt die Tür fest hinter ihr zu.

»Ist es schon so spät? Und du bist noch nicht weg!« jammert die Mutter nur einen halben Meter von ihr entfernt.

»Ich ... ich bin nicht aufgewacht«, verteidigt sich Jörgen aufgeregt. »Aber ich bin gleich fertig, ich laufe bestimmt auch den ganzen Weg, du brauchst mich nicht hinzubringen, du kannst wieder ins Bett und weiterschlafen. Ich sage der Lehrerin, daß du krank bist.«

»Ja, ja, raus jetzt mit dir!«

Sanne hört, wie die Mutter in den Flur und dann ins Bad geht. Jörgen läßt sie aus dem Schrank heraus, und gemeinsam schleichen sie zur Wohnungstür.

»Tschüs!« ruft er in die Wohnung hinein.

»So beeil dich doch!« antwortet die Mutter vom Klo. Sanne und ihr kleiner Bruder rennen die Treppe hinunter. Als sie endlich draußen auf der Straße sind, erklärt sie ihm alles, so gut sie kann.

»Wenn ich zu Hause wohnen will, dann schickt Mama mich wieder ins Heim, und dann sehen wir uns überhaupt nicht«, sagt sie. »Wenn ich mich aber von zu Hause fernhalte, dann kann ich auf jeden Fall in der Stadt bleiben und zu deiner Schule kommen und dich besuchen.«

»Jeden Tag?« fragt Jörgen leise.

»Nein, nicht jeden Tag«, sagt Sanne, die keine Versprechen geben will, die sie nicht halten kann. Sie weiß selbst nur zu gut, wie es ist, wenn man beschissen wird.

»Nicht jeden Tag, Jörgen, aber so oft es geht.«

Er nickt stumm, und als sie fast bei seiner Schule sind, sagt er tapfer: »Du brauchst nicht mitzukommen und mit der Lehrerin reden, das kann ich selbst. Ich mach’s, wie du gesagt hast, ich sage, daß Mama krank ist.«

Als Sanne sieht, wie ihr kleiner Bruder ihr von der anderen Seite der Glastür zuwinkt, würde sie am liebsten losheulen.

Manchmal gehört mir die ganze Welt

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