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Der Hauptbahnhof ist um diese Jahreszeit wirklich kein warmer Ort. Der Wind pfeift durch alle Ein- und Ausgänge, und zusammen mit den Windstößen, die durch die zerbrochenen Scheiben unter dem Dach fahren, ergibt das einen Zug, der sich gewaschen hat. Aber hier ist es immer noch wärmer als draußen auf der Straße. Sanne sucht ein freies Schließfach für ihre Sachen. Dann läuft sie eine Weile durch die Halle und schaut sich um.

Auch jetzt halten sich hier hauptsächlich Penner auf. Manche sitzen ganz aufrecht und schlafen. Sie sitzen bestimmt schon seit fünf Uhr hier, denn da wird der Bahnhof geöffnet. Die unvermeidliche Plastiktüte, in der all ihr Hab und Gut ist, halten sie krampfhaft fest; nicht einmal im Schlaf lassen sie sie los. Diejenigen, die nicht schlafen, schlurfen herum und wühlen in den Papierkörben. Hier finden sie vielleicht eine leere Pfandflasche, für die es Geld gibt, oder wenn sie Glück haben, irgend etwas, das man verwenden oder essen kann. Wieder andere versuchen, ein paar Kronen zusammenzubetteln.

Es ist ein verzweifelter Kampf um das Geld fürs erste Bier. Und ihre unrasierten, verhärmten Gesichter, ihre abgetragenen, schmutzigen Kleider und der Gestank nach Alkohol und Unsauberkeit machen es ihnen nicht gerade leichter. Um die Penner herum hetzen die Leute durch die Gegend. Sie sehen nur die großen Uhren. Sie hören nur das Bremsen der Züge unten auf den Bahnsteigen und die Lautsprecher, die eine Ansage nach der anderen schnarren.

Sanne setzt sich erschöpft auf eine Bank. Sie hat jede Menge Zeit.

Zunächst hat sie den ganzen langen Tag vor sich, und wo sie heute nacht schlafen wird, wird man sehen, wenn es soweit ist. Und im übrigen könnte sie ja hier und jetzt eine Runde schlafen. Sie schließt die Augen und hört entfernt die verschiedenen Geräusche, die sich vermischen und zu einem rauschenden Fluß werden, der sie immer weiter wegträgt.

Sie erwacht von lautem Gebrüll. Eine Gruppe Interrail-Kids hat sich auf die Bank nebenan gesetzt. Sie schlucken Tuborg-Bier und schreien herum und sind sehr weit weg von zu Hause.

Wenn ich da sitzen und so in aller Öffentlichkeit saufen würde, hätten mich die Aufseher schon lange rausgeworfen, denkt Sanne mürrisch.

Sie sitzt nicht mehr alleine auf der Bank. Ein großes, mageres Mädchen mit kurzgeschnittenen hennaroten Haaren, ungefähr fünfzehn, hat neben ihr Platz genommen. Sie raucht hektisch und starrt vor sich hin.

Sie sieht bestimmt gut aus, wenn sie mal ausgeschlafen ist, denkt Sanne und sieht, daß das Mädchen unter der schwarzen Lederjacke nur ein dünnes T-Shirt anhat. Gott, was muß die frieren!

Ein Mann geht vorbei, er trägt einen schicken Mantel, frischgeputzte Schuhe und eine Aktentasche, die so glänzt, daß man meinen könnte, sie sei auch gerade blankgerieben worden. Er ißt ein Würstchen, daß der Senf und das Ketchup nur so in seinen grauschwarzen, buschigen Bart tropfen. Es sieht eklig aus. Dennoch trifft sie der Heißhunger wie ein Schlag in den Magen. Sie holt die Tüte mit den Fleischklößchen heraus, die sie unter der Jacke versteckt hatte, und legt sie neben sich auf die Bank. Dann bewegt sich ihre Hand zwischen der Tüte und ihrem Mund hin und her, als ob sie eine Maschine wäre. Bis sie statt eines Fleischklößchens Finger ergreift. Sie ist so überrascht, daß sie wütend wird.

»Hast du sie eigentlich noch alle!« schreit sie das Mädchen an, das mit einem Grinsen das letzte Fleischbällchen in die Luft wirft, es mit den Zähnen auffängt, die Zigarette ausdrückt und aufsteht.

»Verdammt gut!« sagt sie. »Danke schön!«

Dann verschwindet sie in Richtung Ausgang Vesterbro. Sanne zuckt mit den Schultern und wirft die leere Tüte in den nächsten Papierkorb.

Um irgend etwas zu machen, holt sie ein abgegriffenes Notizbuch heraus, das mit Telefonnummern vollgeschmiert ist. Vor jede Nummer hat sie ein großes oder ein kleines oder gar kein Kreuz gemalt. Das große Kreuz bedeutet Freunde mit eigener Wohnung, wo sie schon mal übernachtet hat, wenn es nötig war.

Die kleinen Kreuze bedeuten auch Übernachtungsmöglichkeiten, aber in diesem Fall sind es Freunde, die zu Hause bei ihren Eltern wohnen, wie zum Beispiel Lisbeth. Nummern ohne Kreuz hat sie entweder noch nicht ausprobiert, oder sie haben sich als Nieten herausgestellt.

Eigentlich hat sie das Buch nur herausgeholt, um irgend etwas in der Hand zu halten, aber als ein Penner sich neben sie setzt und immer näher rückt und brabbelt, wie hübsch sie sei, geht Sanne verärgert zu einer der vielen Telefonzellen und ruft einige von den großen Kreuzen an. Als niemand antwortet, macht sie mit den kleinen weiter. Hier wird zwar abgenommen, aber manche legen sofort wieder auf, wenn sie hören, daß sie es ist. Andere sagen giftig: »So, so, ist es mal wieder soweit, nein, uns reicht es« ... oder »Hier ist kein Hotel mehr.« Schließlich hat sie genug, klappt das Buch zu und stürzt sich in das Leben von Kopenhagen.

Es ist bewölkt und naßkalt und nicht besonders lustig, allein durch die Straßen zu laufen. In den letzten Wochen war sie mit Lisbeth zusammen gewesen. Wenn man zu zweit ist, können lauter spannende Sachen passieren, und wenn nichts passiert, langweilt man sich wenigstens nicht alleine. Lisbeth war prima, weil sie immer viel Geld hatte und deshalb auch viele Freunde. Aber dann ist gestern die Bombe geplatzt. Jemand hatte ihren Eltern gepetzt, daß sie längere Zeit nicht in der Schule gewesen war, und das gab natürlich ein schreckliches Theater. Deshalb durfte Sanne auch letzte Nacht nicht dort schlafen.

Sie geht über den Rathausplatz und hinunter in die kleinen Gassen um den Ströget herum. Hier hat sie plötzlich eine Idee. Hinterher weiß sie genau, wie es geschah. Sie stand vor einem Schaufenster und schaute auf ein Plakat mit einem superroten Häuschen, das im supergrünen Wald am superblauen See stand. Als sie lange genug darauf gestarrt hatte, ging sie weiter, als ob nichts passiert wäre, und plötzlich, boing!, hatte sie die Idee: Tante Kirstens Schrebergartenhäuschen! Es ist zwar braun und hat die besten Tage schon hinter sich, und nach dem See sucht man vergeblich und um diese Jahreszeit auch nach dem grünen Wald. Aber es ist ein Häuschen! Und es steht hundertprozentig sicher völlig leer. Denn wer setzt sich schon im Februar in einen Schrebergarten? Ihre Tante Kirsten auf jeden Fall nicht. Sie arbeitet rund um die Uhr und verdient harte Währung in ihrem Pornoladen in der Istedgade, wo sie widerliche Heftchen und anderen Schweinekram an liebeskranke Kerle verkauft. Mama hilft manchmal dort aus. Dorthin läuft auch Jörgen, wenn Mama es mit ihm nicht mehr aushält, weil die Nerven knallen. Also, der braucht mal keinen Sexualunterricht in der Schule.

Tante Kirstens Schrebergarten liegt draußen in Amager. Sanne ist schon unterwegs zur Bushaltestelle.

Zwei Stunden später flucht sie zu Himmel und Hölle. Sie ist um die ganze Schrebergartenanlage herumgelaufen und hat den Zaun genauestens untersucht und nicht das kleinste Loch gefunden. Und außer ihrem Messer hat sie auch kein Werkzeug dabei, und das Messer nützt hier nichts.

Aber wie sie so da steht und auf den Bus wartet, um zurückzufahren, passiert etwas. Sie schaut abwesend einer Gruppe kleiner Jungen zu, die Ball spielen. Einer kickt so fest, daß der Ball in die Schrebergartenanlage fliegt. Sie kann ihn noch nicht einmal bedauern, so schnell ist der Junge in einem Gebüsch am Zaun verschwunden. Als er wieder auftaucht, hat er den Ball in der Hand!

Jetzt dauert es nicht lange, bis sie das Loch gefunden hat, und es ist groß. Zumindest so groß, daß sie sich ohne Mühe hindurchzwängen kann. Der Schlüssel zur Hütte liegt wie immer auf seinem Platz unter dem dritten Stein im Tulpenbeet. Es ist drinnen natürlich kalt und klamm, aber es ist noch Petroleum da. Sowohl im Ofen als auch im Kanister daneben. Sie macht zuerst Feuer, dann holt sie Decken heraus und breitet sie aus, damit sie warm werden. Sie stößt einen Freudenschrei aus, als sie feststellt, daß der Gaskocher noch funktioniert, und einen weiteren, als sie im Schrank jede Menge Konserven findet.

»Ihr blödes Erziehungsheim können sie sich an den Hut stecken!« jubelt sie. »Sanne Larsen kommt allein zurecht! Hier kann ich bis Ende März wohnen, vorher setzt Tante Kirsten nicht einen Fuß hierher. Dazu ist die viel zu verfroren.«

Sie holt eine Dose weiße Bohnen in Tomatensoße aus dem Schrank und eine, die Hackfleischsoße enthalten soll. Dann rührt sie beides in einem Topf zu einer klebrigen Masse zusammen, wärmt das Ganze auf und verzehrt es mit großem Genuß. Hinterher ist sie viel zu satt und wird wahnsinnig müde. Das Bettzeug ist zwar noch nicht warm, aber was macht das schon. Das hier ist das reinste Luxushotel, verglichen mit einem Treppenhaus. Sie liegt noch nicht richtig auf dem Bett, da ist sie auch schon eingeschlafen.

Manchmal gehört mir die ganze Welt

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