Читать книгу Die vom glänzenden See - Mel Mae Schmidt - Страница 5
III.) HEUTE – 05. November 2016, TODTNAU/FREUDENSTADT, SCHWARZWALD
Оглавление„Wie lange, hast du gesagt, dauert nochmal die Fahrt?“, erkundigte sich Lavinia bei Karl, während sie auf der Autobahn in Richtung Freudenstadt fuhren.
Karl seufzte. „Ich habe gesagt, dass es wahrscheinlich fast zwei Stunden dauern wird. Ohne Verkehr wohlgemerkt. Diese ist die kürzeste Möglichkeit, es gab noch zwei längere. Aber über die Autobahn B31 müsste es am schnellsten gehen.“ Er konzentrierte sich wieder auf die Straße.
Lavinia nickte. „Aber immer noch recht lang. Wie viele Kilometer sind das denn?“
Karl antwortete nur mit einem weiteren Seufzer. „In etwa 131 Kilometer.“
„Wollen wir hoffen, dass dort auch wirklich mein Kinderheim steht, sonst war die lange Fahrt umsonst“, entgegnete Lavinia.
„Werden wir ja sehen. Aber Freudenstadt ist nun mal unser einziger Anhaltspunkt. Wird schon nicht umsonst gewesen sein.“
Lavinia blickte nachdenklich auf die vorbeiziehenden Bäume und Straßen und Autos. Einerseits wünschte sie sich nichts sehnlicher, als dass es tatsächlich ihr Kinderheim ist und sie dort ihre Vergangenheit findet. Aber andererseits hatte sie große Angst die „alte Hexe“ wiederzusehen. Falls sie noch lebte. Angst und Freude mischten sich in ihr und sie wurde immer hibbeliger.
„So nervös?“, fragte sie Karl belustigt.
Lavinia sah ihn an. „Na hör mal! Ich begegne vielleicht dem schlimmsten Menschen dieser Erde und da soll ich nicht nervös sein? Über diese Sache vergesse ich schon fast, weswegen ich dort eigentlich hinwollte!“
Karl lachte leise.
Lavinia sah ihn nun ernst an. „Ist ja mal wieder typisch für euch Juristen! Keinerlei Gefühlsregung! Warst du überhaupt schon mal in deinem Leben nervös gewesen?“
Karl tat beleidigt. „Ich habe keinerlei Gefühlsregung? Ich verbitte mir das!“ Dann lachte er wieder. „Ist mein Lachen etwa keine Gefühlsregung? Aber du hast Recht, ich bin überaus selten nervös.“
Lavinia schnaubte. „Ja. Sicher. Und du bist total tiefenentspannt in dein Staatsexamen gegangen, wie?“ Genervt sah sie ihn an. Dieser nickte. Er grinste. „Du sagst es.“ Lässig sah er sie an. „Nervosität vermasselt einem doch nur alles. Sonst wäre ich jetzt kein Anwalt. Ein Anwalt darf nicht nervös sein, das zeugt von Schwäche. Im Gerichtssaal geht es um Stärke. Um Macht. Um Gerechtigkeit. Du musst dort alles geben für deinen Mandanten. Und dein Mandant bezahlt dich nicht dafür, dass du wie ein kleines Mäuschen herumpiepst und keinen Ton herausbekommst. Du musst ihn verteidigen. Stark, gefasst und selbstsicher.“ Gefasst sah er wieder auf die Straße.
Lavinia sah ihn bewundernd an. Wie gern sie so wäre wie er. So entspannt. Überlegen. Mächtig. Als er das kleine herumpiepsende Mäuschen erwähnte, kam es ihr so vor, als rede er von ihr. So kam sie sich immer vor, wie ein kleines Piepsmäuschen. Unterlegen. Nervös. Mädchenhaft.
Geknickt schaute sie nun auch wieder nach draußen auf die Straße.
Lange saßen beide nur da und sagten kein Wort. Karl schaute ernst und konzentriert auf die Straße und wollte offensichtlich nicht mit Lavinia reden. Zum Teil schien er heute abwesend. Als bedrücke ihn etwas. Lavinia konnte sich nicht erklären, was es sein könnte, immerhin war sie diejenige, die eine Last auf ihrem Herzen hatte. Das, was ihr bevorstand.
Nach fast zwei Stunden und wenig Verkehr erreichten Karl und Lavinia Freudenstadt. Ein herrliches kleines altes Städtchen, wie Karl fand. Sehr hübsch, um Urlaub zu machen. Lavinia nickte zustimmend. Warum war sie nur von hier geflüchtet damals? Nur wegen dem Kinderheim? Damals mit achtzehn hatte sie wohl kein Auge für die Schönheit der Stadt und wollte nur weg. Ganz schnell weg. Doch nun, wo sie an einem schönen sonnigen Wintertag hier war, fand sie, dass diese Stadt wirklich auf den ersten Blick zauberhaft war. Ein Märchenort!
„Ich muss noch rasch einen Parkplatz finden“, sagte Karl und schlich mit dem Auto von Sträßchen zu Sträßchen. „Schlimm, wenn man sich nicht auskennt.“ Er hielt ganz konzentriert nach einer Parkmöglichkeit Ausschau. „Und das Navi kann mir hier auch nicht helfen. Ob mein Smartphone weitere Infos hat?“ Er dachte laut nach.
„Hier ist ein Kaufhaus. Wir können doch hier parken“, schlug Lavinia vor.
Karl verzog das Gesicht. „Dann kommen wir hier nur wieder raus, wenn man was kauft. Bezahlen für einen Parkplatz ist generell nicht meine Strategie. Ich versuche einen freien kostenlosen Parkplatz zu bekommen.“ Er fuhr durch verschiedene Straßen und bekam schließlich was er wollte. In der Friedrichsstraße gab es einige freie und kostenlose Parkplätze. „Und ein paar Meter weiter ist schon das Rathaus!“, rief Karl begeistert. „Dort können wir doch auch als erstes hingehen, oder? Naja, oder eben das Kinderheim.“
Lavinia seufzte. „Keine Ahnung. Was eben besser ist. Ich weiß auch nicht, ob das Kinderheim irgendwelche Informationen über mich hat. Meine Geburt, meine Familie. Wenn ich dort nur abgesetzt wurde, was sollen die schon wissen?“ Lavinia sah etwas traurig drein.
Karl schnallte sich vom Auto ab und lächelte. „Du weißt nicht, ob das Kinderheim keinerlei Infos über dich hat. Vielleicht ja doch. Es könnte doch sein, dass für dich dort etwas hinterlassen wurde von deinen Eltern. Alles ist möglich, Livi.“
Lavinia stöhnte und schnallte sich nun auch ab. „Wenn du meinst.“
Karl lachte. „Na komm schon. Wir gehen also erst zum Kinderheim.“
„Konnten wir nicht näher am Kinderheim parken als näher am Rathaus? So müssen wir noch weit zu Fuß gehen!“, jammerte Lavinia und fing an, sich wie ein kleines Kind zu benehmen.
Karl sah sie ausdruckslos an. „Wirst du nun wieder zum Kind, je näher wir uns dem Kinderheim nähern, oder wie darf ich deine Quengelei verstehen? Dann gehen wir eben etwas zu Fuß! Wir haben nun fast zwei Stunden nur gesessen, da ist das nun wirklich nicht zu viel verlangt.“ Karl sprach wie ein Vater zu Lavinia und grinste sie neckisch an. Diese verzog nur das Gesicht.
Sie gingen einige kleine Straßen entlang und bewunderten die schöne Altstadt. Die Bauten waren noch aus vergangenen Jahrhunderten und schnell verschwand man im Geist in frühere Zeiten. Karl und Lavinia fanden es erstaunlich hier.
Fast eine halbe Stunde später kamen sie dann am Kinderheim SONNENLICHT an und Lavinia wurde sehr nervös.
„Hey, keine Sorge“, versuchte sie Karl zu beruhigen. „Ich bin ja da, okay? Dir wird nichts geschehen.“ Er lächelte sie aufmunternd an. Lavinia nickte. Sie bemühte sich um mehr Gelassenheit. „Denk wie ein Anwalt, sei ein Anwalt“, flößte ihr Karl ein und Lavinia nickte. „Sei stark.“
Mit wild pochendem Herzen trat Lavinia näher an das Gebäude heran. Karl folgte ihr mit einigem Abstand. Lavinia lugte zunächst vorsichtig durch eines der Glasfenster und atmete tief durch ehe sie, mit einem letzten Blick zu Karl, den Klingelknopf drückte.
Es dauerte eine Weile bis jemand öffnete. Es war die Schnepfe.
Lavinia sah sie panisch an. Diese blickte Lavinia mit äußerster Kühle an. „Sieh mal einer an, da ist sie ja wieder“, gab die kleine streng aussehende Frau mit rauchiger Stimme zu erkennen. „Lange nicht gesehen nach deiner Flucht, du undankbares Gör!“ Ihre Gesichtszüge verhärteten sich und aus ihrem Innern drang ein Knurren.
Karl verschlug es den Atem. Es kam ihm vor, als stünde er vor dem leibhaftigen Teufel. Oder seiner Mutter. Oder sogar Großmutter.
Er fing sich bald wieder und gab seine Anwesenheit mit einem Räusperer zu erkennen. Die Hexe wandte sich ihm unbeeindruckt zu. „Sind Sie etwa Ihr Begleiter? Kann sie nicht alleine herkommen? Oder hat sie zu viel Schiss?“ Belustigt ließ sie ein krächzendes Lachen verlauten.
Karl verwandelte sich augenblicklich vom Menschen und guten Freund zum kühlen und mächtigen Rechtsanwalt. „Nun, Frau Normandell braucht Ihnen keine Rechenschaft abzulegen. Sie kann kommen und gehen wie und mit wem sie will. Ich habe sie hergefahren, um Ihr juristischen Beistand zu leisten. Aus diesem Grund haben wir bei Ihnen geklingelt. Wir brauchen von Ihnen Informationen, wenn es genehm ist, Frau –„ er stockte und wartete ab, bis die Hexe von selber ihren Namen preisgab.
Diese schaute ihn amüsiert an. „Juristischer Beistand? Soso. Und Sie brauchen Informationen von mir? Was könnte ich Ihnen denn schon geben? Was meinen Sie, könnte ich an Informationen haben, die Sie interessieren könnten?“ Überlegen sah sie von Lavinia zu Karl.
Karl spürte, wie seine Anwaltschaft in den Dreck gezogen wurde, angezweifelt von einer Hexe. Kühl und ebenso überlegen blickte er zu ihr hinab.
„Nun, Frau … wie auch immer Ihr Name lautet. Frau Normandell begehrt Informationen über ihre Vergangenheit. Ihre Familie. Sie waren immerhin ihre Bezugsperson vom ersten Tage. Sie werden doch sicherlich Informationen für sie haben, die sie verwenden kann, um mehr Forschung betreiben zu können. Oder etwa nicht?“ Erwartungsvoll sah er sie an.
Die Hexe lachte spöttisch. „Sie sind ja ein lustiger Kauz. Kommen einfach so ohne Ankündigung her und meinen, ich würde springen, wenn Sie pfeifen. Glauben Sie etwa, ich habe nichts anderes zu tun? Ich betreibe hier immerhin ein Kinderheim! Ich muss auf zig Bälger aufpassen, die nicht genug haben können und immer mehr, immer mehr haben wollen. Ihr Maul kann ich ihnen nicht genug stopfen und ihr Gequengel macht mich wahnsinnig! Ich hab jetzt keine Lust mit Ihnen zu reden. Kommen Sie irgendwann anders wieder. Kapiert?“ Mit diesen Worten wollte die Hexe die Türe zuschlagen, aber Karl ließ sich nicht einfach so abwimmeln. Flink wie er war schoss er vor und setzte seinen Fuß zwischen Türe und Türrahmen. So konnte die Hexe nicht schließen.
„Wir gehen erst, wenn wir haben was wir begehren. Wir sind fast zwei Stunden gefahren und lassen nicht locker. Was Sie da tun ist gegen das Gesetz!“, raunte Karl der Hexe zu und starrte sie ernst an. Die Hexe schnaubte verächtlich. „Sie sind sehr aufdringlich. Ich habe keine Lust auf Spielchen!“ Sie bemühte sich mit aller Kraft die Türe zu schließen, indem sie Karl wegzustoßen versuchte. Doch dieser war größer und kräftiger als sie und so blieb er wo er war. Er lachte nun ebenso spöttisch. „In der Zeit, wo Sie versuchen uns loszuwerden, hätten wir schon längst Informationen von Ihnen erhalten können. Sie rauben sich gerade selber Ihre kostbare Zeit. Machen Sie die Türe auf, wir treten ein und Sie sagen uns, was Sie wissen. Dann sind wir so schnell wie möglich wieder weg von hier!“ Karl genoss die unterentwickelte Intelligenz dieser Hexe und fand es sehr unterhaltend, ihr bei ihren kläglichen Versuchen, ihn loszuwerden, zu beobachten.
Die Hexe seufzte. Ihr Gekrächze war kaum zu ertragen. „Na schön. Kommt rein, ihr Wahnsinnigen!“ Sie riss die Türe weit auf und Karl trat mit Lavinia ein. Lavinia war noch immer von der Hexe eingeschüchtert und wusste nichts zu sagen. Dies merkte die Hexe und beobachtete sie genau. „Hast dich kein Stück verändert, Lavinia“, raunte die Hexe ihr zu. „Bist immer noch so eine kleine schüchterne graue Maus wie damals. Zu nix nütze, wetten? Immer noch nicht. Die Gesellschaft hat keinen großen Nutzen an dir!“ Sie lachte hässlich. Lavinia wurde rot vor Wut und Verlegenheit. Dass sie so etwas Widerliches in Karls Gegenwart sagte war ihr mehr als peinlich. Er sollte so wenig wie möglich über ihr altes Ich wissen, dass sie selber so sehr verabscheute.
Karl sah die Hexe ernst an und zweifelte offenbar an ihren Worten.
Die Hexe führte Lavinia und Karl in ihr Büro und schloss hinter ihnen die Türe. Sie bot keinem der beiden einen Sitzplatz auf den vor ihnen stehenden Stühlen an. Jeder nahm sich einfach einen Stuhl und setzte sich darauf. Die Hexe schaute sie dabei mürrisch an und wollte wohl protestieren, beließ es aber dabei und stöberte stattdessen in einer Schublade.
„Also?“, setzte Karl ungeduldig an.
„Jaja, ich such ja schon“, meckerte die Alte zurück. „Es muss hier irgendwo sein.“ Ächzend wühlte sie in der vollgepackten Schublade in einer Kommode neben ihrem Schreibtisch.
„Es? Was genau suchen Sie?“, wollte Karl wissen.
„Werden Sie schon sehen.“ Die Alte suchte und suchte. „Ah, da ist er ja!“ Sie hielt einen Brief in Händen und übergab ihn Lavinia. Diese nahm den Brief in Empfang und schaute die Hexe verwirrt an. „Was ist das?“
„Na ein Brief, du Dummerchen!“
Karl verdrehte die Augen. „Ja das sehen wir selber. Sie meinte wohl eher, von wem der ist.“
Die Hexe sah ihn genervt an. „Von ihren Eltern. Von wem denn sonst?“
Lavinia starrte sie erschrocken an. Dann blickte sie auf den Brief in ihren Händen und dann zu Karl. Er war schon geöffnet worden.
„Haben Sie den Brief geöffnet?“, wollte Karl in aufbrausendem Ton wissen. Die Hexe sah ihn unschuldig an. „Ja aber gewiss doch! Er lag ihr bei, als sie bei uns abgegeben wurde. Sie war noch ein Baby, so muss ich als ihre Erziehungsberechtigte den Brief öffnen. Darin steht immerhin ihr Name und etliche andere Informationen, die ich benötigte. Sonst wäre sie mit falschem Namen oder gar ohne Namen aufgewachsen!“ Wie ein Unschuldslamm sah sie Karl an. Dieser hielt die Bemerkung zurück, dass er bezweifle, dass sie es nicht sonderlich gestört hätte, wenn Lavinia mit falschem Namen aufgewachsen wäre. Stattdessen sah er Lavinia an, wie sie den Brief anstarrte und offenbar überlegte, ob sie ihn öffnen sollte.
„Na los, Livi“, drängte Karl. „Mach ihn auf. Lies ihn!“ Hoffnungsvoll sah er sie an. Lavinia schluckte. „Ich habe Angst, Karl.“
Die Hexe schnaubte spöttisch. „Ja, wie immer. Du hast immer Angst. Vor allem und jedem.“
Karl sah sie wütend an. „Hören Sie damit sofort auf!“
Die Hexe seufzte. Es klang, als habe sie einen guten Witz gerissen und keiner besäße die Intelligenz diesen zu verstehen.
Karl wandte sich wieder an Lavinia.
Diese gab sich selber einen Ruck und zog langsam und bedächtig den Brief aus dem Umschlag.