Читать книгу Levi - Melanie Meier - Страница 7

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23.04.1996

»Komm endlich!« Ihm standen Tränen in den Augen. Er packte seine Mutter am Arm und zog mit aller Gewalt, so dass sie zusammen in Richtung Flur taumelten. »Bitte! Komm!«

Seine Mutter schlug mit der freien Hand nach ihm. »Lass mich los! Sofort!«

Levi konnte sehen, dass sie Angst hatte. Sie hatte immer Angst vor ihm. Eine unbestimmte Angst, vergraben unter ihren mütterlichen Gefühlen. Jetzt trat die Angst in den Vordergrund.

»Lass mich los!« Ihre Stimme überschlug sich. »Komm zur Besinnung, du irrer Rotzlöffel!«

Ihm blieb nichts anderes übrig, er hatte keine Wahl.

Der Fernseher lief noch immer, eine Nachrichtensprecherin erzählte irgendetwas über Explosionen und Feuer. Am Rande registrierte Levi Bilder von Flammen, die über die Mattscheibe flackerten.

Er schlug zu. Seine Faust traf ihr Kinn so hart, dass irgendein Knochen krachte. Es war ein Knochen in seiner eigenen Hand. Levi unterdrückte den Schmerz. Seine Mutter klappte vor ihm zusammen, er fing sie auf. Sie war zu schwer für ihn. Er ließ sie zu Boden sacken, hörte sie unverständliche Worte murmeln. Dann packte er ihre Arme und schleifte sie in Richtung Flur.

Als die Decke herunterbrach, hatte er sie gerade weit genug geschleift, damit sie nicht von den Trümmern erwischt wurden. Eine kalkige, weiße Staubwolke breitete sich in der Wohnung aus. Levi warf sich über seine Mutter und schützte ihren Kopf. Feine Splitter regneten auf sie herunter, irgendwo schrie jemand.

Levi wollte sich gerade aufrichten, als etwas nachrutschte. Er hörte ein Poltern, dann wurde es schwarz um ihn.


Der Mund war trocken. Seine Zunge war jetzt ein Mehlwurm, ungelenk und gepudert. Er konnte sich nicht bewegen, sein Kopf fühlte sich dumpf an.

»Da wird ja jemand wach«, sagte eine Stimme.

Levi blickte auf und sah eine alte Frau in einem weißen Kittel. Sie lächelte.

Ihm fiel wieder ein, was passiert war. Er hatte seine Mutter geschlagen. Er hob die Hand. Sie war geschient.

»Ein Bruch«, sagte die Krankenschwester. »Die Mittelhand.« Sie beugte sich über ihn. »Außerdem hat dich ein Trümmerstück am Kopf erwischt. Wir haben die Platzwunde genäht. Wird alles wieder.«

»Wasser«, krächzte er. Das Sprechen tat weh.

Sie zog ein mitleidiges Gesicht. »Du darfst noch nicht trinken. Du wirst über die Infusion versorgt. Wir können nicht ausschließen, dass es innere Verletzungen gibt, darum darfst du die nächsten vierundzwanzig Stunden nichts zu dir nehmen. Möchtest du den Mund wenigstens ausspülen? Das hilft etwas.«

Levi nickte.

Sie reichte ihm ein Glas und ein metallenes Behältnis. Er gurgelte und spuckte aus. Der Mehlwurm verwandelte sich wieder in eine Zunge. Das taube Gefühl blieb.

»Meine Mutter?«

Die Krankenschwester lächelte. »Ihr geht es gut. Eine Prellung am Kinn, das ist alles. Sie war die ganze Zeit hier bei dir, gerade ist sie zur Toilette gegangen. Sie wird bestimmt gleich wieder hier sein.« Die Schwester deutete auf einen Knopf. »Wenn du etwas brauchst, klingle. Du darfst noch nicht allein aufstehen wegen der Gehirnerschütterung. In Ordnung?«

Wieder nickte er. Er war entkräftet.

Als die Tür zu seinem Zimmer aufging, schreckte er aus einem seichten Schlaf auf. Seine Mutter trat an sein Bett. Ihr Kinn war geschwollen und blau. Sie sah ihn sehr ernst an.

Levi versuchte zu lächeln. Er war zu schwach, um die Hand nach ihr auszustrecken.

»Woher wusstest du, was passieren wird?« Ihre Stimme klang schroff.

Sein Lächeln schwand. Er zuckte mit den Schultern.

»Hast du wieder diese Bilder im Kopf?«

Er nickte, ohne sie anzusehen.

»Der alte Mann über uns ist samt der Couch in unsere Wohnung gekracht und gestorben. Wahrscheinlich hat sein schwaches Herz vor Schreck einfach den Geist aufgegeben.«

Levi antwortete nicht. Auch sie sagte nichts mehr. Er konnte hören, dass irgendwo im Zimmer ein Stuhl knarrte, aber sie blieb seinem Blick fern. Levi schlief wieder ein.


Levi erwachte, weil ihn jemand am Kopf berührte. Es standen drei Männer um sein Bett, einer von ihnen begutachtete die Platzwunde. Die Krankenschwester war ebenfalls da.

»Alles bestens«, sagte der Arzt und lächelte ihn an. »Wie fühlst du dich?«

Der Mehlwurm war zurück. »Müde und durstig.«

Der Arzt nickte. »Er darf essen. Die Wunden heilen gut. Hast du Schmerzen?«

Levi befragte seinen Körper. »Nein. Ich fühle mich nur schwindelig.«

»Wir führen dir Schmerzmittel über die Infusion zu, das kann daran liegen. Außerdem hast du eine Gehirnerschütterung, da ist man immer etwas schummrig im Kopf.« Er wandte sich den anderen beiden Männern zu. »Wenn er die Nacht über stabil bleibt, entlasst ihn morgen. Er bekommt Abendessen. Noch kein Herumwandern allein.«

Alle nickten. Auch Levi.

Als die Männer weg waren, brachte ihm die Krankenschwester eine Kanne voll Wasser. Sie half Levi, sich ein wenig aufzurichten, und hielt ihm das Glas an den Mund. Er trank gierig. Der erste Schluck schmerzte in der trockenen Speiseröhre.

Ihm fiel auf, dass seine Mutter nicht mehr hier war. Levi erinnerte sich an ihr Gesicht. Sie hatte nicht sehr begeistert ausgesehen.

Er lehnte sich im Bett zurück und konnte die Tränen nicht aufhalten. Er war zu schwach, um dagegen anzukämpfen. Die Krankenschwester tätschelte seine Schulter, und bald schlief er wieder ein.


Levi träumte: Er lag kerzengerade auf einer Tragbahre. Neben ihm stand jemand. Die Erscheinung strahlte Geborgenheit und Wärme aus. Hände fuhren in strukturierten Mustern über seinen Körper, erfüllten ihn mit Wohlbehagen.

24.04.1996

Levi schlug die Augen auf. Sanftes Licht fiel durch das Fenster und erfüllte den Raum mit einem neuen Tag. Er fühlte sich gestärkt und gesund.

Vorsichtig richtete er sich im Bett auf, um die Infusionsnadel nicht aus dem Arm herauszureißen. Er griff nach dem Rollwagen, zog ihn zu sich, schenkte sich Wasser ein und trank. Anschließend klingelte er nach der Schwester. Es kam eine andere. Sie war jünger und sah müde aus.

»Ich will nach Hause«, sagte Levi. »Ich bin gesund.«

»Es ist noch nicht mal sechs Uhr. Jetzt kannst du nicht gehen. Leg dich wieder hin und schlaf noch ein bisschen.« Sie drehte sich um und ging.

Levi blickte sich im Zimmer um. Er wollte nicht mehr bleiben, er war nicht müde. Sein Blick fiel auf die Infusionsnadel. Er fingerte das Pflaster herunter und betrachtete die Nadel, die in seiner Vene verschwand. Vorsichtig zog er sie heraus. Er drückte mit dem Daumen einige Minuten auf den Einstich, bis dieser nicht mehr blutete.

Mit der linken Hand fing er an, den Verband von der geschienten Hand zu wickeln. Als er sie frei hatte, nahm er die Schiene ab und bewegte die Finger. Sie waren ein wenig taub und dick, aber nichts tat weh. Levi stand auf.

Auf dem Stuhl, auf dem seine Mutter gesessen haben musste, lag frische Kleidung. Er schlüpfte in die Jeans und das Sweatshirt und ging zum Badezimmer hinüber. Nachdem er auf dem Klo gewesen war, betastete er die Platzwunde am Hinterkopf und sah sich dabei im Spiegel an. Er konnte geronnenes Blut im vom Kalk und Staub dreckigen Haar spüren, dazwischen den Faden. Er wusch sich das Gesicht.

Im Zimmer sah er sich noch einmal um. Es gab keine weiteren persönlichen Sachen. Levi nahm die Schiene und den Verband mit, schlich aus dem Zimmer und den Gang hinunter. Irgendwann kam er zu einer Treppenflucht. Er fand den Ausgang aus dem Krankenhaus, orientierte sich draußen und ging zu Fuß nach Hause.

Levi

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