Читать книгу Levi - Melanie Meier - Страница 8
Оглавление01.06.2012
Phil hatte nur seinen Backpacker-Rucksack dabei, wie immer. Er kam mit dem Taxi. Levi sah vom Wohnzimmerfenster aus zu, wie sein Freund ausstieg und um das Haus herumging.
Philip Tanker, einunddreißig Jahre alt, ledig, Allgemeinmediziner, seit zwei Jahren angestellt bei einer karitativen Organisation, die Ärzte in Drittweltländer aussandte. Phil, aus einem stabilen Elternhaus, mit reibungslosem Lebenslauf und finanzieller Absicherung durch seine Eltern. Philie, wie ihn seine Mutter nannte, mit dem irren Freund Levi.
Er war braungebrannt und schäumte über vor Lebendigkeit und Freude. Sie umarmten sich und setzten sich ins Wohnzimmer.
»Eine Woche bleibe ich bei dir«, sagte Phil, »danach bin ich für eine weitere Woche bei meinen Eltern und dann geht’s nach Bonn, zu meiner Schwester.«
Levi nickte. »Willst du ein Bier?«
»Ein Bier? Jetzt? Es ist erst siebzehn Uhr.« Er grinste.
Levi stand auf, ging in die Küche und holte zwei Flaschen. Sie stießen an und tranken.
»Die letzten zwei Monate habe ich keinen Alkohol angerührt. Du weißt, dass ich nicht süchtig bin. Es fällt mir nicht schwer, nicht zu trinken.«
Phil sah Levi lange an. »Du siehst nicht gut aus, Digger. Wie immer. Was macht die Kunst?«
»Welche meinst du?«
»Welche schon … Wie läuft’s mit den Drillingen?«
»Sie waren eine ganze Weile nicht mehr da. Seit ich nicht mehr getrunken habe, glaube ich.«
»Und davor?«
»Da kam dieses Mädchen. Ich habe nichts gesehen in ihr.«
»Keine Vision? Das gab’s noch nie, oder?«
Levi schüttelte den Kopf.
»Sprich«, sagte Phil. »Was war mit ihr?«
Ein Lächeln schlich sich auf Levis Lippen. »Was wohl?«
»Du meinst, die Drillinge haben dich nur deshalb auf sie aufmerksam gemacht? Alter, du wirst dich nie ändern, oder?«
»Sie wollte es so. Wir haben kaum drei Worte gewechselt, da hat sie mich schon in ihr Bett gezerrt.«
»Ist sie hübsch?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist nicht das, was ich bevorzuge. Sie ist …« Ein Schulterzucken. »Ich muss oft an sie denken. Sie ist anders. Es war das erste Mal, dass ich nicht die Zukunft sehen musste.«
»Beängstigend, was?«
»Nein. Befreiend.«
»Bist du verschossen in sie?«
»Quatsch. Es war nur eine neue Erfahrung.«
Phil musterte ihn noch einen Moment, dann hob er das Bier, um wieder anzustoßen.
Er lud Levi zum Essen ein. Die meiste Zeit saßen sie schweigend da, und Levi merkte, wie sehr ihm diese geteilte Stille gefehlt hatte. Sie bestellten sich nach dem Essen Bier.
»Und bei dir? Wie sind die Weiber da unten so?«
Phil sah ernst aus. »Es ist schwierig. Aids ist in Afrika ein ständiger Begleiter, für uns hier nicht nachvollziehbar. Die meisten wissen gar nicht, dass sie infiziert sind. Und die Zahl derer, die für eine Handvoll Münzen Frauen kaufen, ist unübersichtlich und genauso ungewiss wie hier, wenn nicht schlimmer. Afrika hat noch einen weiten Weg vor sich, und das schwierigste wird sein, die Vorurteile und unbewusste Herabsetzung der Schwarzen zu überwinden. Leute wie du und ich, die sich für aufgeklärt und auf keinen Fall rassistisch halten, erleben da unten ein Erwachen.« Phil suchte nach den richtigen Worten. »Wenn der Mensch nicht mit gewissen Dingen aufgewachsen ist, sind sie ihm einfach fremd. Das scheint mir die Grundlage für Rassismus zu sein, und irgendwie schlummert das in uns allen.«
Phil hielt ein tiefschwarzes Mädchen im Arm. Er beugte sich über sie, küsste sie und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Das Mädchen war jünger, vielleicht fünfundzwanzig, und sie sah verliebt zu ihm auf.
»Wie meinst du das?«, fragte Levi.
Phil schwieg. Er starrte Levi an.
Dieser sah auf den Tisch hinab und stieß einen leisen Fluch aus. »Ja, ich hab sie gesehen. Es tut mir leid.«
»Es muss dir nicht leidtun«, sagte Phil.
»Sie liebt dich.«
»Und ich liebe sie. Ich überlege, ob ich sie heiraten soll.«
»Bist du deshalb hier? Weil du hoffst, ich könnte sehen, was richtig ist?«
Phil erwiderte den Blick nur.
Levi nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier, knallte das Glas auf den Tisch und stand auf. Mit schnellen Schritten verließ er das Restaurant, stellte sich in den Schatten auf der gegenüberliegenden Straßenseite und zündete sich eine Zigarette an. Phil kam kurz darauf nach.
Nebeneinander gingen sie durch die Fußgängerzone. Sie steuerten die Kneipe an, in der sie während Phils Studium Stammgäste gewesen waren. Phil kaufte zwei Bier und sie setzten sich an einen Tisch in einem ruhigen Eck.
»Ich bin oft bei der Kirche«, sagte Levi schließlich. »Immer wieder zieht es mich hin zu diesen Statuen, die mich nur schweigend anstarren. Sie geben mir genauso wenig Antwort wie die Drillinge. Sie alle reden, aber sie reagieren nicht auf mich. Es ist, als würden sie mich sehen, aber nicht hören.«
»Bist du jetzt wirklich eingeschnappt, weil ich mir eine Antwort von dir erhoffe?«
Levi sah weg. »Ich brülle sie an, ich flüstere, ich schleudere ihnen meine Fragen in Gedanken entgegen, aber es kommt nichts zurück. Vielleicht bin ich nur taub. Vielleicht höre ich nur, was ich hören will oder stelle die falschen Fragen.«
»Oder du bist einfach ein sturer Volltrottel, der den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht.«
»Du hast keine Ahnung!«, sagte Levi. Er stand auf, ging zur Bar und bestellte zwei Absinth. Einen gab er Phil. Sie stießen an und tranken.
»Vielleicht ja doch«, sagte Phil. »Vielleicht erkenne ich mehr als du, weil ich nicht damit leben muss. Manchmal sehen Leute, die nicht direkt in die Sache verwickelt sind, mehr als die Beteiligten.«
»Manchmal auch nicht.«
»Alter, du siehst Dinge, die erst geschehen. Dir erscheinen drei Kerle, die dir sagen, was zu tun ist. Und du siehst diese Schatten. Ich verstehe nicht, wie all das den verbitterten Typen aus dir machen konnte, der da vor mir sitzt. Ich verstehe es nicht.«
»Ich sehe Fragmente.« Levi trank vom Bier. »Von allem nur Fragmente. Wer die Drillinge sind, weiß ich nicht. Sie reden eine Menge Zeug, aber das nützt mir nichts.«
»Und trotzdem hat all das schon einigen Menschen das Leben gerettet. Dir, mir, deiner Mutter und vielen anderen.«
»Fragt sich nur, ob es Sinn macht.«
»Das Leben macht immer Sinn.«
»Sagt der leidenschaftliche Arzt.«
»Aus vollster Überzeugung.« Phil beugte sich vor. »Wen siehst du, wenn du mich ansiehst? Ich weiß es. Du siehst jemanden, der in deinen Augen nichts durchmachen muss. Jemanden, der seinen Vater kennt. Jemanden, der einen Job ausüben kann, der ihm gefällt. Jemanden, der lebt. Das trennt uns, Levi. Du gräbst einen Graben, der uns trennt. Irgendwann wird er so breit und tief sein, dass wir uns nicht mehr sehen können.«
Schweigen.
»Wenn du so weitermachst, dann hast du bald keinen mehr«, fuhr Phil fort. »Ich werde immer dein Freund sein, mein ganzes Leben lang wird dir meine Türe offen stehen. Es wird niemals etwas geben, das ich dir verweigern würde. Das weißt du alles. Und jetzt erkläre mir, warum du trotzdem diesen Graben schaufelst.«
»Weil ich das Gefühl habe, alle profitieren von meiner Fähigkeit, nur ich nicht. Du kommst nach zwei Jahren aus Afrika und willst wieder nur, dass ich dir das Go zum Heiraten der Kleinen gebe. Das bin nicht ich, Phil. Du würdest alles für mich tun? Nein. Du würdest alles für das tun, was ich kann. Könnte ich es nicht, wer weiß, ob wir überhaupt Freunde wären.«
Phil sagte nichts.
Die Bedienung kam. Levi bestellte zwei weitere Absinth, Phil zwei Bier. Sie tranken den Absinth. Die Kneipe füllte sich allmählich, immer mehr Studenten trieb es von draußen herein.
»Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen.«
Levi seufzte. »Wenn ich etwas sehe, sage ich es dir. Versprochen.«
»Danke.«
»Aber bitte bleib die Woche. Du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann.«
Phil nickte. »Sag ich doch! Und jetzt rufst du die Kleine von letztens an, damit ich sie kennenlernen kann.«
»Warum?«
»Weil ich es will.«
Levi hatte sie nach dem dritten Klingeln am Handy. Sie redete los, noch ehe er hallo sagen konnte.
»Endlich! Ich dachte schon, du meldest dich gar nicht mehr. Ich habe dir ja gesagt, dass ich nicht anrufen werde, aber das war eine ganz schöne Bewährungsprobe für mich.« Sie lachte. »Wann können wir uns treffen?«
»Jetzt. Mein Freund will dich sehen.«
»Und du nicht?«
»Ich musste oft an dich denken.«
»Das ist schon mal ein Anfang. Wo seid ihr?«
Levi sagte es ihr. Zwanzig Minuten später war sie da. Sie trug wieder den bunten Hut.
»Und du bist der beste Freund«, sagte sie zu Phil. »Ich dachte schon, so ein Typ wie er hätte keine Freunde.«
»Hat er auch nicht.« Phil schlug gegen Levis Schulter.
»Er ist mein einziger Freund«, sagte Levi.
»Na, jetzt hast du noch einen.« Karoline holte sich ebenfalls ein Bier. Sie trug eine Jeans und ein schwarzes Oberteil. Phil blickte ihr nach.
»Die ist wirklich anders als die anderen«, sagte er.
»Ja. Ist sie.«
Karoline kehrte an den Tisch zurück. »Was habt ihr Jungs heute noch vor? Jetzt, nachdem Phil mich kennt?«
»Ich bin nur eine Woche hier«, sagte Phil. »Wahrscheinlich werden wir uns jeden Abend betrinken und tagsüber schlafen.«
»Da kann ich nicht mitmachen. Manche Leute gehen arbeiten. Woher kommst du?«
»Aus Afrika. Seit zwei Jahren arbeite ich dort als Arzt.«
»Ich bin die Empfangstipse eines Heilpraktikers. Wir öffnen morgen um neun Uhr, da muss ich fit sein.« Karoline sah Levi an. »Ich weiß noch gar nicht, was du machst.«
»Ich arbeite für Drillinge. Ihre Aufträge kommen unregelmäßig und ich muss nicht unbedingt nüchtern sein dafür.«
»Er spinnt, oder?«
Phil nickte. »Total.«
»Woher kennt ihr euch? Aus dem Sandkasten?«
»So ungefähr«, antwortete Phil. »Meine Eltern haben sich ein Haus hier in der Nähe gekauft, als ich zwölf war, und ich ging in der Stadt ins Gymnasium, und da setzte mich der Klassenleiter neben Levi. Anschließend schrieb er in den Schularbeiten von mir ab.«
»Außer in Ethik«, sagte Levi.
»Das stimmt. Da war ich nicht dabei, ich bin Katholik.«
Karoline sah Levi an. »Warum hast du dich jetzt erst gemeldet?«
Er erwiderte ihren Blick. Noch immer nichts. Er zuckte mit den Schultern. »Eigentlich melde ich mich kein zweites Mal.«
»So einer bist du also!«
»Man mag es kaum glauben, was?« Phil grinste. »Dass so ein Kerl so mühelos Weiber aufreißen kann … Da war er mir immer voraus.«
Karoline sah zwischen den beiden hin und her. »Levi hat irgendwas. Ich weiß nicht, was es ist, aber er wirkt rätselhaft.«
»Das scheint bei euch Frauen zu funktionieren.«
»Wahrscheinlich, weil wir gern analysieren. Intuitiv, nicht mit dem Verstand. Er sieht auch ein bisschen leidend aus, da setzt vermutlich der Mutterinstinkt ein.«
»Du meinst, du hast Muttergefühle für Levi?«
»Naja, nicht so richtig. Jedenfalls ist er keiner von diesen normalen Dreißigjährigen, und das allein zieht mich schon an. Als ich ihn damals am Brunnen sitzen sah, da hat er so einen meditativen Eindruck gemacht, so in sich gekehrt, einsam, besoffen, und trotzdem zufrieden. Die Mischung hat mich angezogen.«
»Du bist auch nicht wie die anderen, was?«
»Genauso wenig wie ihr.« Karoline hob den Krug und sie stießen an.
»Unnötig anzumerken, dass ich auch hier bin«, murmelte Levi.
»Bitte?«
»Ihr redet über mich, als wäre ich nicht da.«
»Bist du ja meistens auch nicht.« Phil zwinkerte.