Читать книгу Heil mich, wenn du kannst - Melanie Weber-Tilse, Alisha Mc Shaw - Страница 8
Laura
Оглавление»Ms. Higgins? Hätten Sie bitte einen Moment Zeit für mich?«
Langsam drehte sich Laura um und blickte zu der Bürotür, die soeben geöffnet wurde. »Aber natürlich, Ms. Weatherbee!«, lächelte sie und setzte sich in Bewegung. Überall herrschte reges Treiben und leises Stimmengewirr hing in der Luft. Vor wenigen Tagen erst hatte das neue Therapiezentrum seine Tore geöffnet, das mit Hilfe der Help for a better Life Fundation errichtet worden war und langsam aber stetig kamen auch die letzten Langzeitpatienten an.
Noch herrschte überall ein wenig Chaos, neues Personal traf ein, musste eingewiesen und verteilt werden, aber Laura liebte diese Phase. Beim Entstehen dieser Einrichtung dabei zu sein, ihr ein Gesicht zu geben, war genau das, was sie schon immer gewollt hatte. Energisch schob sie das Klemmbrett unter den Arm, betrat das Büro von Susan Weatherbee, ihrer neuen Vorgesetzten und schloss die Tür hinter sich.
»Nehmen Sie bitte Platz«, Susan deutete auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und schob einige Ordner zur Seite, die sich auf diesem stapelten. »Wenn ich jetzt sage, dass diese Akten die Reste vom großen Chaos sind, klingt das erschreckend, oder?«
Laura grinste. »Nur, wenn man nicht weiß, welchen großen Ansturm das Zentrum bereits in diesen wenigen Wochen erlebt hat, Ms. Weatherbee.«
»Sagen Sie doch Susan zu mir. Und ja, ich schätze, Sie haben Recht. Annabell hatte mich gewarnt, dass es stressig werden könnte, als ich mich dazu entschieden habe, aus der Babypause heraus zumindest halbtags wieder arbeiten zu gehen!«
»Ich freue mich sehr, dass Sie mit an Bord sind, Susan«, lächelte Laura. »Ich habe von Juliette erfahren, welche Geschichte Sie mit Annabell und Ihrem Verlobten verbindet. Ich finde wundervoll, wie sich alles zum Guten gewendet hat. Und dieses Zentrum ist ein Traum!«
»Annabell hat ganze Arbeit geleistet, das stimmt. Aber ich würde gern jetzt über Ihre Aufgaben hier sprechen«, Susan griff nach einer Akte zu ihrer Linken und hielt sie ihr entgegen. »Heute ziehen nicht nur die vorerst letzten Patienten ein, sondern wir bekommen auch einen jungen Mann zu uns, der ... nun ja, Sozialstunden hier ableisten muss.«
Laura griff nach der Akte und schlug sie auf. Das Bild eines jungen Mannes mit blonden Haaren und einem verwegenen Blick, schätzungsweise ungefähr in ihrem Alter, war an einem kurzen Bericht angeheftet. »Ryan Baker«, las sie leise.
»Ryan ist der Bruder meiner Nanny Lorraine«, erklärte Susan. »Er hat eine etwas bewegte Vergangenheit hinter sich. Nach dem Tod seiner Eltern geriet er auf die schiefe Bahn und trat einer Gang bei, die nicht gut für ihn war. Dies ist hier eine Form von Bewährungsstrafe für ihn. Hätte er nicht dabei geholfen, die Bande hochgehen zu lassen, die vor vielen Jahren die Eltern meines Verlobten umgebracht haben, wäre er längst im Gefängnis.«
Laura sah auf und begegnete Susans Blick. »Ich verstehe. Sie möchten, dass ich ihn unter meine Fittiche nehme?«
»Ja, das möchte ich. Juliette«, jetzt lächelten beide Frauen, »hält große Stücke auf Sie und Ihre Zeugnisse sprechen für sich. Ryan ist ... nicht einfach, aber mein Verlobter und seine Schwester haben es sich in den Kopf gesetzt, dass wir ihn auf den rechten Weg zurückbringen können, und fühlen sich ihm gegenüber aus genannten Gründen zu Dank verpflichtet.«
Laura nickte. »Verstehe. Ich werde schon mit Ryan zurechtkommen!«
»Davon bin ich überzeugt! Er sollte um 9 Uhr hier eintreffen und es wäre mir sehr recht, wenn Sie ihn einarbeiten und ihm Aufgaben zuteilen könnten, Laura. Ich denke, dass Sie am besten beurteilen können, wobei Mr. Baker Ihnen eine Hilfe oder ein Hindernis sein wird. Sie haben volle Entscheidungsfreiheit, was das betrifft.«
Laura schloss die Akte und erhob sich. »In Ordnung, ich werde mich darum kümmern.«
Ein paar Minuten später eilte sie erneut den Gang entlang, diesmal auf dem Weg zum Pausenraum. Schon von weitem war leises Stimmengewirr zu hören, das aber immer deutlicher in Gekicher umschwenkte, je näher Laura dem Zimmer kam. Stirnrunzelnd blieb sie stehen. Was gab es denn am frühen Morgen schon zu kichern, und noch dazu so laut, dass man es durch die geschlossene Tür auf dem Gang hören konnte?
Das Bild, das sich ihr bot, als sie die Tür nun öffnete und eintrat, war ... überraschend. Dort stand der junge Mann, den sie bislang nur von dem Foto kannte, das sie mitsamt der Akte augenblicklich fest an ihren Oberkörper drückte. Und er war umringt von einigen Schwesternschülerinnen, die ihn völlig verzückt anhimmelten. Ein leises Seufzen entfuhr ihr. Das fing ja schon gut an.
Eines der Mädchen drehte sich nun, unauffällig, wie sie glaubte, sogar um und öffnete den obersten Knopf ihrer Schwesterntracht, nur um gleich darauf ihre üppige Oberweite mit den Händen etwas besser in Szene zu rücken. Mit einem dumpfen Knall ließ Laura die Tür ins Schloss fallen. »Was geht denn hier vor?«
Wie ein Stall aufgescheuchter Hühner stoben die Schwestern auseinander, sie hatten Laura an der Stimme erkannt und augenblicklich kehrte Ruhe ein. Der junge Mann jedoch konnte nicht wissen, wen er da vor sich hatte. Sein Kopf hob sich zu ihr, seine Augen blitzten und ein charmantes Lächeln trat auf seine Lippen. »Das wird ja immer besser hier! Ich glaube, die Zeit, die ich hier absitzen muss, könnte doch noch recht angenehm werden.«
Langsam machte Laura einige Schritte auf ihn zu. »Angenehm also, ja?«, fragte sie gedehnt. Ryans Blick glitt abschätzend über ihren Körper und sofort presste sie die Akte noch etwas fester an sich. »Ich bin Laura und auf Wunsch der Chefin ab sofort für Sie zuständig.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Laura. Und ... ich mag deine Chefin jetzt schon!«, grinste ihr Gegenüber sie an. »Wir werden bestimmt eine Menge Spaß zusammen haben.«
»Werden wir?« Ihre Augenbrauen hoben sich. »Das wird sich noch zeigen. Ich würde Sie fürs Erste jetzt bitten, mir zu folgen, damit ich Ihnen die Arbeitskleidung übergeben kann, Mr. Baker.«
»Ich folge dir, wohin immer du willst«, Ryan winkte den Schwesternschülerinnen augenzwinkernd zu, was diese erneut kichern ließ. »Man sieht sich, Ladys!«
Kopfschüttelnd wandte Laura sich ab und marschierte hinaus, ohne darauf zu achten, ob ihr neuer Schützling ihr nun folgte oder nicht.
Leise Schritte hinter ihr machten jedoch deutlich, dass dem offenbar der Fall war und einen Moment später schloss Ryan zu ihr auf. »Du gehst auch zum Lachen in den Keller, oder?«, murrte er, kaum, dass er sie erreicht hatte.
Abrupt blieb sie stehen und starrte ihn finster an. »Ich nehme meinen Job ernst, Mr. Baker, das ist ein großer Unterschied. Mir scheint, Sie verkennen den Ernst der Lage ein wenig!« Mit einer Hand klopfte sie auf die Akte, die sie noch immer an sich gepresst hielt. »Ihnen sollte etwas klar sein. Erstens ist das hier so etwas wie Ihre letzte Chance«, erklärte sie, »und zweitens sind wir hier in einem Zentrum für schwerkranke Menschen, Mr. Baker, und nicht bei der Partnerbörse!«
Jetzt war es an Ryan, sie überrascht anzusehen. »Okay, okay«, er hob die Hände an, das Grinsen jedoch wich nicht aus seinem Gesicht. »Ich sehe schon, wir werden wohl doch nicht so viel Spaß haben, wie ich dachte!«
Stirnrunzelnd wandte sich Laura von ihm ab und setzte sich wieder in Bewegung. Vor der Tür, die ins Lager führte, blieb sie stehen, nestelte ihren Schlüssel hervor und schloss auf. »Da Mrs. Weatherbee mich darum gebeten hat, Sie unter meine Fittiche zu nehmen, werden Ihre Arbeitszeiten mit denen von mir abgeglichen sein. Heißt, drei Tage Frühschicht von 6 bis 14 Uhr, einen Tag frei, drei Tage Nachtschicht von 22 bis 6 Uhr, einen Tag frei, und dann drei Tage in der Spätschicht von 14 bis 22 Uhr abends. Bei Krankheitsfall im Kollegium natürlich bedarfsweise auch austauschbar.« Ein leises Keuchen war von Ryan zu hören und nun war es an Laura, zu grinsen. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Soll ja niemand behaupten, wir würden unser Geld leicht verdienen, nicht wahr?«
Sie öffnete die Tür und betrat das Lager, wo sie mit sicherem Blick die Dienstkleidung für Ryan heraussuchte und ihm dann reichte. »Wenn Sie sich umgezogen haben, werde ich Ihnen kurz das Zentrum zeigen und danach besuchen wir gemeinsam unseren ersten Patienten.«
»Haben wir nur einen Patienten, um den wir uns kümmern werden?«
Ein leises Lachen entwich ihr. »Nein, das lässt sich leider nicht realisieren. Die Kosten für eine solche Betreuung wären viel zu hoch, und da wir ausschließlich durch Spenden finanziert werden, müssen wir das im Auge behalten. Wir versuchen allerdings, den Wechsel so gering wie möglich zu halten, allein im Interesse der Patienten. Daher haben wir Teams gebildet, die im Drei-Schicht-System immer die gleichen Patienten betreuen.«
Gefolgt von Ryan verließ sie den Raum wieder und schloss ab. »Das Team, dem auch Sie in Zukunft angehören, betreut insgesamt sechs Patienten. Sie werden heute jeden Einzelnen kennenlernen. Ach, und übrigens«, sie warf ihm einen schiefen Blick zu und der Schalk blitzte für einen Moment in ihren Augen auf, während sie den Gang entlang eilte, »wird hier grundsätzlich jeder gesiezt, es sei denn, Sie werden ausdrücklich um etwas anderes gebeten. Klar soweit?«
»Noch deutlicher wäre angeschrien, oder?«, grinste er.
Vor den Umkleideräumen für das männliche Pflegepersonal blieb Laura stehen. »Drinnen sollten genug leere Spinde sein. Suchen Sie sich einen aus, schließen Sie Ihre privaten Dinge ein und nehmen Sie den Schlüssel dann mit.«
***
Mit einem leisen Klopfen öffnete Laura die Tür des Patientenzimmers und trat ein, dicht gefolgt von Ryan. »Guten Morgen, Mr. Drexler«, lächelte sie und näherte sich dem Bett, in dem ein junger Mann lag.
»Sagen Sie bitte Philip oder Phil zu mir, sonst fühle ich mich so schrecklich alt«, grinste der Angesprochene und betätigte den Knopf an einer kleinen Fernbedienung, die er in der Hand hielt. Die Rückenlehne des Bettes hob sich mit einem leisen Surren.
»Also gut, Phil«, sie streckte ihm die Hand entgegen, welche der junge Mann langsam und mit sichtlicher Kraftanstrengung in seine nahm und kaum spürbar drückte. »Mein Name ist Laura und ich gehöre zu dem Team, welches Sie betreut.«
»Und der Kerl hinter Ihnen ist dafür zuständig, mich durch die Gegend zu hieven, weil Sie mit ihrem zierlichen Figürchen das sicherlich nicht schaffen, richtig?«
Von Ryan war ein leises Schnauben zu hören und Laura lächelte. »Ja, so ähnlich. Mr. Baker ist unser neuer Zivi und wird mir zur Hand gehen.« Sie zog ein kleines Tablet aus einer Halterung am Bett, gab ein paar Zahlen ein und las schweigend.
»Guter Versuch, junger Mann!«, erklärte sie dann und sah auf. »Weder Ryan noch ich werden Sie durch die Gegend hieven, wie Sie es so schön nennen.« Mit dem Zeigefinger klopfte sie auf den Rand des Tablets. »Aber dafür dürfen Sie mit uns beiden Händchen halten, sollte es notwendig sein!«
Philip Drexler seufzte theatralisch. »Neues Zentrum, neues Glück. Hätte ja auch klappen können, dass Sie nicht merken, dass ich mich zwar wie ein alter Mann bewege, aber ...«
»Sie sollten froh sein, dass Sie sich überhaupt noch bewegen können, Phil«, schmunzelte sie. »Wir werden für Sie tun, was immer nötig ist und worum Sie uns bitten, aber ...«
»Lassen Sie mich raten, ich muss meinen Arsch selbst in die Höhe bringen?«
Amüsiert nickte Laura. »Genauso ist es.« Erneut war von Ryan leises Schnauben zu hören und er murmelte etwas vor sich hin. Sie verstand zwar nicht, was er sagte, aber ein kurzer Blick in dessen Richtung zeigte, dass sein Gesicht Bände sprach. Er wirkte wenig begeistert.
»Sie hören sich an wie Jessica, die Pflegerin aus dem Delfin-Zentrum, in dem ich war. Sie werden mich sicherlich auch quälen, und es wird Ihnen Spaß machen!«, kam es mürrisch von Phil, aber das Zucken seiner Mundwinkel machte deutlich, wie sehr er diesen Schlagabtausch genoss.
»Delfin-Zentrum?«, echote Laura. »Sie waren mit Annabell Briggs dort, oder?« Als erneut leises Murren von Ryan ertönte, winkte sie Ryan räuspernd zu sich heran und drückte ihm das Tablet in die Hand. »Lesen Sie bitte, Mr. Baker. Ihre Fragen können Sie gern später stellen!«, sagte sie und warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Sie sind gut informiert. Richtig, ich war mit Annabell dort, allerdings hieß sie zu jener Zeit noch Thompson. Und ich wusste schon, dass es die große Liebe zwischen ihr und Jonathan ist, noch bevor die beiden selbst es wussten!«, erklärte Phil, während sich Ryan mit dem Tablet wieder setzte und schweigend las.
»Erzählen Sie mir ein bisschen von Ihrem Aufenthalt im Zentrum«, bat sie lächelnd, entfernte die Bettdecke und legte die mageren Beine ihres Patienten frei. Dieser begann bereitwillig, von seiner Zeit mit den Delfinen zu berichten. Laura kannte den Leidensweg, der hinter ihm lag, aber dennoch hörte sie aufmerksam zu, während sie routiniert alles erledigte, was zu ihren täglichen Aufgaben gehörte.
»Und am Ende war es Jonathan, der dafür sorgte, dass ich den Platz hier erhalten habe und mich zukünftig von Ihnen quälen lassen darf«, endete Phil, kurz nach dem Laura die Bettdecke wieder hochgezogen hatte.
»Mr. Briggs hat gut daran getan, Sie hier unterzubringen, Philip. Gleich wird einer meiner Kollegen erscheinen und Sie zur Muskeltherapie abholen«, sie drehte sich zu Ryan und bedeutete ihm, aufzustehen. »Und während Sie eine tolle Massage genießen, sollte ich mit Jessica telefonieren!«, zwinkerte sie dann in Richtung ihres Patienten. »Vielleicht hat sie ja noch ein paar Tipps für mich!«
Ein breites Grinsen legte sich auf Philips Gesicht. »Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich gewinne den Eindruck, dass Jessica noch von Ihnen lernen kann.«
»Wir werden sehen«, lachte sie, nahm das Tablet von Ryan entgegen, sperrte es und schob es dann zurück in die dafür vorgesehene Halterung. »Bis später, Phil!«
Verfolgt vom leisen Lachen des Patienten verließen die beiden das Zimmer. Kaum, dass sich die Tür geschlossen hatte, veränderte sich Lauras Miene und sie fuhr mit blitzenden Augen zu Ryan herum. »Sie werden nie wieder ... hören Sie, nie wieder in Gegenwart eines Patienten solch ein Benehmen an den Tag legen, Ryan!«, fauchte sie.
Überrascht zog ihr Gegenüber die Augenbrauen hoch. »Aber einem bettlägerigen Patienten sagen, dass er seinen Arsch selbst hochkriegen muss, ist in Ordnung?«
»Sie haben die Akte, die ich Ihnen auf dem Tablet freigeschaltet habe, doch gelesen. Oder?«
Er nickte. »Ja. Aber ...«
»Nichts aber. Philip Drexler hat multiple Sklerose im fortgeschrittenen Stadium. Um genau zu sein, liegt seine EDSS bei acht von zehn möglichen Punkten.« Sie stemmte die Arme in die Hüften und musste den Kopf anheben, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Bei zehn Punkten wird Philip sterben, Ryan und dass weiß er. Aber ich werde den Teufel tun und ihm das schenken, was die meisten erwarten würden, dass er es braucht.«
»Und das wäre?«
»Mitleid.«
»Und deshalb springen Sie so mit ihm um?« Ryans Blick drückte noch immer Unverständnis aus.
»Ganz genau. Weder Mitleid noch Bedauern werden etwas daran ändern, dass er an dieser Krankheit elendig verrecken wird. Und warum sollte man nicht wenigstens versuchen, ihm den letzten Rest Würde zu lassen, den er besitzt und ihn wie einen Menschen behandeln?«