Читать книгу Abgründe - Melia Rosta - Страница 6

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2. Kapitel

Januar, 1978

An diesem Tag, als ich Noel kennenlernte, war ich mit Laura verabredet. Sie erschien zu früh, und ich kämpfte noch mit meinem Lockenstab, als sie atemlos die Treppe hoch gerannt kam.

„Noch nicht fertig? Mensch mach mal, ich hab Hunger! Franco will mich zur Pizza einladen. Hast du was zu trinken? Ich habe einen Mordsdurst.“

„Franco? Ich weiß nicht, was du an dem Typ findest, irgendwie ist der total merkwürdig. Schau in den Kühlschrank, da steht noch eine Flasche Orangensaft. Trink aber nicht alles weg, ich muss erst wieder einkaufen gehen.“

„Ich finde Franco süß. Und er ist auch sehr spendabel, wenn wir ausgehen.“ Laura riss den Kühlschrank auf. „Na, dein Kühlschrank braucht wirklich mal dringend ein Care-Paket! Bringt dir deine Mutter denn nicht mal was vorbei? Meine Mutter würde das tun.“

„Wie sieht denn das aus? Erst Hals über Kopf ausziehen und dann um Lebensmittel betteln, nee! Ein bisschen Stolz hab ich ja auch noch.“

***

Die kleine, möblierte 2-Zimmer-Wohnung mit Kochgelegenheit im Wohnzimmer und Gemeinschafts-Badezimmer und WC über den Flur war erst seit wenigen Monaten mein Zuhause. Ich war nach einem heftigen Streit von zu Hause ausgezogen. Die kleine Wohnung war bezahlbar, und das war momentan das Wichtigste. Ich genoss meine Unabhängigkeit, wenn auch das Geld sehr knapp war.

Mein ganzer Stolz war ein knallrotes 25er Mofa, mit dem ich zur Arbeit fuhr. Nach der Schule war ich einfach von Firma zu Firma gegangen und hatte nach Arbeit gefragt. So war ich zu einem Job in einem Labor am Rande des Industriegebietes gekommen. Arbeiten war ich gewohnt, denn ich musste schon seit Jahren nach der Schule in der Firma meiner Eltern mithelfen. Großmutter hatte mir nach der Schulzeit einen Schreibmaschinenkurs finanziert, und so konnte ich schnell zur Sachbearbeiterin aufsteigen. Ich nahm telefonisch Bestellungen an, schrieb Briefe und Rechnungen. Als der Abteilungsleiter mir völlig überraschend einen Ausbildungsplatz als Laborantin anbot, war ich außer mir vor Freude. Doch meine Mutter sah das anders und fragte entsetzt, ob ich denn wirklich glaube, dass sie mich noch mal drei Jahre durchfüttern würde. Das gab der Sache endgültig den Rest, und ich zog enttäuscht zuhause aus. Zwar brauchte ich für meinen Mietvertrag das Einverständnis meiner Eltern, doch das war kein Problem. Mein Elternhaus und ich, wir passten einfach nicht mehr zusammen. Ich verstand auch nicht, was meine Mutter an diesem cholerischen Tyrann von Stiefvater fand. Meine Halbbrüder unterschieden sich schon rein optisch von mir. Sie waren beide strohblond und hellhäutig. Mein Haar war dunkelbraun und ich schien auch im Winter braun gebrannt zu sein. Zweifellos das Erbe meines mir unbekannten leiblichen Vaters.

Die wichtigste Person in meinem Leben aber war meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter. Bei ihr hatte ich meine ersten sieben Lebensjahre verbracht. Sie wohnte 15 Kilometer entfernt und ich besuchte sie, so oft es ging.

Dann hatte ich noch Laura. Ihr Vater war kurz zuvor schwer erkrankt. Er, der sie als Kind oft geschlagen hatte, wenn sie nicht gehorchte, hatte nun keine Kraft mehr für sein strenges Regiment. Inzwischen rebellierte Laura offen gegen ihn, hatte sich ihr hüftlanges, schwarzes Haar kurz geschnitten und eine Ausbildung als Verkäuferin begonnen. Sie kleidete sich nun auch betont modisch. Früher hätte ihr Vater sie dafür windelweich gehauen.

Doch niemals war sie so geschlagen worden wie ich! Viele Jahre hatte mich mein Stiefvater mit einem Ledergürtel auf Schenkel und Hinterteil geschlagen, wenn er mich bestrafen wollte. Auf diese erniedrigende Art schlug er mich immer nur, wenn meine Mutter nicht zuhause war. Aber mit ihr hatte ich niemals darüber gesprochen. Was hätte ich auch erzählen sollen? Dass ich ihn immer hinter mir keuchen hörte, wenn er zuschlug? Manchmal verließ er mitten in der Strafaktion das Zimmer und befahl mir nicht aufzustehen, bis er wieder zurück sei. Wenn er dann wieder ins Zimmer kam, schien er vergessen zu haben, dass er zuvor noch unerbittlich eine Entschuldigung verlangt hatte, drosch nur noch etwas zum Abschluss und ließ mich dann gehen.

1976 schlug er mich das letzte Mal! Nach einer aufmüpfigen Antwort drehte er völlig durch. Er riss den Gürtel aus seiner Hose und trieb mich wie ein Stück Vieh vor den Augen unserer Kundschaft durch die Firma. In einem Nebenraum verlangte er bei offener Türe, so dass es alle verfolgen konnten, dass ich mich über einen Stuhl legte. Ich genierte mich unsäglich vor den gaffenden Männern und tat trotz aller Drohungen nicht, was mein Stiefvater verlangte. Außer sich vor Zorn drohte er, mich überall hinzuschlagen, wo der Gürtel mich treffen würde, wenn ich ihm nicht sofort gehorchte. Und tatsächlich drosch er in rasendem Zorn auf mich ein und hätte wohl auch endlos weiter auf mich eingeprügelt, wenn nicht schließlich einer der Männer eingeschritten wäre. Wie ein wütender Stier brüllte er noch einmal auf, als die Männer mich an ihm vorbei schoben. Als wir auf gleicher Höhe waren, muss mich wohl der Teufel geritten haben. Obwohl mir das Blut im Kopf toste vor Schmerz, Wut und Scham, hörte ich mich klar und deutlich meinen Stiefvater fragen: „Na, ist dir jetzt einer abgegangen?“

Was er daraufhin schrie, hörte ich mir nicht mehr an. Zurück in meinem Mädchenzimmer stellte ich mich vor den Spiegel und betrachtete meine Blessuren: Ich war über und über mit blutroten Striemen übersät, manche begannen sich an den Rändern bereits blau zu verfärben. Auf der Brust und im Gesicht waren die Spuren seiner Raserei am schlimmsten. Mir fiel ein Journal aus dem Nachttisch meines Stiefvaters ein, das mir vor einiger Zeit zufällig in die Hände gefallen war: Halbnackte Frauen hatten gefesselt, geknebelt und teils mit verbundenen Augen zu Füßen ihrer maskierten Peiniger gekniet, die mit Lederpeitschen auf sie einschlugen.

Mein Stiefvater schlug mich nach diesem Vorfall nie wieder.

***

„Mach mal hin! Hör auf, an deinem Gesicht rumzumalen, es ist schon schön genug!“ Lauras schlanke, hübsche Beine baumelten über den Sofarand.

Wenn ich ihre Figur hätte, könnte ich auch großzügig Komplimente an meine pummelige Freundin verteilen. Mein Gesicht war so ziemlich das Einzige, was mir wirklich an mir gefiel. Schnell trug ich noch Lipgloss und Rouge auf und sprühte Haarspray auf meine dunklen Locken. Dann schlüpfte ich in die Pumps und strich die kleinen Rüschen an meiner hellen Bluse zurecht. „Wir können …“

Ohne Laura hätte ich wohl unsere Stamm-Pizzeria nicht so schnell wieder betreten. Ich hatte nämlich noch Liebeskummer wegen Leandro, einem der beiden Teilhaber des Napoli und der Enttäuschung meines Lebens. Vier Wochen zuvor hatte ich erfahren, dass Leandro in Italien eine Frau und zwei Kinder hatte. Das hatte er mir, als wir zusammen waren, natürlich verschwiegen. Als wir das Lokal betraten, klopfte mein Herz bis zum Hals.

„Da ist er“, flüsterte Laura.

„Na und? Der soll mich ja nicht mehr ansprechen, der verdammte Lügner.“ Ich gab ganz die große Dame, ging an Leandro vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und setzte mich ins Separee. So nannten wir den einzigen Tisch im Restaurant, der vom übrigen großen Raum abgetrennt war. Hier saßen wir gern. Nur an diesem Tag fühlte ich mich unwohl. Leandros Täuschung hatte ich noch nicht verdaut. „Bestelle du für mich“, bat ich Laura und rutschte ganz in die Ecke. Durch die Schlitze der geflochtenen Wand konnte ich die gesamte Pizzeria beobachten, ohne selbst gesehen zu werden.

„Hast du gesehen? Er leidet!“, versuchte Laura mir einzureden, als sie die Bestellung bei ihm aufgegeben hatte.

„Worunter? Hab noch nie gehört, dass Gedächtnisverlust wehtut! Hätte er mal bei unserem Kennenlernen unter seinen Lügen gelitten, dann hätte ich mich dem Heuchler nicht hingegeben!“, konterte ich.

„Hingegeben klingt aber jetzt sehr theatralisch“, meinte Laura. „Du weißt, was der perverse Typ mit mir im Bett veranstalten wollte!“ Mit Schaudern erinnerte ich mich an diese Nacht.

„Das stimmt allerdings. Sei froh, dass du den los bist!“

Laura war im Bilde. Wir waren seit vielen Jahren befreundet und erzählten uns so gut wie alles. Ich war ein unerfahrenes Ding, das kaum mehr als die Missionarsstellung kannte. Die Versuche eines fast Dreißigjährigen, darüber hinaus etwas mit mir zu probieren, waren für mich eindeutig im abartigen Bereich angesiedelt.

Der abartige Leandro brachte unsere Bestellung und ging ohne ein Wort wieder. Ich drehte mein Glas gelangweilt zwischen den Fingern, als plötzlich die Schwingtür aufflog und ein lautes „Hallo“ ertönte. Alles stürzte auf den Neuankömmling und begrüßte ihn. Durch den Lärm neugierig geworden, stierten Laura und ich durch die Schlitze der Flechtwand.

„Schau dir den an“, lästerte Laura. „Sieht aus wie Al Capone mit seinem Chicago-Hut und dem langen Mantel. Wie der Kinoleinwand entsprungen.“

„Den habe ich hier noch nie gesehen. Du etwa?“, flüsterte ich.

„Nein, der wäre mir bestimmt aufgefallen. Oh, schau mal, da kommt auch mein Franco.“ Laura war auch ganz aus dem Häuschen und sprang auf. Doch ich hielt sie fest.

„Renn doch nicht gleich hin. Das ist ja widerlich, wie du hinter dem her bist.“

„Du warst eben noch nie so richtig verliebt“, schmollte Laura.

„Richtig, ich hab bisher immer die Arschkarte gehabt.“

„Armes Mädchen“, tat Laura mitleidig und kicherte.

„Blöde Kuh! Schau mal, der Typ trägt unter seinem Mantel einen weißen Nadelstreifenanzug – todschick!“

„Interessiert mich eigentlich recht wenig. Aber ich möchte doch zu gern wissen, was Franco mit ihm zu tun hat.“

Der Fremde und Franco waren sich wie alte Freunde in die Arme gefallen und unterhielten sich jetzt angeregt. Offensichtlich war der Neue lange weg gewesen, dass alle seinetwegen so einen Aufstand machten.

„Wir werden es gleich wissen, wer Al Capone ist. Franco steuert schon zu uns und hat ihn im Schlepptau“, meinte Laura trocken.

„Komm, bleib hier bei mir sitzen“, sagte ich noch aufgeregt, aber schon saß Laura mir gegenüber.

„Ich will neben Franco sitzen, denn ich habe ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen“, meuterte Laura.

Der Gedanke, dass der Fremde nun neben mir sitzen würde, machte mich nervös.

„Hallo Süße“, rief Franco, und mit einem Satz saß er neben Laura auf der Bank. Sofort hingen sie aneinander und knutschten.

„Setz dich doch, Noel“, lud Franco den Fremden ein. „Das ist Nina …“, er deutete auf mich „… und das ist meine Laura.“

„Hallo.“ Noel lächelte sehr sympathisch.

„Hallo“, antworteten Laura und ich fast gleichzeitig.

Noel setzte sich neben mich auf den freien Platz, nachdem er seinen Mantel sorgfältig über einen Stuhl gelegt hatte. Leandro erschien mit Getränken für die beiden Männer. „Na Leandro, alter Casanova, was gibt es Neues?“ Noel klopfte ihm auf die Schulter, dann sagte er zu uns: „Vor dem müsst ihr euch in Acht nehmen, das ist der größte Casanova ganz Italiens und nun macht er auch noch unsere Stadt unsicher.“

Leandro vermied es, mich anzuschauen. Feigling, dachte ich. „Das ist schon allgemein bekannt“, bemerkte ich trocken.

„Oh, ihr kennt euch näher!“, meinte Noel. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Erzähl mir mehr davon, Leandro.“ Noel hatte sich wieder dem Wirt zugewandt. Der aber grinste verlegen und verdrückte sich schnell wieder.

Laura und ich schauten uns an und plötzlich begannen wir beide zu lachen. „Hast du sein dummes Gesicht gesehen?“, prustete Laura los.

„Ich würde gerne mitlachen“, meinte Noel.

„Leandro ist ihr Ex!“, klärte Laura ihn auf.

„Tja, unser Leandro ist ein richtiger Mädchenverführer“, stellte Noel fest. „Schon länger her?“

„Nein, erst vier Wochen. Dann erfuhr ich, dass er verheiratet ist“, erklärte ich.

Noel lächelte und prostete mir zu: „Na, dann herzlichen Glückwunsch zum Single-Dasein. Du wirst sicher schnell was Besseres finden.“ Ich lächelte ihn an.

„Nina – ein wundervoller Name!“, fuhr er fort. Er hatte meinen Namen betont langgezogen ausgesprochen.

„Noel klingt aber auch nicht schlecht!“ Sieh an, wir flirteten!

Noel faszinierte mich mit seinen blauen Augen und dem unglaublichen Auftreten vom ersten Augenblick an. Alles an ihm war aufregend und wirkte dennoch sehr gepflegt. Er duftete nach einem Männerparfüm, das mich betörte. Seine dunkelblonde Mähne trug er etwas länger. Dazu hatte er eine durchtrainierte Figur, war groß und hatte so gepflegte Fingernägel, als ob er gerade von der Maniküre gekommen wäre. Nach harter Arbeit sahen seine Hände jedenfalls nicht aus. Sein weißer Nadelstreifen-Anzug harmonierte perfekt zu den schwarzweißen Schuhen, und die Farbe der hauchdünnen Streifen des Anzugs war die gleiche wie die des Mantels. Sein Hut war so weiß wie sein Anzug und hatte ein Band aus blauer Seide. Schwarz war der Seidenschal, den er lässig über seinem Satinhemd trug. Ich hatte noch niemals einen so außergewöhnlich gekleideten Mann in unserer Stadt gesehen. Ich schätzte Noel auf 24, und wie sich später herausstellte, hatte ich Recht. Zwischen ihm und mir lagen Welten! Seine Erfahrung war sicher ebenso groß wie meine Unerfahrenheit. Ich war fasziniert und begierig, mehr von ihm zu erfahren! Noel erwies sich als erstaunlicher Unterhalter, er fesselte mich mit seinen Geschichten. Laura musste schließlich nach Hause. Ich blieb.

Als der Abend schon etwas fortgeschritten und ich schon ein wenig beschwipst war und über alles, was Noel sagte, lachen musste, beugte er sich plötzlich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Nicht nur dein Lachen ist ganz bezaubernd, Nina.“ Und nach einer kleinen Pause sagte er noch leiser: „Ich will mit dir schlafen.“

„Machst du das immer so?“ Ich war empört und mit einem Schlag nüchtern.

„Meistens. Es verkürzt die Sache ungemein“, erwiderte er belustigt über meine Entrüstung.

„Ich fürchte, du überschätzt dich ein wenig.“ Ich rutschte demonstrativ von ihm weg. „Bleib mir bloß vom Hals!“

„Mein Angebot steht noch genau eine Stunde.“

Ich starrte ihn an und musste plötzlich über so viel Dreistigkeit lachen: „Du musst total verrückt sein!“

„Vermutlich bin ich das“, gab er zu und lächelte.

„Ich suche mir meine Freunde aber immer selbst aus“, erklärte ich nach einiger Zeit meine Grundsätze.

„Ich habe ja nicht gesagt, dass ich gleich dein Freund werden will. Um die einzige Frau in meinem Leben zu sein, müsstest du schon eine unglaubliche Granate im Bett sein.“ Er sah mich lächelnd an. „Bist du das?“

„Ich bin auf jeden Fall nicht das, für was du mich offensichtlich hältst.“

„Ist das dein letztes Wort oder willst du doch noch etwas Bedenkzeit?“, fragte er noch immer lächelnd.

„Es gibt nichts zu überlegen!“

Franco hatte unser Gespräch verfolgt und grinste blöd. Noel wendete sich ihm zu.

„Nun, dann trinken wir jetzt auf die erste Frau, die sich mir verweigern will – Prost!“ Noel lachte auf. Franco stieß mit ihm an. „Auf die Liebe und alles, was dazugehört.“ Noel stand auf, kam wenig später mit einem Pils und mit einer Cola für mich zurück. Die Cola enthielt einen sehr, sehr kräftigen Schuss. Jedenfalls wurde mir schwindelig davon. Zum Glück bemerkte das niemand, denn Noel unterhielt sich angeregt mit Franco. Er beachtete mich gar nicht mehr. Aber diese Missachtung regte mich ebenso so auf wie seine Vermessenheit. Nach einem weiteren Pils wandte sich Noel gnädig wieder mir zu. „Du bist so ruhig …“

„Ich wollte deinen Redefluss nicht unterbrechen. Außerdem bin ich entsetzlich müde. Es war wohl ein bisschen sehr viel Bacardi in dem letzten Drink.“

Er lächelte wissend. „Also, ich finde auch, dass es jetzt genug für dich ist. Es ist reichlich spät geworden. Gehen wir?“

„Wieso wir?“, forschte ich.

„Nun, ich denke, ich werde dich nach Hause bringen und noch einen Kaffee bei dir trinken, bevor ich mich ins Bett lege.“

„In wessen Bett?“

„Na, in deins!“

„Tut mir leid, ich habe keinen Kaffee zu Hause. Für dich habe ich noch nicht einmal Leitungswasser.“ Ich war jetzt sehr gereizt.

„Nun, es geht zur Not auch ohne alles.“ Noel nickte Franco zu und stand auf. Dann packte er mich an der Hand und zog mich von der Bank. Ich schwankte etwas, als ich zum Stehen kam. Noel legte seinen Arm um meine Taille: „Hoppla, siehst du, du kannst kaum stehen, und da willst du alleine nach Hause?“

Passierte das wirklich? Ließ ich zu, dass er mich einfach so einpackte? Ich war bestürzt und blickte Noel an, als sei er ein Fabelwesen.

„Franco, fährst du uns nach Hause? Du weißt doch sicher, wo Nina wohnt.“

Ich fragte mich noch, woher er wusste, dass ich alleine wohnte, dann wurde mir wieder schwindelig. Noel stützte mich. „Und mich fragt niemand mehr?“, stellte ich verwundert fest.

„Nein, ich denke nicht, dass deine Meinung jetzt noch zählt. Du kannst ja kaum alleine stehen.“ Noel schob mich Richtung Theke.

Ich fühlte mich merkwürdig! Was war das in meinem Glas gewesen? Es hatte nicht anders geschmeckt als der Drink zuvor. Doch ich hatte keine Kontrolle mehr über meine Gedanken. So etwas hatte ich noch nie gefühlt! An der Theke kaufte Noel noch ein paar Flaschen Pils und zwei Flaschen Cola.

„Was hast du vor, erwartest du noch Besuch?“, fragte ich angriffslustig.

„Nun, es wird auf jeden Fall eine lange Nacht werden“, erwiderte Noel, schob mich nach draußen und verfrachtete mich in Francos Auto.

***

In meiner Wohnung angekommen, setzte mich Noel auf das Sofa, sich daneben und legte den Arm um mich. „Nun, was befürchtest du, werde ich jetzt mit dir anstellen?“

„Nichts!“, begann ich mutig und wand mich aus seinem Arm. „Du trinkst dein Pils und wenn du danach gehst, werde ich die erste Frau sein, die dir widerstanden hat.“

„Wir werden noch sehen!“

„Ich denke, dass du enttäuscht sein wirst“, beharrte ich. Leicht schwankend stand ich auf, tastete ich mich zum Spiegel und begann, meine Haare zu kämmen. Ich war müde und hatte keine Lust auf dieses Spielchen. Am liebsten wäre ich gleich schlafen gegangen.

Noel trat hinter mich und sah mich durch den Spiegel an. Er lächelte, legte seine Arme auf meine Schultern und drehte mich zu sich um. Wenige Augenblicke später beugte er sich zu mir herunter und küsste mich zart auf die Stirn.

Als er erkannte, dass ich die Augen schloss, küsste er mich auch schon auf den Mund. Sein Kuss war vorsichtig und zärtlich.

„Wolltest du nicht die erste Frau sein, die mir widersteht?“

„Ich glaube, ich werde noch einmal wohlwollend darüber nachdenken“, murmelte ich.

„Gut, sonst müsste ich dich nämlich ohne deine Einwilligung verführen“, flüsterte er und knabberte an meinem Ohr.

„Du bist so etwas von arrogant, dass …“, brauste ich wieder auf, doch Noel küsste mich erneut, diesmal leidenschaftlicher. Der Kuss schien eine Ewigkeit zu dauern. Er hatte gewonnen. Wenig später lag ich auf dem Sofa.

Noel nahm meine Hände und legte sie über meinen Kopf. „Du brauchst nichts zu tun“, sagte er und begann, meine Bluse aufzuknöpfen. Ich protestierte nicht und lag wie benommen vor ihm, mir war immer noch schwindelig. Zärtlich wanderten seine Lippen über meine Brüste. Er durchwühlte mein Haar, schob meinen Rock hoch.

„Nicht!“, bat ich flüsternd und presste meine Schenkel zusammen.

„Glaub mir, es wird dir gefallen“, raunte Noel und brach meinen Widerstand etappenweise. Nach und nach drängte er sein Knie zwischen meine Schenkel. Lippen, Hände, Haut an Haut – er schien überall zu sein.

„Du willst es doch auch, du kleine Schauspielerin“, flüsterte er und seine Lippen verschlossen meinen Mund, bevor ich etwas erwidern konnte. Was er in mir erweckte, hatte ich noch nie gefühlt, ich war wie berauscht von meinen Empfindungen.

Ich hatte bereits jegliches Zeitgefühl verloren, als Noel sich auszog und mein Höschen einfach beiseiteschob. „Nimmst du die Pille?“

Als ich nickte, drängte er sich bereits zwischen meine Schenkel. Ich schrie vor Schmerzen! Er drängte weiter in mich, um dann zu verharren. Ich hatte das Gefühl zu zerreißen, wollte mich befreien. Doch Noel hielt mich fest.

„Du tust mir weh!“

„Es wird gleich besser“, versuchte er mich zu beruhigen. „Ich lass dir noch ein wenig Zeit!“

„Geh raus – bitte!“, bat ich.

Er seufzte. „Ich habe geahnt, dass es nicht einfach für dich werden würde, so eng wie du gebaut bist!“

Das hatte noch keiner zu mir gesagt! Ich starrte ihn ungläubig an. „Lass mich los!“, verlangte ich und strampelte.

„Pssst, ganz ruhig Nina. Du tust dir durch dein Gezappel nur selbst weh! Es lässt gleich nach. Du wirst dich daran gewöhnen!“

Nachdem alles Zappeln und Flehen nichts genutzt hatte, gab ich auf und ließ ihn gewähren. Doch Lust empfand ich dabei nicht.

Plötzlich warf er sich neben mich. „Nina, so geht das nicht! Ich hab mir jetzt wirklich viel Zeit für dich genommen und die hast du sicherlich auch gebraucht, aber wenn wir so weitermachen, dann klappt heute nichts mehr.“

Ich schwieg betroffen.

„Nina, es gibt wenige Frauen, die mich überhaupt noch erregen. Dafür hatte ich schon zu viele Schlampen! Deine kindliche Unschuld hat mich aber echt umgehauen. Du bist noch wie ein Kind! Aber ich raff das nicht! Du hast doch auch mit Leandro geschlafen, und ich weiß, worauf der steht. Du wirkst aber auf mich, als hättest du null Erfahrung. Ist das Show? Was geht in dir vor? Ich finde das zwar alles irgendwie erregend, denn so eine Frau hatte ich noch nie, aber ich glaube, es ist wirklich besser für dich und wahrscheinlich auch für mich, wenn ich dich jetzt in Ruhe lasse und aus deinem Leben verschwinde, bevor ich mir die Finger ernsthaft an dir verbrenne.“ Er setzte sich auf und griff nach seinem Hemd.

„Nein!“, schrie ich erschrocken. Ich rappelte mich auf und krabbelte zu ihm. Er schob mich von sich. „Bitte gehe nicht so mit mir um!“, heulte ich halb schockiert und halb gekränkt.

„Nina, sei vernünftig. Es hat keinen Sinn mit uns“, meinte er fast schon gelangweilt. „Du weißt doch gar nicht, wer ich bin. Ich hab schon so viel erlebt. Auf Dauer kann ich keine Rücksicht auf deine Gefühle nehmen. Es wäre vermutlich ein Leichtes, dir deine kindliche Unschuld zu nehmen. Doch was kommt dann zum Vorschein?“

„Hör auf!“

„Lass mich besser jetzt gehen, bevor es zu spät für dich ist. Du würdest nur daran zerbrechen. Alles, was dich jetzt so einzigartig und unwiderstehlich für mich macht, wäre dann mit einem Schlag verschwunden, du wärst wie jede andere und ich würde dich wegwerfen.“

„Was redest du da für einen Unsinn? Ich bin überhaupt nicht zerbrechlich! Wenn du wüsstest, was man mir schon angetan hat! Ich habe das alles überstanden. Ich kann was aushalten.“

„Wenn ich bliebe, würde ich dir wehtun.“

„Mach mit mir, was du willst, aber geh jetzt nicht“, hörte ich mich flüstern.

„Oh, Nina, du weißt nicht, was du mir da anbietest!“ Er schien resigniert. Wir schwiegen.

„Was muss ich tun, damit du bleibst?“, fragte ich schließlich in die Stille hinein.

Er drehte sich zu mir, nahm mein Kinn und zwang mich, ihn anzuschauen. Sein Blick war fremd. „Was auch immer ich von dir verlange. Egal wann, egal wo, egal wie!“

Mir war plötzlich alles zu viel. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten und warf mich ins Kopfkissen.

„Mein unschuldiges Lämmchen“, flüsterte er und strich mir über den Rücken. „Du bist ein Traum für jemanden wie mich. Aber für dich würde ich zum Albtraum werden.“

„Bitte geh nicht! Nicht nach dieser Nacht!“, schluchzte ich.

Noel hielt mich so lange in seinen Armen, bis ich mich wieder beruhigt hatte. „Also gut, ich bleibe“, entschied er dann. „Ich werde jetzt ein weiteres Mal mit dir schlafen, und zwar auf die Art, auf die ich abfahre. Vermutlich werde ich dir dabei wehtun. Um dir die Möglichkeit zu geben, dich doch noch anders zu entscheiden, gebe ich dir ein Zauberwort. Es gilt nur für diese Nacht. Was immer ich auch heute Nacht tue, ich werde sofort damit aufhören, wenn du dieses Wort aussprichst. Einverstanden?“

Ich nickte.

„Das Zauberwort ist: De Sade.“

„Was bedeutet das?“

„Marquis de Sade war ein französischer Adliger und Autor. Er hat Bücher geschrieben, die ich fantastisch finde. Ich habe sie alle zu Hause. Wenn du seinen Namen aussprichst, werde ich sofort aufhören mit dem, was ich gerade tue. Doch dann werde ich dich für immer verlassen. Du hast also nur noch einmal die Möglichkeit, dich anders zu entscheiden.“

„Ich werde seinen Namen nicht aussprechen“, versprach ich.

Er lächelte. „Wenn du heute Nacht seinen Namen nicht nennst, bleiben wir so lange zusammen, wie du es mit mir aushältst und ich dich faszinierend finde. Versuche dich nicht zu ändern, was auch immer geschieht.“

„Ich versuche es.“

Noel küsste mich. „Du zitterst ja jetzt schon, dabei habe ich noch gar nicht angefangen.“

„Ich habe ein bisschen Angst“, gab ich zu.

„Angst zu haben ist nicht das schlechteste Gefühl.“ Noel beugte sich über mich, hob dabei meinen Schoß an und presste mit beiden Händen meine Hände neben meinen Hüften auf das Bett. „Du willst es wirklich?“

Ich nickte und kämpfte mit den Tränen, denn wenn ich mich vor einem fürchtete, dann waren es Schmerzen.

Als Noel mit einer einzigen Bewegung in mich drang, stöhnte ich qualvoll auf. Kompromisslos drang er tiefer und tiefer, bis ich spitze Schreie ausstieß. Zur Antwort krallten sich Noels Fingernägel in meine Handgelenke. „Pssst, du weckst ja das ganze Haus auf!“, zischte er.

Ich starrte ihn ungläubig an. Ich fühlte, wie meine Haut unter seinen Fingernägeln nachgab und schloss die Augen, um nicht zu schreien und komplett wahnsinnig zu werden. Der Schmerz an meinen Handgelenken war so stark geworden, dass er den in meinem Unterleib überragte. „Du tust mir weh!“, kreischte ich schließlich doch.

„Nina, ich komme gleich, entspanne dich, es tut dann sicher nicht so weh.“

„Ich kann nicht mehr“, wimmerte ich.

„Du kannst!“, befahl er.

Die Schmerzen wurden noch schlimmer. „Bitte hör auf! Ich kann nicht …“, jammerte ich. „Bitte …“

„Hör auf zu heulen! Es bringt nichts.“

„Ich ertrag das so nicht! Lass mich los, ich …“

„Du wirst dich daran gewöhnen, und zwar noch heute Nacht.“

Noels Ausdauer schien unerschöpflich. Ich fühlte nichts als dumpfe Verzweiflung. An Lust war nicht zu denken. Doch ich tat alles, um Noel nicht zu verärgern, denn ich sehnte wenigstens den Moment herbei, in dem er mich danach in den Armen halten, zärtlich meine Lippen küssen, meinen wunden Körper streicheln und tröstend leise Worte flüstern würde. Der Morgen graute schon, als Noel seinen Arm unter meinen Kopf legte und mein Handgelenk umklammerte. Den anderen Arm schlang er um meine Taille und drückte mich an sich. Als er bemerkte, dass ich versuchte mich aus seiner Umarmung zu winden, zog er mich energisch an sich und zischte: „Du wirst lernen müssen, genau das zu tun, was ich dir sage.“ Ich hörte kaum noch, wie er flüsterte: „Teste mich niemals wieder!“

Nur wenige Augenblicke später war ich erschöpft in seinen Armen eingeschlafen und das Zauberwort verlor ein für alle Mal seine Gültigkeit.

***

Ich hatte nur zwei Stunden geschlafen, als der Wecker klingelte. Ich musste zur Arbeit. Vorsichtig befreite ich mich aus Noels Armen. Er schien es zwar zu bemerken, wurde aber nicht richtig wach.

Als ich mich geduscht und angezogen hatte, trank ich eilig noch einen Schluck Orangensaft. Sollte ich einfach gehen und ihn schlafen lassen? Das brachte ich nicht über mich. Ich weckte ihn sanft. „Ich muss zur Arbeit! Bist du noch da, wenn ich zurückkomme?“

„Wie spät ist es?“ murmelte er halb schlafend.

„Fast 7 Uhr“, antwortete ich.

„Du bist verrückt! Zu so einer Zeit steht doch kein vernünftiger Mensch auf! Komm wieder ins Bett!“

Zu gern hätte ich das getan, denn ich war noch unsäglich müde, doch von der Arbeit fernzubleiben konnte ich mir nicht leisten. Es gab zu viele, die mir meinen Job neideten und auf so eine Gelegenheit warteten. „Ich kann nicht!“

„Wenn du jetzt gehst, bin ich nachher weg!“

„Ich kann nicht bleiben!“

„Ruf an und melde dich krank.“

„Nein, das mach ich nicht“, entschied ich.

„Du musst wissen was du tust.“

„Solltest du tatsächlich gehen, dann leg den Wohnungsschlüssel vor der Tür unter den Schuhabstreifer. Wir können uns ja heute Abend im Napoli treffen!“

„Du verstehst wirklich nicht was ich meine – aber gut, belassen wir es dabei, du musst noch viel lernen“, sagte er und schlief schon fast wieder.

Ich ahnte tatsächlich nicht, was daran falsch sein sollte, wenn ich jetzt zur Arbeit ging. Wenn ich es gewusst hätte, wäre ich geblieben und hätte mich tatsächlich krank gemeldet.

Ihn zum Abschied zu küssen wagte ich nicht. Er hatte bisher nicht einmal zugelassen, dass ich ihn von mir aus berührte. So verließ ich das Haus, schwang mich auf mein Mofa und fuhr wie in Trance zur Arbeit. Noel und die Erlebnisse der letzten Nacht gingen mir nicht aus dem Kopf. Doch von den Wechselbädern der Sinne sah ich nur die schönen Augenblicke! Noels zärtliche Berührungen waren wie eingebrannt in meine Erinnerung und allein die Sehnsucht danach brachte mich fast um den Verstand. Das mussten die Empfindungen sein, von denen Laura erzählt hatte! Noch nie zuvor hatte ich so intensiv gefühlt!

Natürlich war ich bei der Arbeit unkonzentriert und konnte kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen.

Endlich war Feierabend! Völlig atemlos stürzte ich die Treppe zu meiner Wohnung hinauf und drückte die Türklinke hinunter – doch es war abgeschlossen! Noel war nicht mehr da. Enttäuscht angelte ich den Wohnungsschlüssel unter der Fußmatte hervor und schloss auf. Insgeheim wünschte ich, er hätte sich nur irgendwo in der Wohnung versteckt. Aber er hatte nicht auf mich gewartet! Voller Enttäuschung warf ich mich aufs Bett. Sein Duft erfüllte noch die Kissen. Mit geschlossenen Augen sog ich ihn ein. Dann übermannte mich der Schlaf.

Es war fast 22 Uhr, als ich aufwachte. Ich musste unbedingt ins Napoli. Noel würde dort sicher auf mich warten, sagte ich mir. Anders konnte es ja gar nicht sein, sonst wäre er hierher zurückgekommen. Und so schwang ich mich auf mein Mofa und fuhr mit klopfendem Herzen ins Napoli.

***

Es war nicht viel los. Nur Leandro lehnte lässig an der Theke. Noel war nirgendwo zu entdecken.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und fragte Leandro: „War Noel heute schon da?“

„Nein, sollte er?“ Er lächelte. „Bella, ich bin überrascht! Du sprichst ja wieder mit mir! Aber irgendwie siehst du mitgenommen aus! Hattest du eine anstrengende Nacht?“

„Quatsch! Ich hab nur bis vor einer Stunde noch geschlafen!“

„Du hast doch nicht etwa die ganze Nacht mit Noel verbracht?“

„Nerv mich nicht. Das geht dich ja wohl gar nichts mehr an.“

„Bella, du ahnst nicht, auf was du dich da einlässt!“

„Hör auf mit Bella, hör auf mich zu belabern! Bring mir lieber eine Cola!“ Ich ließ ihn stehen und setzte mich ins Separee. Doch Leandro schlich den ganzen Abend um mich herum und baggerte. Er machte sich offensichtlich Hoffnungen, weil ich allein ins Napoli gekommen war. Er nervte!

Ich blieb dort, bis das Lokal schloss. Noel war nicht mehr gekommen! Leandro bot an, mich nach Hause zu fahren, doch ich hätte auch abgelehnt, wenn ich zu Fuß gekommen wäre! Das Thema Leandro war endgültig erledigt!

Ich fuhr nach Hause. Noel wartet dort sicher schon auf mich, dachte ich. Doch noch immer war von ihm keine Spur. Er wird sicher morgen ins Napoli kommen, redete ich mir ein.

Um Noel nicht zu verpassen, verbrachte ich die folgenden Abende im Napoli. Zu Leandros ständiger Anbaggerei musste ich mich auch noch gegen seine Sticheleien zur Wehr setzen. Was ich denn bloß immer mit Noel hätte!

Ich fühlte mich erbärmlich! Außer Noels Vornamen wusste ich nichts von ihm, weder hatte ich seine Adresse noch eine Telefonnummer. Niemand konnte mir weiterhelfen, er schien wie vom Erdboden verschluckt. Entmutigt rief ich Laura an und bat sie, Franco zu fragen. Doch auch der schien seit Tagen unauffindbar.

Was war da los? Hatte mich Noel bereits vergessen, während ich keinen klaren Gedanken vor lauter Sehnsucht nach ihm fassen konnte?

Bisher hatte mich noch kein Mann nach der ersten Nacht verlassen. Immer war ich es gewesen, die Schluss gemacht hatte, doch alle diese Männer verloren an Kontur, denn ich dachte nur noch an Noel. Ich hatte noch nie in meinem Leben Sehnsucht nach einem Mann gehabt, nur weil er zuvor mit mir geschlafen hatte. Doch war ich kopflos vor Verlangen nach diesem Mann, und es war unerträglich!

Die Nächte verbrachte ich in einem noch nie dagewesenen Zustand. Bevor ich mich ich in den Schlaf weinte, flehte ich gen Himmel, dass er wieder zurückkommen solle. Ich würde alles – alles! – tun, nur damit er dann bei mir bleibt, das schwor ich!

Die Verzweiflung machte mich tagsüber aggressiv. Doch immer, wenn ich alleine war, weinte ich aus Wut und Enttäuschung. Ich hasste mich selbst dafür, weil ich offensichtlich versagt hatte und nicht dazu taugte, dass er mich begehrte!

Am 5. Tag nach Noels Verschwinden betrat ich, mehr aus Gewohnheit, als dass ich auf Noel hoffte, das Napoli. Es war voll, wie jeden Freitagabend. Leandro balancierte ein volles Tablett mit leeren Gläsern und Flaschen an mir vorbei an die Theke. „Hallo Bella, Noel ist da! Er sitzt im Separee!“, eröffnete er mir und lächelte mich an. Mein Herz setzte für einen Moment aus. Dann schlug es wahre Trommelwirbel. Er war wieder da!

Abgründe

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