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Ein neuer Plan

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Am nächsten Tag wacht Valentin auf. Es ist schon 8.30 Uhr. Er bleibt im Bett und sieht aus dem Fenster.

Ein grauer Tag, wie meine Seele, denkt er sich.

Es kostet ihn Überwindung, aufzustehen. Mühsam schleppt er sich in die Küche, macht seinen Tee fertig, eilt unter die Dusche und setzt sich trotz der Kälte hinaus auf den Balkon.

Er nimmt das Zwitschern der Vögel wahr. In der Ferne hört er den Verkehrslärm und es gehen ihm all die Menschen, die jetzt zur Arbeit hasten, durch den Kopf. Er fragt sich, wie es wohl allen geht. Wie sie es schaffen, einen Weg zu finden, um nicht in einem Loch zu versinken, das so tief ist, dass man nicht mehr herauskommt.

Was kann ich anders machen, fragt er sich.

Es ist ihm klar: Wenn er jetzt nichts unternimmt, wird er sich nur wieder in Grübeleien verlieren und alles schweifen lassen.

Ich hole mir zumindest die Anmeldeformulare ab, nimmt sich Valentin vor.

Seine Laufstrecke hat er gestern bewusst anders gewählt, um an der physiotherapeutischen Schule vorbeizukommen. Auf seinem Weg vergewisserte er sich, dass das Sekretariat, wie auf der Homepage angegeben, täglich von 9 bis 11.30 Uhr für den Parteiverkehr offen ist.

Valentin zieht sich an und marschiert entschlossen in Richtung Schule. Als er ankommt, sieht er jemanden vor der Eingangstür stehen. Etwas verunsichert tritt er näher und entdeckt den beschrifteten Zettel "Komme gleich".

"Dauert bestimmt nicht lange", sagt der Mann. Valentin nickt und ist unschlüssig, ob er stehenbleiben oder auf- und abgehen soll.

Bevor er zu einer Entscheidung kommt, spricht ihn dieser wieder an. "Möchten Sie sich Informationen holen oder anmelden?"

"Eigentlich habe ich mich schon online informiert. Ich weiß nur nicht, ob das reicht. Das wollte ich eben nachfragen und mir auch gleich die Anmeldeformulare mitnehmen."

"Das werden Sie sicher erfahren. Ich habe mich schon mit einigen Schülern unterhalten: Sie treffen ganz sicher eine gute Wahl, wenn Sie sich für diese Schule entscheiden."

"Die Frage ist, ob ich überhaupt die richtige Entscheidung treffe, nicht nur, was die Schule als solche betrifft", rutscht es Valentin heraus.

"Sie meinen, dass die Entscheidung, eine neue Ausbildung zu machen, falsch sein könnte? Oder ob Sie speziell diese Ausbildung machen sollen?"

"Beides."

"Kann ich gut nachvollziehen. Ich war 36, als ich mich entschlossen habe, hier nebenan in der Volkshochschule eine Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondent zu beginnen. Und jetzt arbeite ich dort. Als Lehrer für Spanisch und Italienisch. Das war damals keine leichte Entscheidung. Da gehen einem viele Gedanken durch den Kopf."

Eine Flut voller Emotionen, die er so schnell nicht einzuordnen weiß, überrollt Valentin und verschlägt ihm die Sprache. Bevor er sich wieder sammeln kann, sieht er die Sekretärin durch die Scheibe der Eingangstür. Sie nimmt das Schild "Komme gleich" weg, entschuldigt sich und bittet die beiden hinein.

"So, junger Mann, was kann ich für Sie tun?"

Verunsichert schaut Valentin zum Volkshochschullehrer; dieser war zuerst da.

"Ich bin privat hier. Erledigen Sie nur, warum Sie hier sind. Ich kann auch gern draußen warten, wenn Ihnen das lieber ist".

"Nein, bitte, das ist nicht nötig."

Valentin wendet sich der Sekretärin zu. "Könnte ich bitte die Anmeldeformulare haben?"

Sie reicht ihm die Unterlagen, dazu einige Broschüren und sieht ihn geduldig an.

"Hier ist alles dabei, was ich brauche und wissen muss?"

"Ja. Sehen Sie sich zu Hause alles in Ruhe an und falls Sie Fragen haben, kommen Sie vorbei oder rufen Sie an. Beachten Sie bitte, dass die Anmeldefrist am 30. März endet. Wenn Sie sie versäumen, ist eine Anmeldung erst nächstes Jahr wieder möglich."

"Ja, danke, mach ich. Auf Wiedersehen!"

Valentin verlässt gedankenverloren das Sekretariat. Das Bedürfnis, nochmal mit dem Lehrer zu sprechen, lässt ihn vor der Eingangstür förmlich festwachsen.

Aber auf einmal kann er keinen klaren Gedanken fassen, nimmt alles um sich sehr intensiv und in Zeitlupe wahr; er hört sein Herz schlagen. Nein, nicht nur schlagen, es pocht. Es pocht ganz wild. Er kommt sich wie ein Beobachter vor, der alles aus der Ferne wahrnimmt. Valentin kennt dieses Gefühl. Er hat Angst. Oder sogar Panik. Obwohl er nicht weiß, wovor; er hat ja nicht einmal einen klaren Plan, was er diesen Mann fragen will.

Aus der Ferne hört er eine Stimme. Er braucht ein bisschen, aber dann schafft er es, sich auf diese zu konzentrieren.

"Bitte?", fragt Valentin, um ein ein wenig Zeit zu gewinnen.

"Sie überlegen noch? Oder haben Sie etwas vergessen? Sie sehen etwas blass aus. Kommen Sie, setzen wir uns kurz auf die Bank da vorne." Behutsam legt ihm der Mann die Hand auf die Schulter und führt ihn zur Bank.

"Ich heiße Silvio."

Die Welt um Valentin rückt wieder näher und verliert allmählich ihre vermeintliche Bedrohlichkeit. Er atmet tief durch und merkt, dass sich sein Körper entspannt. In der Therapie hat man ihm gesagt, er solle auf eine gleichmäßige langsame Atmung achten, wenn ihn Panik erfasst.

Gut, das hat er jetzt geschafft. Er überlegt kurz, was er zuletzt gehört hat.

"Silvio?", fragt er.

"Ja, Silvio. Ich bin zwar kein Italiener, sondern Spanier, aber meine Eltern fanden Gefallen an diesem Namen."

Es entsteht eine Stille zwischen den beiden. Für Valentin scheint sie eine Ewigkeit zu dauern, in der er sich nicht sicher ist, was er sagen könnte.

"Danke, mir ist etwas schwindlig geworden", sagt er, um die Stille zu unterbrechen.

"Haben Sie etwas vergessen, weil Sie vor dem Eingang gewartet haben?"

"Nein, ehrlich gesagt, hätte ich gern mehr darüber gehört, wie Sie Ihre Entscheidung getroffen haben. Ich meine, als Sie sich entschlossen haben, die Ausbildung zu machen. Sie sagten, Sie waren damals 36. Ich bin jetzt 34. Und ich habe ehrlich gesagt Zweifel, ob ich es mir in diesem Alter leisten kann, mich zu verzetteln."

Eines gelang ihm stets mühelos: Vom eigentlichen Problem abzulenken. Das war Valentin bewusst. Irgendetwas vorzuschieben, nur um nicht die Wahrheit sagen zu müssen und um sich nicht dafür zu schämen, wer er wirklich war.

"Sie haben Zweifel. Aber Sie scheinen sich sicher zu sein, dass Sie dort, wo und als was Sie gearbeitet haben, nicht mehr zurückwollen. Oder?"

"Das ist allerdings wahr."

"Nun, was wollen Sie denn stattdessen? Wo und als was wollen Sie arbeiten?"

"Das hier will ich. Genau das hier. Ich will Physiotherapeut werden und Menschen helfen".

Er ist über sich selbst überrascht. So klar hatte er sein Vorhaben nie vor Augen. Etwas verunsichert schaut er zu Silvio, der seinen Blick erwidert und eine immense Ruhe ausstrahlt. Sie erfasst auch Valentin. Er atmet befreit auf und lächelt.

"Es kommt gleich noch etwas Wichtiges, das Sie hinzufügen wollen, oder?", fragt er den Lehrer schmunzelnd.

"Richtig!", antwortet Silvio lachend. "Das ist die einzige Entscheidung, die Sie wirklich treffen müssen.

Gründe, etwas doch nicht zu tun, werden Sie mehr als genug finden. Sie werden sehen. Sie werden sich noch viele Geschichten erzählen, warum Sie das nicht machen sollten oder könnten. Ganz viele, glauben Sie mir."

"Möchten Sie mir auch Ihren Namen verraten?", fügt Silvio an.

"Entschuldigung, mein Name ist Valentin."

"Also Valentin, bei mir fängt der Unterricht gleich wieder an. Wenn Sie glauben, dass ich Ihnen bei Ihrer Entscheidung weiterhelfen kann, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren. Hinterlassen Sie Ihre Telefonnummer oder E-Mail-Adresse hier bei der Sekretärin und ich melde mich bei Ihnen. Dann unterhalten wir uns weiter. Bis Ende März haben Sie ja Zeit. Bleiben wir dabei?"

"Ja, gern. Danke."

Silvio wartet einen kurzen Augenblick, bevor er aufsteht, gibt ihm die Hand zum Abschied und macht sich auf den Weg zur Volkshochschule.

Valentin bleibt zurück und versucht erfolglos, seine Gedanken zu ordnen. Er schafft es nicht. Und wie immer in solchen Situationen, fällt ihm nur eines ein: Joggen und den Kopf freibekommen.

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