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Schwierige Entscheidung

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Valentin läuft seine Lieblingsstrecke entlang. Sie führt zu einem nahegelegenen Park, weiter zu einem Wald und anschließend zu einem kleinen Badesee. Er liebt es, zu joggen und vor allem das Hochgefühl währenddessen und danach. Es befreit ihn. Völlig egal, was auf ihm lastet, das Laufen wirkt jedes Mal Wunder.

Wenn dieses Gefühl doch nur etwas Bleibendes wäre, wünscht sich Valentin.

Er erinnert sich an Zeiten, als er verletzt war, nicht joggen konnte und dadurch sein ganzes Innenleben aus dem Gleichgewicht geriet.

Klar kannte er Endorphine, die natürlichen Opiate des Körpers, die beim Sport ausgeschüttet werden und sich so angenehm anfühlen. Und er verstand sehr gut, dass manche danach süchtig waren. Aber zu diesem Personenkreis zählte er sich nicht. Er wusste, dass sich die Ausschüttung nicht erzwingen lässt und das Hinterherjagen deshalb sinnlos ist. Ja, es war möglich, günstige Voraussetzungen dafür schaffen, sie zu fördern, das ja, aber mehr nicht.

Während Valentin immer weiterläuft, fühlt er eine immense Verbundenheit mit der Natur. Seinen Körper nimmt er nicht mehr wahr. Lediglich seine Atmung, auf die er sich konzentriert, um effektiv zu laufen. Er ist Teil von allem, was diese Welt auszumachen scheint.

Wie gewöhnlich steigen Bilder in ihm auf. Jetzt sind sie wesentlich intensiver als sonst und verändern etwas in ihm. Er sieht sich in der neuen Schule. Entspannt und voller Freude über den Unterricht. Dann als Physiotherapeut, umgeben von Sportlern, die er auf einen Wettkampf vorbereitet, ihre Beinmuskulatur massiert, lockert und aufwärmt. Und er sieht sich, wie begeistert er seine Arbeit macht. Er ist in der Lage, alles zu erfühlen - als sei er mitten im Geschehen - und nimmt diese Freude beim Laufen intensiv in sich wahr.

Valentin ist berauscht und erinnert sich an Silvios Worte, dass er nur diese einzige Entscheidung zu treffen hat: sich verändern zu wollen. Jetzt ist er sich dessen sicher: Er ist bereit, sein Leben in andere Bahnen zu lenken.

Als Valentin zwei Stunden später zu Hause ankommt, duscht und sich mit einer Flasche Mineralwasser auf die Couch setzt, ist er immer noch in Hochstimmung.

Er füllt das Anmeldeformular aus, um es am nächsten Vormittag abzugeben und genießt den restlichen Tag mit Musik, Lesen und vor dem Fernseher.

Am Abend geht er zufrieden mit sich und diesem Tag ins Bett. Er fühlt sich entspannt, liest noch ein bisschen, bis er müde wird, und schaltet dann das Licht aus.

Er ist schon in einem Dämmerzustand, als ihn ein Schwall voller Gedanken hochschrecken lässt:

Was ist, wenn ihn seine Mitschüler nicht mögen? Was ist, wenn sie ihn mobben? So, wie er es mit seinen Kollegen erlebt hat. Dann muss er die Schule abbrechen. All das Geld, das er bis dahin investiert hat ... Und er müsste sich wieder einen neuen Job suchen.

Wäre es nicht besser, doch in der Werkstatt zu bleiben? Gekündigt hat er ja nicht. Die Art und Weise, wie ihn seine Kollegen bisher behandelt haben, kennt er schon. Vielleicht wäre es leichter, das auszuhalten als zu erleben, wie er von anderen abgelehnt wird. Ja, bestimmt. Wie dumm, sich etwas vorzumachen. Warum sollte plötzlich alles besser sein? Warum sollten ihn die Menschen auf einmal akzeptieren?

Völlig entmutigt steht Valentin auf, legt sich auf die Couch und schaltet den Fernseher ein. Er braucht Ablenkung.

Jeder weitere Gedanke strengt ihn an und macht ihm Angst. Er weiß, wohin sie führen können. Wenn der Versuch, seinem Leben ein Ende zu setzen, wieder schiefläuft, wird er nicht die Kraft haben, das, was danach unvermeidlich folgen würde, nochmal durchzustehen. Man würde ihn erneut einsperren, ihm seine Freiheit nehmen und über ihn bestimmen wie über ein kleines Kind. Nein, das wäre zu viel. Ihm wird klar, dass die Angst davor stärker ist als der Mut, einen weiteren Selbstmordversuch zu unternehmen.

Das lässt seine Situation noch hoffnungsloser erscheinen und alles, was seine Tränen bisher zurückgehalten hat, verliert in diesem Augenblick jegliche Macht, sie weiter im Zaum zu halten. Es erfasst Valentin ein hemmungsloses Schluchzen und Weinen, bis er völlig entkräftet in einen traumlosen Schlaf fällt.

Am nächsten Tag fühlt er sich wie gerädert und kann gar nicht fassen, in welch erschreckende Tiefe ihn seine Gedanken heruntergezogen haben.

Mit aller Gewalt schiebt Valentin jede Erinnerung an den vergangenen Abend von sich und lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Begegnung mit Silvio.

Hat er nicht so etwas vorausgesagt? Waren das die Geschichten, von denen er gesprochen hat? Vielleicht wäre es doch besser, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

Valentin macht sich notdürftig ausgehfertig und schleppt sich schweren Schrittes zur Physioschule. Beim Betreten des Büros merkt er sofort, dass die Sekretärin ihn wiedererkennt.

"Wie kann ich Ihnen helfen?", fragt sie lächelnd.

"Ich würde gern noch einmal mit Silvio sprechen. Er hat gesagt, ich könnte meine Nummer bei Ihnen hinterlassen."

"Ja, stimmt. Ich schreibe sie mir auf und er meldet sich bei Ihnen."

"Wissen Sie, ob das noch heute sein wird?"

"Ich kann zwar nicht für ihn sprechen, aber ich denke, ja. So, wie ich ihn kenne, wird er sich noch heute Zeit dafür nehmen. Das wäre Ihnen wichtig, oder?"

Valentin nickt der Sekretärin wortlos zu, schreibt seine Nummer auf und macht sich auf den Weg nach Hause.

Auf einmal steigt wieder etwas Hoffnung in ihm auf, und im gleichen Augenblick wird er sich dessen bewusst, dass die Sonne scheint und am Himmel keine einzige Wolke zu sehen ist. Nun huscht doch ein kleines Lächeln über seine Lippen und sein Gang nimmt Schwung und Leichtigkeit auf.

Wieder zu Hause zieht Valentin das Anmeldeformular aus der Schreibtischschublade hervor und hofft, ein Gefühl dafür zu bekommen, die richtige Entscheidung zu treffen. Doch er kommt nicht weiter. Er ist müde, die Nacht hängt ihm nach.

Er schaltet den Fernseher ein und legt sich auf die Couch. Vorsorglich überprüft er den Akkustand seines Smartphones, deaktiviert "lautlos", um den erwarteten Anruf nicht zu verpassen, und lässt sich von einer Komödien-Serie berieseln. Kurze Zeit später schläft Valentin tief und fest.

Gegen 14.30 Uhr weckt ihn das Läuten seines Handys. Hastig greift Valentin nach dem Gerät, lässt es fallen und drückt versehentlich den Anrufer weg. Fluchend setzt er sich auf und überlegt, was er machen soll. Die Nummer ist unbekannt. Wahrscheinlich war es Silvio, denkt er sich. Unschlüssig sitzt er einige Augenblicke auf der Couch, als es wieder läutet.

Erleichtert atmet er auf und meldet sich mit einem "Hallo?"

"Hier ist Silvio. Spreche ich mit Valentin?"

"Ja, ich bin`s. Danke, dass Sie wieder anrufen. Ich wollte Sie nicht wegdrücken, mir ist das Telefon aus der Hand gerutscht."

Silvio lacht. "Macht nichts, jetzt bin ich ja wieder dran. Erzählen Sie mal..."

"Ich habe eine furchtbare Nacht hinter mir. Es sind mir so viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Jetzt bin ich wieder ganz verunsichert, was ich machen soll. Und dann ist mir eingefallen, dass Sie gesagt haben, das würde oder könnte passieren. Ich weiß es nicht mehr genau."

Unsicher bricht Valentin seinen Redeschwall ab und wartet.

"Das ist normal, machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie möchten, können wir uns irgendwo treffen und in Ruhe darüber reden. Das ist kein Thema, das man am Telefon ausdiskutieren sollte. Wie wär's?"

"Gern. Wann haben Sie Zeit? Ich bin sehr flexibel."

"Morgen um 14.00 Uhr? Neben der Schule gibt es ein nettes Café, das Unicorn. Kennen Sie es?"

"Ja, stimmt. Ich habe es auf dem Weg zum Sekretariat entdeckt, sah nett aus. 14.00 Uhr passt wunderbar. Danke, dass Sie sich so schnell Zeit nehmen."

"Gerne, Valentin. Dann sehen wir uns morgen und sprechen über alles."

"Ja, bis morgen. Auf Wiedersehen."

Nach dem Telefonat füllt sich Valentin Tee in eine Thermoskanne, setzt sich damit auf den Balkon und versucht, die restlichen Sonnenstrahlen zu genießen. Ganz gelingt ihm das nicht.

Es erfasst ihn eine Unruhe. Sein Herz hämmert wie wild. Das ist für Valentin ein Zeichen. In diesem Moment wird ihm klar, dass der Aufenthalt im BKH doch nicht nur "für die Katz" war, wie er ihn sonst zu beschreiben pflegte.

In den Therapiegesprächen hat er gelernt, die Anzeichen einer aufkeimenden Panik zu erkennen. Jetzt kann er seine Unruhe zumindest insoweit einordnen, dass er vor etwas Angst hat. Was mag es sein? Die Frage wühlt ihn noch mehr auf. Sie will nicht gestellt werden. Valentin hält die Anspannung nicht aus. Er zieht sich schnell um und läuft los.

Er legt gleich zu Beginn ein hohes Tempo vor, wissend, dass ihn das beruhigen wird. Nach einer gewissen Zeit fühlt er sich besser und lässt seinen Gedanken freien Lauf.

Wie gewohnt tauchen verschiedene Bilder vor ihm auf. Situationen, in denen er Persönliches preisgegeben hat. Situationen, in denen er Gefühle gezeigt und ausgesprochen hat. Situationen, in denen er deswegen verletzt wurde. Situationen, in denen er nicht mehr bereit war, dieses Risiko einzugehen.

Valentin atmet erleichtert auf. Ihm wird die Befürchtung bewusst, Silvio zu viel von sich erzählen zu müssen und erneut verletzt zu werden. Er nimmt sich vor, es nicht so weit kommen zu lassen, und läuft Richtung Wohnung zurück.

Eine gewisse Unruhe bleibt. Valentin macht sich nichts vor. Die Entscheidung, nicht mit offenen Karten zu spielen, hinterlässt einen faden Geschmack. Er kann es nicht richtig einordnen, gibt sich aber damit zufrieden, die restliche Unstimmigkeit zu ignorieren.

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