Читать книгу Die Fischerkinder - Melissa C. Feurer - Страница 7

Das Buch

Оглавление

Mit einem Buch fing es an. Einem Buch, für das schon Menschen ihr Leben gegeben hatten, wegen dem andere verfolgt worden waren und durch das ein eigentlich recht gewöhnliches Mädchen eines Sommerabends zur Diebin wurde.

Nichts an diesem Abend deutete darauf hin, dass er in irgendeiner Weise anders war als die vorhergehenden. Eigentlich war es die Dämmerung eines geradezu leidig normalen Tages, an dem Mira Robins die Buchhandlung „Porters Höhle“ betrat. Vielleicht war sie unterwegs einem Wachposten mehr als sonst begegnet, hatte vielleicht ein paar Mal öfter als gewöhnlich innegehalten, um hier oder dort einen Nachbarn zu begrüßen und vielleicht kam sie deshalb ein paar Minuten später als sonst bei der Buchhandlung an. Vielleicht deutete aber auch rein gar nichts darauf hin, dass dieser Abend sich von allen vorherigen unterschied. Mira konnte, während sie in das schummerige Licht des kleinen Ladens trat, vermutlich wirklich nicht ahnen, dass sie noch heute zur Gesetzesbrecherin und schließlich zur Verräterin werden würde.

„Herein“, ertönte eine gemächliche Bassstimme aus dem Inneren einer Pfeifenrauchwolke, die einen staubigen Ohrensessel in der Ecke des Ladens einhüllte. „So später Besuch. Das kann nur Mira sein.“ Edmund Porter löschte seine Pfeife und erhob sich. „Das Buch schon wieder ausgelesen? Ich könnte schwören, dass du erst gestern hier gewesen bist.“

Mira sah zu Edmund hinauf, der nun kaum einen Meter vor ihr stand und immer noch nach süßem Tabak roch. „Beinahe“, sagte sie. „Es war vorgestern.“

„Dann willst du es wohl zurückbringen.“

Mira nickte, holte das Buch vorsichtig unter ihrer Jacke hervor und hielt es ihm entgegen. Es war ein schon vertrauter Schmerz, als Edmund Porter es ihr abnahm und der glatte Einband unter ihren Fingern wegglitt. Was für ein unvorstellbarer Reichtum, eine oder sogar mehrere von diesen papierenen Welten sein Eigen zu nennen! Aber wer konnte es sich heutzutage schon leisten, ein Buch zu besitzen? Miras Familie war gewiss nicht arm. Doch die hart verdienten Rationskarten in etwas so Nutzloses wie einen Abenteuerroman zu investieren, wäre Miras Vater nie in den Sinn gekommen. Es gehörte sich auch nicht. Was für ein falsches Bild hätte das von ihrer anständigen, rechtschaffenen Familie gegeben, wenn sie sich solch bedenkliche, ja fast unanständige Auswüchse wilder Fantasie zu Hause ins Wohnzimmer gestellt hätten?! Als wäre es noch nicht Aufsehen erregend genug, dass Mira so regelmäßig in „Porters Höhle“ anzutreffen war!

„Und was darf es heute sein?“ Edmund Porter schob seine schlichte, runde Brille zur Nasenwurzel und musterte seine Kundin erwartungsvoll. Rein gar nichts an ihm erschien ihr zwielichtig oder anstößig – vielleicht, weil sie auch an den Büchern nichts Verwerfliches fand, egal was ihr Vater davon halten mochte. Für Mira waren sie nur ein unermesslicher Reichtum, zu groß, als dass ein Mensch ihn hätte fassen können. Und fast schien es Mira auch, als besäße Edmund Porter die Bücher gar nicht wirklich, sondern verwalte sie nur. Als hüte er die niedergeschriebenen Abenteuer und Geschichten und insgeheim vielleicht einen noch viel größeren Schatz.

„Ich weiß nicht.“ Mira ging hinüber zu einem der deckenhohen Regale und strich mit der Hand über die Rücken der Bücher, die dort feinsäuberlich aufgereiht standen. „Etwas Spannendes. Eine andere Welt.“

Edmund Porter nickte. „Da wirst du hier fündig werden. Sieh dich nur in aller Ruhe um, ob du noch ein Buch findest, das du noch nicht gelesen hast.“ Kurz warf er einen sehnsuchtsvollen Blick zu seinem Ohrensessel, als hätte er sich gerne wieder dort niedergelassen, mit seiner Pfeife und dem Buch, das auf der Armlehne lag.

„Ist es gut?“, fragte Mira, die seinem Blick gefolgt war.

Der Buchhändler sah sie eine ganze Weile nur nachdenklich an. „Aber ja“, erwiderte er dann. „Meisterhaft. Voller Abenteuer und Weisheit. Doch im Augenblick lese ich es selbst.“ Er wog das Buch, das Mira ihm zurückgegeben hatte, in den Händen. „Du entschuldigst mich“, bat er und verschwand mit einem letzten Blick zu seinem Sessel im Hinterzimmer, um das wiedergebrachte Exemplar in eine seiner endlosen Listen einzutragen.

Mira blieb allein in der Stille und Wärme der Buchhandlung zurück. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass doch etwas anders war als sonst: Kein Wachposten sah ihr beim Stöbern in den hohen Regalen über die Schulter. Sie war so an den Anblick eines uniformierten Beobachters gewöhnt, dass es sich beinahe falsch anfühlte, so alleine in der Buchhandlung zu sein.

Die Luft roch nach Edmund Porters süßem Tabak, Druckerschwärze und altem Papier. Mira sog den vertrauten Duft tief in ihre Lungen und trat langsam an eines der zahlreichen Regale, die mit Büchern aus allen Epochen gefüllt waren. Am meisten lockten Mira die alten, ledergebundenen, denen man ihr Alter von weit her ansah. Es war seltsam: Jede Zeit hatte ihre Bücher anders gekleidet. Von Leineneinbänden mit goldener Prägung bis zu grellbunten Hüllen aus bedrucktem Papier. Mira fragte sich, wie die Bücher heute wohl aussähen, wenn es noch Verlagshäuser gäbe, die sie drucken würden. Aber das war ja absurd.

Nachdenklich ging sie am Schreibtisch und dem großen Ohrensessel vorbei, und ihr Blick streifte das dort aufgeschlagen liegende Buch. Es war klein und ledergebunden, mit goldenen Seitenrändern und abblätterndem Titel. Es sah gar nicht so aus, als berge es Abenteuer und Weisheit, doch wie es da so aufgeschlagen lag, zog es Mira wie magisch an. Sie war neugierig, aus welcher fernen Welt sie Edmund Porter mit ihrem Eintreten gerissen hatte. Er hatte ganz den Eindruck gemacht, als lasse er sie nur ungern zurück.

Sie blieb stehen und strich behutsam über den Einband. Er war rau und arg mitgenommen und die Seiten dazwischen zerfleddert. Edmund Porter pflegte seine Schätze sehr sorgfältig; alle anderen Bücher in „Porters Höhle“ waren in makellosem Zustand. Ganz sicher hatte Mira dieses Buch noch nie in einem der Regale stehen sehen, die sie beinahe in- und auswendig kannte. Warum mochte er es versteckt gehalten haben?

Hitze kroch über Miras Haut. Sie riss den Blick von dem Buch los und sah sich nach der Tür zum Hinterzimmer um. Von Edmund Porter keine Spur.

Was Mira dann tat, hatte sie sich nicht vorher überlegt. Es war nicht so, als hätte sie beschlossen, das Buch zu stehlen. Aber eine plötzliche Unruhe drängte ihre Hände dazu, es aufzuheben und unter ihre Jacke zu schieben. Sie stahl es ja auch nicht wirklich. Genau wie jedes andere Buch würde sie es nach dem Lesen zu seinem rechtmäßigen Besitzer – nein, Verwalter – zurückbringen.

Schon wenige Minuten später, als sie keuchend und nach Atem ringend zu Hause in den Flur schlüpfte und sich gegen die Haustür lehnte, hätte sie nicht mehr erklären können, was sie dazu gebracht hatte, das Buch mitzunehmen. Ihr Herz galoppierte wie ein durchgegangenes Pferd in ihrer Brust. Sie hatte nicht die Gelegenheit, ihren Puls oder Atem unter Kontrolle, geschweige denn ihr Diebesgut in Sicherheit zu bringen, denn vom Geräusch der zuschlagenden Tür aufgeschreckt, stürmte ihr Vater in den Flur.

„Bei der Verfassung!“, entfuhr es ihm, als er in Miras erhitztes Gesicht sah. „Es ist schon drei nach neun, und da besitzt du die Nerven, noch draußen herumzuschleichen! Wo um alles in der Welt warst du?“ Sein Gesicht war vor Zorn genauso rot wie das seiner Tochter geworden, die immer noch nach Atem rang und nicht antworten konnte.

„Wieder in dieser Buchhandlung?“, setzte ihr Vater die Befragung fort. Er hatte sich bei Miras Eintreten die schwarze Anzugjacke mit den Orden über den Schlafanzug geworfen, als hätte er sich schon halb für den Fall gewappnet, dass seine Tochter von einem Wachmann zu ihm gebracht wurde.

Mira war sich fast sicher, dass man sie nicht einfach verhaften würde, sollte man sie in der Sperrstunde draußen aufgreifen. Wenn die Wachmänner Mira erst einmal anhand des Ausweisbandes an ihrem Handgelenk als Gerald Robins‘ Tochter identifiziert hätten, würden sie ihn vermutlich fragen, wie in ihrem Fall vorzugehen war. Immerhin war er ihr Vorgesetzter. Die Frage war, ob das nicht schlimmer gewesen wäre, als ohne großes Federlesen ins Gefängnis geworfen zu werden.

„Hat jemand sie gesehen?“ Miras Mutter war aus dem Wohnzimmer und zu ihrem Mann getreten. „Ein Wachposten oder … einer der Nachbarn?“

Das sah ihnen ähnlich. Lieber wüssten sie ihre Tochter in Schwierigkeiten, ja sogar lieber unter Arrest als in Verruf. Der Meinung der Nachbarn galt die oberste Sorge in diesem Haus. Jedenfalls gleich nach dem Befolgen des Gesetzes. Und das eine war durchaus eng mit dem anderen verknüpft, denn wenn sie einen Ruf bei ihren Nachbarn zu verlieren hatten, dann den, durch und durch rechtschaffene, pflichtbewusste und gesetzestreue Bürger zu sein.

„Ruhig, Rose“, wehrte Miras Vater ab. „Wenn ein Wachposten sie gesehen hätte, stünde sie nicht hier.“

Durch den Körper von Miras Mutter ging ein erleichtertes Schaudern. „Gut. Das ist gut“, sagte sie, wie um sich selbst zu beruhigen. „Es ist ja auch erst drei nach neun.“ Hastig klappte sie den Mund zu und machte den Eindruck, als hätte sie ihre Worte gerne augenblicklich zurückgenommen.

Die Reaktion ihres Mannes folgte postwendend. „Erst drei nach neun?“, brüllte er. „Drei Minuten. Drei Minuten Gesetzlosigkeit. Drei Minuten Gelegenheit für jedermann, sie da draußen zu sehen. In der Sperrstunde!“

„Nur für jedermann, der selbst um diese Zeit noch nicht dort ist, wo er sein sollte“, wagte Mira zu entgegnen, als sie endlich wieder genug Luft bekam, um zu sprechen.

Ihr Vater bedachte sie mit einem Blick, den er sich sonst vermutlich für die Verbrecher aufhob, mit denen er beruflich zuhauf zu tun hatte. „Junges Fräulein.“ Er tippte an einen seiner Orden – das silberne Abzeichen des Gerichts, das ihn als Justizstaatsbeamten auszeichnete. „Ich bin ein wichtiger Mann in dieser Stadt. Ich bin ein Hüter des Gesetzes. Und ich prophezeie dir, dass es mit dir noch ein böses Ende nehmen wird, wenn du weiterhin diese gedankenlose Einstellung an den Tag legst.“

Mira wagte nicht mehr, zu widersprechen. Immer noch in ihre Jacke eingepackt, stand sie vor ihren Eltern, und eine unnatürliche Wärme kroch durch ihren Körper. Ging die Hitze von ihrem Diebesgut aus, oder war es die Angst, damit ertappt zu werden? Ihr Vater, der wegen eines dreiminütigen Verstoßes gegen die Ausgangssperre so außer sich war … sie mochte sich nicht ausmalen, was er zu dem gestohlenen Buch sagen würde.

„Du gefährdest meinen Ruf“, fuhr er hitzig fort, „und das ist der Ruf dieser Familie und damit dieses Staates. Du gehst jetzt auf dein Zimmer, ehe ich mich vergesse! Und ab sofort zollst du dem Staat, der dich erhält und dich mit Regelungen wie der Sperrstunde zu schützen versucht, ein bisschen mehr Respekt.“

Noch während Mira seinem Befehl folgte und sich nach oben in ihr Zimmer zurückzog, hörte sie ihn im Erdgeschoss wüten. Mira war es nur recht, dass er sie weggeschickt hatte. Unter ihrer Jacke war ihr mittlerweile unerträglich warm geworden, aber mit einem darunter versteckten Buch, das seine Verbotenheit geradezu herausschrie, hatte sie es nicht gewagt, sie abzunehmen.

Jetzt riss sie sich die Jacke vom Körper, und das gestohlene Buch fiel auf den Boden. Harmlos lag es da, mit seinen vergoldeten Seitenrändern und dem rissigen Ledereinband. Es schien nichtssagend, so alt und abgenutzt.

Aber vielleicht war es gerade das. Zerlesen sah es aus, geliebt und vielleicht ein wenig wie etwas, das schon oft hastig unter einem Stapel Notizen oder zwischen den Sesselpolstern versteckt worden war, damit es nicht entdeckt würde.

Noch in Stoffhosen und der kratzigen Bluse, setzte Mira sich auf ihr Bett und hob das Büchlein auf. Der Titel war nicht mehr zu lesen, nur abblätternde Reste der goldenen Prägung waren davon übrig geblieben.

Mira beschloss, sich nicht weiter mit dem Äußeren des Buches aufzuhalten. Sie schlug es auf, blätterte die ersten hauchdünnen Seiten um und begann zu lesen.

Der Strom war längst für die Nacht abgeschaltet worden. Mira las bei Taschenlampenlicht und mit zugezogenen Vorhängen. Der Nachbarn wegen. Die Frage, was sie wohl denken mochten, war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass ihr Vater gar nicht leibhaftig neben ihr stehen musste, damit sie seine mahnende Stimme hörte: „Wonach sieht das aus, wenn mitten in der Nacht ein kleiner Lichtkegel durchs Zimmer hüpft? Als täten wir hier drinnen etwas Verbotenes!“

Mira tat wahrhaftig etwas Verbotenes, das ihre Taschenlampe den Nachbarn hätte verraten können. So viel hatte sie beim Lesen begriffen. Es war nicht erlaubt, dieses Buch zu lesen, und vor allem war es nicht erlaubt, es zu besitzen. Es war nicht wie die anderen Bücher in „Porters Höhle“, verpönt, aber akzeptiert, sondern ein Gegenstand, der Edmund Porter, sollte er je entdeckt werden, ans Messer liefern konnte.

Vielleicht würde sie eines Abends vergeblich an der Tür zu seinem kleinen Buchladen rütteln, und es wäre abgeschlossen. Der nach süßem Tabak riechende Mann mit dem runden Bauch und dem grau melierten Haar wäre einfach verschwunden.

Mira hatte Menschen auf diese Art verschwinden sehen. Da waren Nachbarn gewesen, mit deren Töchtern sie schon im staatlichen Erziehungshaus gespielt hatte. Später hatten sie die gleiche Klasse besucht, und manchmal, an Nachmittagen, an denen ihre beste Freundin Vera keine Zeit gehabt hatte, hatte sie mit ihnen im Garten gespielt. Eines Morgens waren sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Das Haus verlassen, die Vorhänge zugezogen, das Ringewerfspiel noch im Vorgarten liegend, als warte es nur auf seine sommersprossigen, ungestümen Besitzerinnen. Und keiner wagte zu fragen, wo sie waren. Da hatte Mira begriffen, dass das Bestürzende, Schreckliche als normal hingenommen wurde, weil man nicht der Nächste sein wollte, der ein leeres Haus mit zugezogenen Vorhängen zurückließ.

Aber so würde sie Edmund Porters Buchladen nicht vorfinden. Zumindest vorerst nicht. Denn das Buch, das sein Verschwinden hätte auslösen können, lag hier, aufgeschlagen auf ihrem Kopfkissen.

Zuerst war es ihr ausgesprochen langweilig vorgekommen. Die alte, schwerfällige Sprache, die vielen Namen, die winzige Schrift auf den durchscheinend dünnen Seiten. Aber dann war eraufgetreten. Dieser Mann, dieser seltsame Protagonist, der Mira zugleich fasziniert und irritiert hatte. Fast wie den Figuren dieser sonderbaren Geschichte war es ihr ergangen, von denen die einen ihn als Anführer liebten und die anderen ihn so abgrundtief hassten, dass sie ihn töten wollten.

Sein sanfter und zugleich so bestimmter Charakter brachte sie dazu, gespannt weiterzulesen, so unerhört die Geschehnisse in diesem Buch auch wurden. Mira hätte keinen Staatsbeamten zum Vater haben müssen, um zu wissen, dass sie ein Buch, in dem solch ungeheuerliche Dinge geschahen, umgehend hätte melden müssen. Menschen, die sich ohne Zuhilfenahme technischer Mittel über die Naturgewalten hinwegsetzten, ja sie gar lenkten, Menschen, die, ohne Ärzte zu sein oder Medikamente zu verabreichen, Kranke heilten. Und vor allem: ein Mann, der Nachfolger um sich scharte, obwohl ein anderer König herrschte … Mira wusste, was ihr Vater mit diesem Buch getan hätte.

Und genau deshalb brachte sie es ihm nicht. Denn wie hätte sie je herausfinden sollen, was mit diesem seltsamen Mann mit den Wunderkräften und seinen Freunden geschah, wenn sie das getan hätte, was richtig gewesen wäre? Vielleicht hätte sie Edmund Porter schützen können, indem sie behauptet hätte, das Buch auf der Straße gefunden zu haben. Aber das Buch und seine verbotene Geschichte wären verloren gewesen.

Also blieb Mira, wo sie war, und verschlang Seite um Seite. Begierig, herauszufinden, wie der Protagonist seine Feinde am Ende doch noch besiegen würde.

Die Wanduhr zeigte elf Uhr, als Mira verwirrt innehielt. Der Grund dafür war, dass die Geschichte mit einem Mal endete.

Eben hatten seine Widersacher den Protagonisten in eine hinterhältige Falle gelockt und alle gegen ihn aufgehetzt, seine Freunde hatten ihn im Stich gelassen, und man hatte ihn grausam hinrichten lassen. Und dann war da nichts mehr. Die folgenden Seiten fehlten. Sorgfältig und gerade waren sie aus dem Buch herausgetrennt worden. Nur ein golden schimmernder Rest zeugte noch davon, dass es sie gegeben hatte. Die letzte Seite Text endete mitten im Satz. Rechts daneben begann eine neue Geschichte.

„Markus“, stand darüber. Was interessierte Mira Markus? Sie wollte wissen, wie die Geschichte endete. Ob der Mann wirklich tot war, ob seine Feinde tatsächlich triumphierten. Welcher Schriftsteller dachte sich denn so ein grauenhaftes Ende aus?

Sie blätterte zurück, las die letzten Seiten noch einmal, schürte verzweifelt die Hoffnung, sich getäuscht zu haben. Doch kein Zweifel: Der Protagonist – dieser beunruhigend besondere Mann – war tot.

Wütend über beides – die Wendung, welche die Handlung genommen hatte, und die fehlenden Seiten –, klappte Mira das Buch zu und zwängte es in ihren Kissenbezug. Sie rieb sich die müde gewordenen Augen und stellte erschrocken fest, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie konnte gar nicht recht sagen, ob wegen des Todes des Protagonisten oder wegen der Anspannung, die sie ergriffen hatte. Da saß sie mit einem verbotenen Buch in ihrem Zimmer und wusste nicht, was sie tun sollte. War ihr der Tag noch am Abend leidig gewöhnlich vorgekommen, so hatte sie jetzt eine schreckliche Vorahnung, ihr Leben würde nach der heutigen Nacht nie wieder das Gleiche sein wie zuvor.

Sie hatte eine der verbotenen Schriften gelesen, und das Schlimmste war, dass die Geschichte sie ganz und gar gefangen genommen hatte. Mira konnte sich nicht vorstellen, dass das Schicksal dieses Mannes und seiner Freunde sie je loslassen würde, solange sie nicht das Ende lesen konnte.

„Bei der Verfassung, Miriam!“ Aus dem Munde ihrer Mutter klang dieser Ausruf nicht sonderlich einschüchternd. Sie hatte ihn sich von ihrem Mann abgeschaut, aber ohne schwarzen Anzug, ohne Abzeichen an der Brust und ohne die gestrafften Schultern war es einfach nicht das Gleiche.

Statt dieser für Gerald Robins typischen Attribute hatte Rose Robins an diesem Morgen eine weiße Bluse, Hausschuhe und roten Lippenstift aufzuweisen. Dieser rote Lippenstift machte ihren mahnenden Ausruf besonders lächerlich, weil Gerald Robins ganz bestimmt noch viel erboster über ihn gewesen wäre als über Miras dreiminütiges Zuspätkommen am Vorabend.

Nicht nur dass es völlig unnötig war, nein, es war auch im höchsten Maße erniedrigend für eine Frau, ihre Weiblichkeit so unverschämt zu betonen. Männer beschmierten sich die Gesichter nun einmal auch nicht mit Farbe, und keine Frau, die etwas auf sich hielt, stellte ihre weiblichen Reize auf diese altmodische Art zur Schau.

Keine, außer Rose Robins.

Mira kannte dieses kleine Geheimnis ihrer Mutter schon seit Kindertagen: Am Wochenende, wenn sie zu Hause war und Miras Vater für gewöhnlich arbeitete, kramte sie das hinter den Handtüchern versteckte Make-up heraus und trug es mit größter Sorgfalt auf.

Mira hätte es abstoßen müssen, aber der Anblick ihrer Mutter mit leuchtend roten Lippen war ihr so vertraut wie der ihres Vaters in schwarzem Beamtenanzug mit Abzeichen. Genau wie Miras Liebe zu Abenteuerromanen war es nur ein kleines, lieb gewonnenes Schlupfloch aus dem sonst eintönigen Alltag. Nichts, was irgendjemanden verletzte oder aufhetzte.

„Liegst du etwa noch im Bett?“ Rose Robins stand mit gerunzelter Stirn im Türrahmen.

Mira befreite sich mühsam von der dünnen Bettdecke und strich sich mit beiden Händen durch das nur wenige Zentimeter lange, braune Haar. Ihre Augen schmerzten, und sie konnte sie kaum offen halten. Das war eine Nacht gewesen! Lange hatte sie noch in die Dunkelheit gestarrt, und als sie endlich eingeschlafen war, hatte sie Grauenhaftes geträumt von diesem …

Hektisch tastete Mira mit den Händen nach dem Kopfkissenbezug, in dem das Buch versteckt war, während ihre Mutter an ihr vorbeischritt und die Vorhänge aufzog. Offene Vorhänge. Sie waren noch da. Sie waren rechtschaffene Bürger, deren Haus ganz gewiss nie – niemals – mit zugezogenen Vorhängen und verlassenen Räumen vorgefunden werden würde. Miras Mutter stand vor Sonnenaufgang gemeinsam mit ihrem Mann auf, wenn dieser zur Arbeit ging, und noch lange bevor auch sie das Haus verließ, öffnete sie alle Vorhänge, damit, wenn die Nachbarn erwachten, auch ja kein Zweifel bestand: Familie Robins war noch da, und daran würde, daran konnte sich auch niemals etwas ändern.

„Hast du etwa die halbe Nacht gelesen?“ Ihre Mutter schürzte die Lippen, und als Mira ihrem Blick folgte, sah sie, dass das kleine ledergebundene Buch sich aus dem Kopfkissenbezug befreit hatte und neben ihr auf der Matratze lag. In ihren Augen sah es, jetzt, da sie den Inhalt kannte, nicht mehr im Geringsten harmlos oder nichtssagend aus.

„Miriam, was soll nur aus dir werden?“, seufzte ihre Mutter. „Was, wenn einer der Nachbarn in der Nacht das Licht gesehen hat?“

„Was, wenn einer der Nachbarn deinen Lippenstift sieht?“ Mira packte mit klopfendem Herzen das Buch und überlegte fieberhaft, was sie damit anstellen sollte. Wenn sie es wieder in den Kissenbezug steckte, würde ihre Mutter stutzig werden. Aber so offen konnte sie ihr gefährliches Diebesgut auch nicht herumliegen lassen.

Das Gesicht ihrer Mutter lief über und über rot an. Nicht vor Zorn wie bei Miras Vater, sondern vor Scham. „Aber das … das ist doch etwas ganz anderes“, wehrte sie ab und fuhr sich durch den ordentlichen Kurzhaarschnitt, zu dem der Lippenstift besonders unpassend wirkte. Die Heldinnen in Miras Büchern mochten langes, im Wind wehendes Haar oder ungestüme Locken haben. Spannend klang das und irgendwie wild. Aber nicht einmal Mira hätte sich mit einer solchen Frisur auf die Straße getraut. Männer wie Frauen ließen sich das Haar kurz schneiden – gleiche Rechte, gleiche Regeln. Langes, offenes Haar bei Frauen war genau wie roter Lippenstift eine unnötige Betonung von Geschlechtsunterschieden. Was für einen Eindruck das vermittelte, war kein Geheimnis: Frauen, die sich verkauften, liefen so herum, aber keine rechtschaffenen Bürger, die Wert auf das legten, was die Nachbarn dachten.

Ohne großes Federlesen zog Miras Mutter ihr die Bettdecke weg. „Ich verlasse das Haus ja nicht“, erklärte sie mit Nachdruck. „Niemand wird es je … Niemand wird mich so sehen.“

Aber vor ihrer Tochter verbarg sie es nicht. Einen winzigen Moment lang überlegte Mira, ob sie ihre Mutter einweihen, ob sie ihr von dieser ungeheuerlichen Geschichte erzählen sollte. Seit vielen Jahren schon teilten sie das Geheimnis des roten Lippenstiftes. Warum nicht auch ein zweites?

„Gleich kommt Iliona zum Putzen“, sagte allerdings ihre Mutter, ehe Mira sich entscheiden konnte. „Wie sieht das denn aus, wenn du noch im Bett liegst!“

Iliona war neben Mira der einzige Mensch, der Rose Robins je in diesem anzüglichen Aufzug, mit rot bemalten Lippen, gesehen hatte. Aber Iliona kam aus den Armenvierteln und zählte deshalb eigentlich gar nicht. Sie würde kein Wort darüber verlieren. Weder gegenüber Gerald Robins noch gegenüber irgendjemand anderem, egal ob Innen- oder Außenstädter. Sie war etwa in Miras Alter, vaterlos und auf die Rationskarten angewiesen, die sie für die Arbeit im Haus von Miras Familie bekam. Nur hohe Staatsbeamte konnten es sich leisten, eine Bedienstete aus den Außenvierteln einzustellen, und die Posten waren begehrt, weil sie ordentlich bezahlt und verhältnismäßig angenehm waren. Angenehmer jedenfalls als die Arbeit in den Fabriken. Über seinen innenstädtischen Arbeitgeber redete man nicht schlecht, wenn man seine Stelle behalten wollte.

„Ich steh schon auf.“ Mira presste das Buch fester an ihren Körper. Sie konnte ihrer Mutter nicht von ihrem Geheimnis erzählen, roter Lippenstift hin oder her. Ihr war klar, dass es einen Unterschied gab zwischen der kleinen Rebellion unschicklicher Farbe auf den Lippen und dem abgrundtiefen Verrat eines verbotenen Buches. Einen gewaltigen Unterschied. Den Unterschied zwischen Leben und Tod.

Vielleicht sah man es ihr an. Mira betrachtete ihr Spiegelbild kritisch. Nicht etwa um die tiefen Schatten unter ihren Augen zu ergründen oder um zu überprüfen, ob ihr Haar die Zehn-Zentimeter-Marke überschritten hatte und damit zu lang war. Nein, sie suchte nach einem verräterischen Anzeichen für das Geheimnis, das sie seit dieser Nacht wahrte.

Sie fand es in ihren Augen. Ein fiebriges Glitzern, vielleicht die Angst vor dem Entdecktwerden, vielleicht die Unruhe, die sie ergriffen hatte, der Drang, herauszufinden, wie die Geschichte endete. Wenn sie an den grausamen Hinrichtungstod des Protagonisten dachte, krampften sich ihre Eingeweide schmerzhaft zusammen. Er war nicht einfach gestorben – er war verspottet, misshandelt und brutal ermordet worden.

Da war so vieles gewesen, das sie nicht verstanden hatte. Aber eines wusste sie mit Gewissheit: Jesus von Nazareth war der außergewöhnlichste Romanheld, von dem sie je gelesen hatte, seine Geschichte die verwirrendste und wunderbarste, die ihr je untergekommen war, und ihr Ende das grässlichste, das sie sich hätte ausmalen können.

Obwohl die letzten Seiten fehlten, bestand kein Zweifel: Er war gestorben. Für ihn war es zu spät. Doch was mit seinen Freunden geschah – diese Frage konnte sie nicht abschütteln. Sie waren geflohen, sie hatten ihn verraten, verleugnet, im Stich gelassen. Was würden sie jetzt tun, da er tot war?

Die Tür wurde von außen aufgestoßen, und Mira machte vor Schreck einen Satz rückwärts. „Hast du mich …“, setzte sie an, verstummte aber, als sie nicht in das mit rotem Lippenstift bemalte Gesicht ihrer Mutter sah, sondern in das von Iliona.

„Entschuldigung … ich wollte das Badezimmer putzen … ich dachte … ich … bitte entschuldigen Sie“, stammelte das Mädchen verschreckt. Sie war zurückgewichen und machte bereits Anstalten, die Tür zu schließen.

„Ich hab dir doch gesagt, dass du mich nicht zu siezen brauchst“, sagte Mira, und als sie sich bewusst wurde, wie harsch ihre Worte klangen, fügte sie freundlicher hinzu: „Ich bin hier fertig.“ Sie trat zur Seite, aber offenbar wagte Iliona es nicht, einzutreten. In ihrer längst nicht mehr weißen Bluse und der viel zu großen Schürze sah sie schmächtig und verloren aus. Wenn Mira nicht gewusst hätte, dass Iliona beinahe so alt war wie sie, hätte sie das Mädchen für höchstens dreizehn gehalten.

„Ich wollte Sie nicht stören“, sagte Iliona. „Ich …“

„Du musst mich nicht siezen. Ich bin Mira. So nennen mich …“

„ … meine Freunde“, hatte sie sagen wollen, aber sie kam nicht dazu, weil ihre Mutter in diesem Moment die Treppe hinaufkam.

„Hast du noch immer nicht angefangen?“ Sie schnalzte ungeduldig mit der Zunge, und Iliona schien, sofern das überhaupt möglich war, noch kleiner zu werden. „Für zwei Brotrationen die Woche erwarte ich, dass du deine Arbeit zügig und ordentlich erledigst. Das wirst du verstehen, nicht wahr?“ Das hätte nachsichtig klingen können, wenn sie nicht so missbilligend auf Iliona herabgeblickt hätte.

„Ja, Frau Robins“, erwiderte das Mädchen, ohne etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen.

Mira überlegte, ob es an ihr wäre, ihrer Mutter die Situation zu erklären, doch sie tat es nicht. Sie hatte gestern Abend schon den Ärger ihrer Eltern auf sich gezogen, indem sie zu spät nach Hause gekommen war. Und wenn sie bedachte, welch gefährliches Diebesgut unter ihrer Bluse steckte, hielt sie es für klüger, sich möglichst unauffällig zu verhalten.

Mira warf einen letzten Blick auf ihr müdes Gesicht im Spiegel. Dank des kurzen Haarschnitts sahen eigentlich alle Mädchen in ihrer Klasse mehr oder weniger gleich aus. Abgesehen vielleicht von Daphné Baron, deren honigblonder Schopf dafür sorgte, dass sie alle anderen überstrahlte. Miras Haar war dunkelbraun – nichts Besonderes, auch wenn ihr der warme Farbton nicht unlieb war. Weiche, fast noch ein bisschen kindliche Züge und große Augen. Grün waren sie immerhin. Die Farbe der Hoffnung – das gefiel Mira.

Sie fuhr sich durch das Haar und wandte sich vom Spiegel ab. Unter ihrer Bluse rieb das kleine Buch mit seinem rauen Ledereinband bei jeder Bewegung über ihre nackte Haut. Sie spürte es deutlich, als sie sich an Iliona vorbeischob und in den Flur zu ihrer Mutter trat.

„Und hast du nichts zu tun?“, wandte diese sich nun an sie, und Iliona atmete deutlich hörbar auf und schlüpfte ins Badezimmer, um sich an die Arbeit zu machen.

„Musst du nicht lernen? Hausaufgaben machen?“

Mira fühlte, wie sich der Gedanke an mathematische Formeln und Staatsgeschichte schwer auf ihre Schultern legte. Sie wusste, dass ihr Land Fachkräfte brauchte. Dass es ein Vorrecht und gleichsam ihre Aufgabe war, sich ausbilden zu lassen, um den Staat aus der wirtschaftlichen Krise zu führen. Damit sie eigenständig bleiben konnten und nicht auf Import angewiesen waren.

„Ihr, du und deine Altersgenossen, seid die Zukunft, Miriam“, proklamierte ihr Vater regelmäßig. „Unser Staat braucht Landwirte, Ingenieure, Lehrer – jeden klugen Kopf und jede starke Hand, um das Wohl unseres Landes zu garantieren. Wir haben es in der Hand, Miriam! Unsere Zukunft liegt nicht mehr in den Händen anderer Nationen und diffuser Bündnisse. Wir können für uns selbst sorgen. Das ist unser Privileg und unsere Pflicht.“

Also lernte Mira mit mehr Eifer als all ihre Mitschüler. Staatsgeschichte war ihr bestes Fach. Sie konnte alles auswendig: die Jahreszahlen von Anbeginn ihres Staates an. Jahr 0, Gründung. März 98, das Krönungsjahr ihres ersten Königs, des ehemaligen Präsidenten Nicholas Auttenberg. Sein größter Verdienst, die Beendigung jeglichen Imports im Oktober 107. Die Ernten waren ausgezeichnet gewesen, ein guter Zeitpunkt. Natürlich kämpften sie auch jetzt, eineinhalb Jahre später, noch für die Eigenständigkeit ihrer Versorgung. Es war noch ein weiter Weg, bis alle Ressourcen so genutzt wurden, dass alle Bürgerinnen und Bürger gut versorgt waren. Aber diese Übergangszeit war notwendig, und wenn sie nur alle mit anpackten, ihren Beitrag leisteten, dann würde König Auttenbergs große Entscheidung sie in ein paradiesisches Reich des Wohlstands und der Unabhängigkeit führen.

Mira hatte glänzende Noten im Staatsgeschichtsunterricht. Immerhin war die glorreiche Geschichte ihres Heimatlandes neben dem Gesetz und der Meinung der Nachbarn eines der Lieblingsthemen ihres Vaters. Wenn sie ihm zuhörte, dann erfüllte es Mira mit Stolz, hier leben und ihren Teil zum Gedeihen des Landes beitragen zu dürfen. Und so sollte es sein, fand ihr Vater. Sie sollten alle stolz auf das sein, was sie schon erreicht hatten. Ihre Unabhängigkeit, den über hundertjährigen Frieden. Stundenlang konnte ihr Vater darüber reden.

Kaum etwas musste Frau Dr. Steinlein Mira noch beibringen, und nur einmal hatte sie die Lehrerin verärgert, indem sie gefragt hatte, wann sie sich der älteren Geschichte, der Welt vor dem Jahr 0, widmen würden. Sie hatte keine Antwort, dafür aber eine schriftliche Mitteilung an ihren Vater bekommen, der sich bei seinem mahnenden Vortrag beim Abendessen so in Rage geredet hatte, dass er sich an einer Forellengräte verschluckt hatte.

Alles, wirklich alles, was sie über diese grausige, dunkle Zeit wissen müsse, hatte er ihr eingeschärft und sie mehrmals wiederholen lassen, sei die Tatsache, dass es furchtbar gewesen sei. Kriege und Korruption, Intrigen und Betrug. Kein Land ohne horrende Schulden, der internationale Markt ein einziges Druckmittel, Import und Export bis zum Ruin. Mit immer größeren Bündnissen hätten sich die Länder abzusichern versucht, wollten sich in Sicherheit wiegen. Aber dann hätten eben die Bündnisse gegeneinander Krieg geführt statt der einzelnen Länder.

„Alles, wirklich alles, was du wissen musst“, hatte er seinen Vortrag nach einem heftigen Hustenanfall beendet, „ist, dass wir es nun besser haben. Wir sind eigenständig. Wir sind in keinen Bündnissen gefangen und nicht von Importen abhängig. Dass du in der Sicherheit dieses Staates aufwächst und nicht in der Welt dort draußen, ist ein Privileg, und es sollte dein oberstes Ziel sein, diesen Staat zu unterstützen. Wiederhol es!“

„Es sollte mein oberstes Ziel sein, unseren Staat zu unterstützen“, hatte Mira sich beeilt, aufzusagen, damit er nur nicht wieder zu husten und zu schimpfen anfing.

Ihr oberstes Ziel, der Grund, warum sie sich ausbilden ließ und fleißiger als all ihre Mitschüler lernte. Natürlich wollte sie ihren Beitrag leisten. Aber heute hatte sie andere Dinge im Kopf. Dinge, die mit der Staatsgeschichte nicht zu vereinbaren waren und die für mathematische Formeln keinen Platz in ihren Gedanken ließen. Jesus von Nazareth. Seine Freunde. Die fehlenden Seiten. Das fehlende Ende. Sie konnte sich jetzt nicht hinsetzen und lernen.

„Ich gehe zu Vera.“ Mira wandte Iliona und ihrer Mutter den Rücken zu und ging zur Treppe. Trotzdem konnte sie sich rege vorstellen, wie ihre Mutter die rot bemalten Lippen schürzte.

„Es gibt da ein Staatsgeschichtsprojekt, an dem ich mit ihr arbeiten will“, fügte sie erklärend hinzu. Das war eine Lüge, aber doch war auch etwas Wahres daran. Es gab da etwas, an dem sie arbeitete. Etwas, wofür sie die Hilfe ihrer Freundin brauchte. Und Vera, die ganz gut in ihre liebenswerte, aber chaotische Familie passte, wäre froh darüber, dass es sich nicht um ein Schulprojekt handelte. Sie war nicht besonders gut in Staatsgeschichte und auch nicht in den anderen Fächern.

Dafür genoss Vera die Freiheit, zu gehen, wohin sie wollte, und zu tun, was auch immer sie wollte, weil ohnehin keiner danach fragte. Schon deshalb hätte Mira manchmal gerne mit Vera getauscht. Weil in ihrer Familie nicht alles, was Spaß machte, verboten war und weil man sich um die Meinung der Nachbarn oder um etwaige Spitzel unter ihnen herzlich wenig scherte. Und weil Mira sich bei den Petersens auf eine seltsame Art zu Hause fühlte. Obwohl sie so wenig pflichtbewusst und organisiert waren. Oder gerade deshalb.

Natürlich sagte man derlei Dinge nicht laut. Die Petersens wären gute Kandidaten dafür gewesen, eines Nachts spurlos zu verschwinden, wenn nicht zwei der Familienmitglieder für den Staat arbeiten würden.

„Dann sieh zu, dass du aus dem Haus kommst“, mahnte Miras Mutter, vom Wort „Staatsgeschichte“ schon versöhnlicher gestimmt. „Es ist nett von dir, dass du mit Vera Petersen zusammenarbeitest. Von ihren Eltern bekommt das Mädchen nun einmal nicht die Unterstützung, die sie für ein erfolgreiches Durchlaufen ihrer Ausbildung bräuchte.“

Mira schluckte jede Erwiderung zur Verteidigung von Veras Familie hinunter. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion. Was zählte, war, dass ihre Mutter den Plänen, die sich in ihrem Kopf formten, nicht im Weg stand.

Stattdessen nutzte sie die kurze Stille, um hinzuzufügen: „Es könnte sein, dass es später wird. Was meinst du, kann ich nicht einfach über Nacht bei Vera bleiben? Immerhin ist Wochenende.“

Ihr Vater hätte womöglich länger gezögert, doch ihre Mutter stimmte sofort zu. „Mach das. Nur vergesst über eurem Projekt nicht das Schlafen.“ Wahrscheinlich ahnte sie, dass im Haus der Petersens niemand ein Auge darauf haben würde, ob sie zu angemessener Zeit zu Bett gingen oder nicht. Seufzend fuhr Miras Mutter fort: „Es ist traurig, was diese Frau aus Simon Petersen gemacht hat. Früher ist er ein ehrgeiziger Staatsbeamter gewesen. Genau wie sein Sohn Filip.“

Mira verdrehte die Augen. An Veras Bruder Filip hatten ihre Eltern einen Narren gefressen. Nicht weil er nett war, manchmal sogar ein bisschen zu nett, sondern weil er dem Staat treu ergeben war.

„Für ihn hoffe ich das Beste“, fuhr ihre Mutter fort, während sie Mira die Treppe hinunter und zur Haustür folgte. „Er ist ein anständiger junger Mann, der sich seine Eltern nicht ausgesucht hat.“

Das konnte ja bekanntlich niemand. Auch Mira hatte es sich nicht ausgesucht, einen Staatsbeamten zum Vater zu haben. Bisher hatte es ihr auch nie etwas ausgemacht. Es brachte gewisse Privilegien und Ansehen mit sich. Aber während ihr Plan langsam Gestalt annahm und ins Rollen geriet, wünschte sie sich, sie hätte eine weniger pflichtbewusste und gesetzestreue Familie. Eine für ihr Vorhaben weniger gefährliche.

Die Fischerkinder

Подняться наверх