Читать книгу Die von Europa träumen - Melita H. Šunjić - Страница 10

DJAMAL UND BECCA AUS SYRIEN AUF DER BALKANROUTE IN DIE EHEKRISE

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»Das WLAN funktioniert wieder einmal nicht, was für eine Katastrophe«, stöhnte der Leiter des Flüchtlingsaufnahmezentrums in Sarajevo und Becca konnte es ihm nachempfinden. Ihr Mann Djamal und ihre beiden Söhne hingen ständig an ihren Handys, sprachen mit Verwandten in aller Welt und sahen sich Bilder und Filme auf Facebook an. Djamal studierte die Angebote von Schleppern und ihre Preise. Und er lud sich Landkarten und Videos herunter, die genaue Anweisungen enthielten, wie man von Bosnien nach Kroatien und weiter nach Italien gelangen konnte.

Und weil das nicht nur Djamal und ihre Kinder so machten, sondern praktisch jeder Bewohner des Hauses, brach das Netz immer wieder zusammen. Dann beschwerten sich alle beim Heimleiter und es herrschte schlechte Stimmung im Haus. Dennoch war Becca froh, dass die Familie hier bei dieser privaten Hilfsorganisation untergekommen war und nicht auf der Straße schlafen musste wie manche ihrer syrischen Landsleute.

Aber das war kein menschenwürdiges Leben. Ihre Kinder waren noch ganz klein gewesen, als der Krieg in Syrien ausbrach. Jetzt waren sie zwölf und dreizehn Jahre alt und hatten nie bewusst eine Zeit der Normalität erlebt. Vor dem Krieg, also vor einer gefühlten Ewigkeit, hatte Djamal als Krankenpfleger in Aleppo gearbeitet. Sie hatten in einem großen Haus außerhalb der Stadt mit seinen beiden Brüdern und deren Familien gewohnt und Becca war damals überzeugt gewesen, dass sie alle in dem Haus zusammen alt werden würden.

Doch der Krieg änderte alles. Ein Bruder verließ Syrien sofort und fuhr mit Frau und Kindern in den Libanon. Dort wollte er ein, zwei Jahre ausharren, bis sich die Lage beruhigte, und dann wieder zurückkommen. Er war immer noch in Tripoli im Norden des Libanon.

Der zweite Bruder verließ Syrien 2015 und lebte nun mit seiner Familie in den Niederlanden. Djamal und Becca blieben, weil Becca ihre krebskranke Mutter nicht im Stich lassen konnte. Sie trotzten den Kämpfen und Bombardements und waren froh, dass ihr kleines Städtchen ein wenig abseits lag und selten Schauplatz direkter Kampfhandlungen wurde.

Die Arbeit in Aleppo musste Djamal aber aufgeben, denn es wurde immer umständlicher und gefährlicher, jeden Tag hin und her zu fahren. Er hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Becca hielt Hühner und baute im Hof Gemüse an, das half ein wenig. Die Kinder kannten keine regelmäßige Schule und wussten nicht, was eine sorgenfreie Kindheit ist. Sie lebten täglich in Angst vor Angriffen aus der Luft oder von Bodentruppen. Hilfspakete kamen selten durch.

Medikamente für die Mutter waren auch nicht mehr zu bekommen. Als klar wurde, dass sie nicht mehr lange leben würde, begann Djamal die Flucht zu planen. Geld legte er in Goldschmuck an, den konnte man mitnehmen. Er schaffte sich ein neues Smartphone an, fotografierte alle ihre Dokumente ab und machte Bilder vom Haus und von den alten Familienfotos.

Wohin sollten sie gehen? Der Libanon war keine Option. Zwar sprach man dort Arabisch, aber die Lage der syrischen Flüchtlinge war sehr schwer. Ihr Schwager berichtete auf WhatsApp davon, dass die Syrer leicht Jobs fanden, weil sie als fleißig und gut ausgebildet galten. Mancher Unternehmer entließ seine einheimischen Arbeitskräfte, um Syrer zu einem viel geringeren Lohn einzustellen. Der Unmut der Bevölkerung richtete sich aber nicht gegen die libanesischen Arbeitgeber, sondern gegen die ausgebeuteten Syrer.

Djamals Bruder lebte mit seiner Familie in einer Garage in Untermiete und zahlte dafür mehr als ein Libanese für eine ganze Wohnung. So erging es den meisten Syrern. Die internationalen humanitären Organisationen hatten viel zu geringe Budgets und konnten nur den allerbedürftigsten Flüchtlingen helfen.

Es gab antisyrische Demonstrationen, Syrer wurden auf offener Straße beleidigt und bespuckt. Dabei war kein Syrer freiwillig weggegangen, sie waren vor dem Krieg geflüchtet. Eigentlich sollten gerade die Libanesen das nachvollziehen können, dachte Becca. Von den arabischen Brudervölkern hatte sie sich mehr Solidarität erwartet.

Ganz anders erging es Djamals jüngerem Bruder, der in den Niederlanden Asyl bekommen hatte. »Kommt her, hier wird es euch gut gehen und wir freuen uns, wenn wir euch wieder in der Nähe haben«, sagte er jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen. »Hier bekommt man jeden Monat Gehalt, egal ob man arbeitet oder nicht. Auch für die Kinder zahlen sie einem was«, erzählte er. Man konnte angeblich jederzeit zum Arzt, ohne zu zahlen, die Schule war auch gratis. Becca konnte es kaum glauben, wie gut das Leben in den Niederlanden sein musste.

Als Beccas Mutter schließlich starb, war die Entscheidung schon gefallen. Sie würden dem Schwager in die Niederlande folgen. Sie verkauften Haus und Grund zu einem lächerlich niedrigen Preis und machten sich auf den Weg. Per Bus gelangten sie zur Grenze und durch die Türkei, das war nicht billig, aber es war auch nicht weiter schwierig. Sie mussten nach Behram und dort ein Boot nach Lesbos nehmen. Das hatte Djamal alles auf Facebook herausgefunden und geplant. Damit waren sie auch schon in der EU und konnten um Familienzusammenführung mit dem Bruder ansuchen. Dann würde man sie per Flugzeug nach Amsterdam bringen und die Niederlande würden für alle Kosten aufkommen. Es war ganz leicht.

Unter diesen drängenden Umständen war die Trauer um die Großmutter kurz. Die Kinder waren sehr aufgeregt und freuten sich auf ihre Cousins und Cousinen, die sie hauptsächlich vom Chatten auf dem Handy kannten. Besonders aufregend fanden sie, dass die Kinder ihres Onkels jeden Tag mit einer richtigen Straßenbahn zur Schule fuhren, und sie sahen sich auf Google Street View alles ganz genau an, um sich auf dem Schulweg nicht zu verlaufen, wenn sie dann dort waren.

Bis Lesbos ging alles plangemäß. Die Bootsfahrt hatte Becca Angst gemacht, denn an dem Abend war der Wellengang hoch und keiner von ihnen konnte schwimmen, aber schließlich erreichten sie die Insel und gingen überglücklich an Land.

Als man sie ins Lager Moria brachte, wurde ihnen bewusst, dass sie das Paradies noch nicht erreicht hatten. Das Erste, was sie in der Nacht mitbekamen, war der Gestank nach Urin und Fäkalien. Dann erblickten sie das Lager. Es war heillos überfüllt. Ausgelegt für rund dreitausend Menschen beherbergte es über zehntausend Personen mehr schlecht als recht. Manche wohnten in Containern, manche in Zelten, die auf Paletten aufgesetzt waren, damit sie bei Regen nicht im Schlamm versanken. Einige aber hatten nicht einmal das, sondern lebten unter aufgespannten Planen. Becca und ihre Familie bekamen ein Zelt zugewiesen, das eng zwischen anderen Zelten eingezwängt war.

Die ersten Tage trösteten sich Djamal und Becca noch damit, dass sie es ja nur für eine Übergangsperiode hier aushalten mussten. Sie stellten sich stundenlang an, um Essen zu bekommen. Zum Klo musste man eine lange Strecke zurücklegen, und wenn sie oder die Kinder in der Nacht hinausmussten, ging Djamal immer mit, denn ihre Zeltnachbarn hatten ihnen erzählt, dass Frauen, aber auch Kinder im Dunklen oft überfallen wurden.

Sie wollten den Behörden ihre Situation erklären und ihnen sagen, dass der Schwager schon auf sie wartete und sie aufnehmen wollte, doch so weit kam es nie. Sie mussten auf einen Termin warten, hieß es. Andere Syrer erzählten ihnen, dass sie sich schon seit fast einem Jahr vergeblich um einen Termin bemühten.

Im Lager gab es manchmal Strom, dann wieder nicht. Man wusch sich aus einem Schlauch auf dem Boden mit kaltem Wasser und so musste Becca auch die Wäsche waschen. Zum Trocknen spannte sie sie über Büsche oder über das Zelt und dachte in solchen Momenten mit Wehmut an ihre Waschmaschine zurück.

Im Lager herrschten große Spannungen. Die Bewohner waren frustriert und aggressiv, immer wieder gerieten einzelne Menschen oder ganze Gruppen aneinander. Afghanen gegen Iraker, Afrikaner gegen Syrer. Einmal wurde ein junger Mann direkt vor ihrem Zelt niedergestochen. Becca war froh, dass das in der Nacht geschehen war und ihre Söhne es nicht mitbekommen hatten.

Moria war die Hölle. Becca hatte ständig Angst um sich und ihre Familie. Besonders schlimm war es, als mehrere Kinder im Lager an Gehirnhautentzündung starben. Da wollte Djamal seine Söhne wegen der Ansteckungsgefahr überhaupt nicht mehr aus dem Zelt lassen. Doch die waren nun einmal Kinder und wollten nicht eingesperrt sein. Djamal hatte in seiner Verzweiflung auf die Kinder eingeschlagen und auch Becca erstmals eine Ohrfeige verpasst, als sie die Lage beruhigen wollte. Dabei war er doch sonst ein friedlicher Mann. Was hatte Moria nur aus ihm gemacht!

Als die Nächte im Herbst kühler wurden, froren sie in ihrem dünnen Zelt. In einem Bereich des Lagers hatten Flüchtlinge ein Feuer gemacht, um ihre Kinder zu wärmen, und damit einen Brand ausgelöst, der in dem engen Lager viele weitere Zelte erfasste. Die meisten kamen mit leichten Verbrennungen und Rauchgasvergiftungen davon, aber es gab auch Todesopfer.

Als beide Kinder einmal Fieber bekamen, war es gar nicht leicht, in der überrannten Lagerklinik zu einem Arzt durchzudringen. Glücklicherweise war es nur eine leichte Bronchitis und bald vorbei. Schlimmer erging es ihrer Nachbarin, die eine Fehlgeburt erlitten hatte und fast verblutete, während vier Männer sie auf einer Decke im Laufschritt zur Klinik trugen. Becca schauderte, wenn sie an die Lage auf Lesbos zurückdachte.

Eines Tages hieß es, ein Teil der Bewohner würde bald aufs Festland gebracht, in ein anderes Lager. Beccas Familie stand auch auf der Liste. Alhamdulillah!

Wieder diente das Handy als Informationsquelle. Djamal fand heraus, dass man von Griechenland entweder über den Kosovo oder über Albanien weiterreisen konnte. Albanien war die familienfreundlichere Route, entnahm er den Erfahrungsberichten derer, die schon vor ihnen diese Reise gemacht hatten. In Griechenland würden sie auf keinen Fall bleiben, noch ein paar Monate in so einem Lager würde er nicht aushalten, sagte Djamal, und Becca stimmte ihm zu.

Als sie in Athen ankamen, setzten sie sich von der Gruppe ab und fuhren mit Bussen Richtung Nordwesten. Für das letzte Stück nahmen sie eines der Taxis, die in Ioannina schon auf die Flüchtlinge warteten. Die Fahrer wussten, wo man am besten über die grüne Grenze gehen konnte, und so fuhr ein ganzer Konvoi abends in diese Richtung. In Gruppen von zehn bis fünfzehn Leuten machten sie sich auf den Weg. Auf Facebook hatten sie gelesen, dass die albanische Polizei korrekt mit Flüchtlingen umging.

So war es dann auch. Sie wurden entdeckt und kamen nach Gjirokastra in ein Zimmer in einer Transitunterkunft. Dort konnten sie erstmals seit Langem warm duschen und in richtigen Betten schlafen, welch ein Luxus!

Dann ging es weiter nach Tirana, von dort ins Nachbarland Montenegro. Überall wies man ihnen akzeptable Unterkünfte zu, manchmal in Gebäuden, manchmal in Containern. Sie bekamen warme Mahlzeiten, schliefen in Betten und zogen weiter, sobald sie sich erholt hatten. Sie gingen viel zu Fuß, doch für die ganz langen Strecken fanden sich immer Fahrer, die gegen Bezahlung Taxi spielten und so ein willkommenes Zubrot verdienten. Es war ein gut funktionierendes System, von dem alle profitierten. Die Menschen waren freundlich und hilfsbereit.

Hier gab es in allen Aufnahmezentren WLAN, und so konnten sie wieder regelmäßiger mit ihren Verwandten in Kontakt sein. Djamals Bruder in den Niederlanden erzählte ihnen, dass er versucht hatte, die Familienzusammenführung einzuleiten, aber die Behörden hatten das abgelehnt. Die Regelung gelte nicht für erwachsene Brüder, nur für minderjährige Söhne und Töchter. Sie sollten auf eigene Faust in die Niederlande kommen, dann werde man schon weitersehen.

Nun warteten sie also eine Regenperiode in Sarajevo ab und wollten danach weiter durch Kroatien und Slowenien bis nach Italien. Ab dort gab es keine Passkontrollen mehr, hatte Djamal im Internet gelesen, dann würde endlich alles gut.

Nach zwei Wochen Regen klarte es auf und Becca legte ihre grüblerische Stimmung ab. Sie wollte nicht mehr zurückschauen, nur nach vorne, in eine bessere Zukunft.

Per Bus fuhr die Familie nach Bihać, eine Grenzstadt zu Kroatien, und fand auch dort bald ein Aufnahmelager. Für die allein reisenden Männer war es schwierig unterzukommen, doch für Familien mit Kindern gab es fast immer Betten, auch wenn es manchmal sehr eng wurde.

Wieder hatte Djamal sich schlaugemacht. Man musste einen Schlepper finden, der einen nach Kroatien brachte, ohne dass man erwischt wurde, denn die Grenzpolizei kontrollierte sehr scharf und schickte jeden zurück. Auch gab es Minenfelder, die man unbedingt umgehen musste. Einen Schlepper zu finden war kein Problem, die mischten sich ganz offen unter die Lagerbewohner und hielten in den Zentren ungeniert ihre Beratungs- und Verkaufsgespräche ab. Arabischsprachige Keiler arbeiteten mit ortskundigen einheimischen Führern zusammen. Djamal sollte für den Grenzübertritt mehrere Hundert Euro pro Person zahlen, da würde sein Bruder wohl aushelfen müssen. Tatsächlich wies der das Geld über Western Union an und Djamal einigte sich mit einem der Schlepper, den ihm andere Syrer als vertrauenswürdig empfohlen hatten. Djamal hatte auch gesehen, dass es richtige Schlepperbewertungen im Netz gab, so wie man Hotels bewertete.

Wenn jemand das Lager verließ und sich nach langem Fußmarsch durch Kroatien endlich nach Italien durchgeschlagen hatte, schickte er gleich Bilder und Grußbotschaften an die ehemaligen Mitbewohner, und sofort breitete sich im Lager neuer Optimismus aus. Dann wollten alle anderen auch sofort aufbrechen.

Schließlich kam auch für Becca und ihre Familie der Abreisetag. »Game« hieß die Reise im Schlepperjargon. Sie gingen also auf ihr Game. Der Führer lotste sie durch eine dicht bewaldete Gegend. Untertags und bei Schlechtwetter war es besser als nachts, denn da würden sie Taschenlampen brauchen und so weithin sichtbar sein.

Doch aus dem Game wurde bald ernst, die kroatische Polizei griff die Gruppe mehrere Kilometer hinter der Grenze auf. Einige junge Männer versuchten wegzulaufen, doch sie wurden überwältigt und mit Stöcken brutal geschlagen. Einem Burschen wurde der Arm gebrochen. Alle wurden durchsucht, sogar die Kinder. Man nahm ihnen alles Geld und die Smartphones ab und schickte sie über die Grenze zurück nach Bosnien. Djamal und Becca waren fassungslos. All ihre Dokumente, Fotos, und Kontakte, waren in dem Telefon gespeichert. Alles war weg.

Zurück im Heim riefen sie den Schwager auf dem Handy eines Mitbewohners an und erzählten, was ihnen widerfahren war. Der war bestürzt. Er hatte keine Ersparnisse mehr und versprach, sich Geld auszuborgen und zu schicken.

Es dauerte über zwei Wochen, bis sie Nachricht bekamen, dass das Geld bereit war. Djamal holte es ab und kaufte sich als Erstes ein Smartphone. Er musste nun alle Landkarten wieder herunterladen, vor allem die Weitwanderwege durch Kroatien und die Kommentare und Ratschläge der Syrer und Iraker, die diese Strecken schon zurückgelegt hatten. Djamal recherchierte alles ganz systematisch und erfuhr, welche Vorsichtsmaßnahmen man ergreifen musste. Die erste Hürde war die Grenze und das Grenzgebiet. Sobald man das verlassen hatte, sollte man sich im bewaldeten Gebiet fortbewegen und es nur verlassen, wenn es gar nicht anders ging und man einkaufen musste. Da war es besser, die kleinen Dörfer zu meiden und in Städtchen mit Supermarkt einzukaufen. Am besten man schickte hellhäutige Mitreisende, die nicht auf den ersten Blick als Flüchtlinge erkennbar waren, denn in Kroatien war die Bevölkerung ihnen nicht freundlich gesinnt und konnte einem die Polizei an den Hals hetzen.

Zu Fuß, so hatte Djamal herausgefunden, brauchten gesunde Erwachsene etwa zehn Tage bis zur italienischen Grenze.

Diesmal fand Djamal einen billigeren Schlepper. Der brachte eine kleine Gruppe Syrer an die kroatische Grenze, wies ihnen die Richtung und wünschte ihnen alles Gute. Djamal hatte das übrige Geld auf alle Familienmitglieder verteilt. Jeder trug einen Teil am Körper und sie hofften, etwas zu retten, falls sie wieder aufgegriffen wurden. Becca hatte in Bihać Leute getroffen, die es schon zwanzigmal versucht hatten. Djamal hatte eine richtige Landkarte aus Papier dabei und hatte das Telefon ausgeschaltet, um die Batterie zu schonen. Sie bewegten sich vorsichtig und leise und Becca betete still um göttliche Führung. Sie hatten doch wirklich genug gelitten, jetzt hatten sie ein bisschen Glück verdient.

Sie schafften es ohne Zwischenfälle nach Kroatien, doch dann wurde es eine mühevolle Wanderung. Die Füße taten ihnen allen weh, sie hatten Muskelschmerzen und einmal verknackste sich ihr jüngerer Sohn den Knöchel und musste eine Strecke lang getragen werden. Die Männer wechselten sich ab und so fielen Djamal und seine Familie nicht zurück, sondern konnten bei der Gruppe bleiben. Es war interessant, dachte Becca, dass diese gemeinsame Flucht die Menschen richtig zusammenschweißte. Sie hatte das Gefühl, dass sie alle in diesen wenigen Tagen zu einer Art Familie geworden waren.

In den Nächten war es noch immer warm und so mussten sie wenigstens nicht frieren. Einmal regnete es heftig, sodass alle bis auf die Knochen nass wurden, aber die Kleidung trocknete auch rasch wieder. Es gab einige unangenehme und einige freundliche Begegnungen mit Einheimischen und Touristen, die auf den gleichen Wegen wanderten, immerhin verriet sie keiner von ihnen an die Polizei.

Zwölf Tage waren sie unterwegs, dann hatten sie Triest erreicht. Alle waren abgemagert und ausgezehrt. Besonders den Kindern sah man die Anstrengungen an, aber alle waren glücklich und erleichtert.

Sie fanden die Busstation und kauften Tickets. Fünfundzwanzig Stunden sollte die Reise dauern und dann würden sie endlich am Ziel sein. Der Bus war komfortabel und hatte WLAN. »Jetzt ist alles gut!«, sagte Djamal, doch Becca war skeptisch. Wie oft hatten sie das im letzten Jahr geglaubt, und dann war es anders gekommen. Sie sollte mit ihren düsteren Vorahnungen recht behalten. In Österreich wurden sie angehalten und kontrolliert. Djamal und seine Familie hatten nicht die notwendigen Papiere und wurden aus dem Bus geholt.

Jetzt saßen wie wieder in einem Aufnahmelager und ein arabischsprachiger Rechtsberater erklärte ihnen, dass sie hier um Asyl ansuchen mussten. Er fragte, ob man ihnen irgendwo anders in Europa schon die Fingerabdrücke abgenommen hatte, aber das konnten sie verneinen. »Na gut, dann kann man euch nicht in ein anderes Land zurückschicken«, teilte er ihnen mit.

Das war vor mehreren Monaten. Nun waren sie in einem Asylwerberheim untergebracht. Die Kinder gingen erstmals in ihrem Leben regelmäßig in die Schule und konnten schon lateinische Schrift lesen und schreiben. Die arabische Schrift hatten sie zwar einmal gelernt, aber schon längst das meiste vergessen, was Djamal erzürnte. Deutsch lernen war schon schwieriger, doch die Kinder bemühten sich. Djamal hingegen weigerte sich, Deutsch zu lernen. Das war Zeitverschwendung, sagte er, er wollte doch Niederländisch sprechen. Richtige Kurse wurden ohnehin nicht angeboten, denn Djamal und Becca waren im Asylverfahren und es war noch nicht klar, ob sie überhaupt bleiben konnten.

Becca versuchte Djamal sanft darauf vorzubereiten, dass sie wohl nie in die Niederlande kommen würden und dass sie sich lieber auf Österreich einstellen sollten, doch er wollte davon nichts hören und wurde manchmal richtig aggressiv. »Was soll ich hier? Ich weiß nichts von Österreich und will da nicht bleiben. Mein Bruder ist in Amsterdam. Da müssen wir hin.«

Auch der Rechtsberater sagte, Djamal müsse mit den Behörden kooperieren, er schade nur sich selbst und seiner Familie mit seinem Trotz und seiner Streitsucht. Doch Djamal war nicht zu beruhigen. Immer wieder schrie er herum, er schimpfte nicht nur auf Frau und Kinder, sondern auch auf die anderen Bewohner und die Betreuer. Immer öfter rutschte ihm die Hand aus, er schlug Becca und die Kinder und wurde mehrere Male von der Heimleitung verwarnt. Einmal kam sogar die Polizei.

Die Sozialarbeiterin des Heimes hatte Becca nach diesem Vorfall zur Seite genommen und ihr erklärt, dass sie auf Wunsch mit ihren Kindern wegziehen könnte. Man würde sie dann weit weg von ihrem Ehemann sicher unterbringen. Sie könnte sich in Österreich auch scheiden lassen. Danach war Becca geschockt. Noch nie hatte sie an Trennung gedacht. Was würde die Familie dazu sagen? Undenkbar. Sie hatte zwar gehört, dass sich in Europa viele Syrerinnen scheiden ließen, aber sie konnte sich das nicht vorstellen. Sie verstand Djamals Frustration und wollte ihm in dieser schweren Zeit beistehen, wie es sich für eine gute Ehefrau gehörte.

Sie waren schon dem Krieg entkommen, hatten gemeinsam die Hölle von Moria und die Schrecken der Balkanroute überstanden. Jetzt gingen die Kinder in die Schule, sie hatten Aussicht auf ein Leben in Frieden, da würde sie die letzten Hürden mit Djamal auch noch nehmen.

Was sollte sie schließlich als geschiedene Frau mit zwei Kindern in einem fremden Land anfangen? Frauen ohne Ehemann lebten ohne Ehre, dachte sie und erinnerte sich an das alte Sprichwort, das ihre Mutter immer zitiert hatte, wenn es um unglückliche Ehefrauen ging: Der Schatten eines Mannes ist besser als der Schatten einer Wand.

Die von Europa träumen

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