Читать книгу Die von Europa träumen - Melita H. Šunjić - Страница 9
ASIF AUS AFGHANISTAN MEIN SOHN SOLL ARBEITEN, STATT IN DER SCHULE ZU SITZEN
ОглавлениеDie ersten fünfzehn Jahre seines Lebens verbrachte Asif in einem Dorf in den Stammesgebieten der Paschtunen im Nordosten Afghanistans. Es ist eine schwer zugängliche, ländliche Gegend mit großen Gehöften. Asif kannte nichts anderes. Die Straßen waren schlecht, Strom gab es nicht und die Landwirtschaft wurde ohne Maschinen betrieben, auch die Kinder halfen mit. Geld war stets knapp.
Wenn die Männer davon sprachen, dass die Taliban wieder die Macht in der Region übernommen hatten, hörte er kaum hin, es betraf ihn nicht.
Asifs Vater hatte drei Ehefrauen und achtzehn Kinder sowie eine wachsende Schar Enkelkinder. Insgesamt lebten mehr als fünfzig Personen auf dem Hof. Als jüngster Sohn wurde Asif von allen gemaßregelt und geprügelt, so war das nun einmal der Brauch. Getan wurde, was der Vater anordnete. Selbst Asifs verheiratete Halbbrüder mussten sich dem Willen des Patriarchen beugen. Als Familienoberhaupt war der für das Wohlergehen der gesamten Großfamilie verantwortlich und setzte alles daran, sie wohlbehalten durch Krise und Geldnot zu manövrieren.
Eine richtige Schule hatte Asif nie besucht, die gab es bei ihnen nicht. Nur wenn es die Sicherheitslage erlaubte, ging er zeitweise in die Medrese, die Koranschule, im nächstgelegenen Dorf, lernte ein paar Koranverse und notdürftig lesen. Mehr brauchte man in seiner Welt ohnehin nicht. Für das Bestellen der Felder ist kein Bücherwissen notwendig. Wenn Bargeld im Haus fehlte, stellten sich die jungen Männer der Familie frühmorgens an bestimmten Kreuzungen an der Landstraße auf und warteten auf Auftraggeber. Dann kamen Bauherren, Großbauern oder Händler und suchten sich ein paar Arbeiter aus. Auch Asif hatte als Tagelöhner schon auf dem Markt Kisten geschleppt und beim Ziegelbrennen mitgeholfen.
Asif hatte einen älteren Bruder, der wäre jetzt schon 18. Doch als er so alt war wie Asif jetzt, wurde er von den Taliban entführt und zum Kämpfen gezwungen. Ein Jahr später war er tot. Seither lebte der Vater in ständiger Angst, dass Asif dasselbe widerfahren könnte, denn die Taliban waren ständig auf der Suche nach jungen Kriegern.
Von der Welt wusste Asif nur wenig, denn er hatte seine Heimatprovinz noch nie verlassen, doch er hat einen Cousin in London, mit dem die Familie manchmal telefonierte. So ein Telefonat war jedes Mal eine schwierige logistische Herausforderung. Der Cousin vereinbarte mit dem »Telefon-Wallah« (in etwa Telefon-Heini, Telefon-Typ) in der dreißig Kilometer entfernten Stadt einen Gesprächstermin. Dieser schickte einen Boten zum Gehöft des Onkels und teilte ihm mit, wann sein Sohn anrufen würde. Zum vereinbarten Termin begab sich der Onkel mit anderen männlichen Familienmitgliedern in die Stadt. Einmal durfte auch Asif mit. Er war fasziniert von den Berichten des Cousins. Dieses London war unvorstellbar groß und reich, es gab viele Autos und Busse. Alle Straßen waren gepflastert, und es gab immer Wasser und Strom. Niemand wurde entführt, alle Kinder gingen in die Schule. Dort gab es immer Arbeit und man verdiente sehr viel Geld. Asifs Cousin bekam als Tellerwäscher achthundert Pfund im Monat, so viel könnte Asif zu Hause in zwei Jahren nicht verdienen.
Der Cousin hatte das zwar nie erwähnt, aber Asif hatte von Freunden gehört, dass die Frauen dort auf die Straße gingen und sich gar nicht bedeckten. Das konnte er sich nicht richtig vorstellen. Er hatte noch nie das Gesicht einer Frau gesehen, die nicht mit ihm verwandt war.
Eines Tages bekam der Vater Besuch von einem wichtigen Mann. Es war der lokale Vertreter eines Reisebüros in der Stadt, und jeder respektierte ihn, denn er wusste alles über die weite Welt. Er war schon viel gereist und half jenen Menschen, die Afghanistan verlassen wollten. Asif ahnte, dass es in dem Gespräch um ihn und seine Zukunft gehen würde, und er sollte recht behalten. Nachdem der Besucher gegangen war, rief ihn der Vater zu sich und teilte ihm mit, dass er schon bald nach London zu seinem Cousin reisen sollte. Der Mann vom Reisebüro würde alles organisieren.
Die Reise kostete umgerechnet siebentausend Euro, doch der Mann hatte angeboten, einen Käufer für ein großes fruchtbares Stück Land und einen Bräutigam für Asifs kleine Halbschwester zu finden. So hatte der Vater das Geld in wenigen Tagen beisammen und hinterlegte es beim Geldwechsler, dem Saraf, auf dem Bazar der Kreisstadt. Dieser fungierte nämlich als eine Art Treuhänder und würde den erlegten Betrag ratenweise an das Reisebüro auszahlen, sobald der Reisende bestimmte Destinationen erreicht hatte.
»Du wirst in einer Gruppe junger Männer mit einem Führer reisen. Mach mir keine Schande«, ermahnte ihn der Vater vor der Abreise. »Es wird einige Wochen dauern, doch dein Cousin wartet schon auf dich. Dieses London ist weit weg, dort können dir die Taliban nichts tun. Außerdem kannst du arbeiten und uns Geld schicken. Wer weiß, vielleicht kannst du auch andere Familienmitglieder nachholen?«
Am Abreisetag brachte der Vater Asif in die nächste Stadt zum Sammelpunkt, er segnete ihn und schärfte ihm ein, stets auf den Führer, den »Onkel« zu hören. Er sollte folgsam und respektvoll sein und ein guter Moslem bleiben.
Der »Onkel« verfrachtete Asif und ein Dutzend weitere Burschen auf die Ladefläche eines Pritschenwagens und sie fuhren in westlicher Richtung los. Ab und zu hielten sie an, um zu essen und sich die Beine zu vertreten, ansonsten verlief die Reise durch Afghanistan ruhig und Asif konnte erstmals in seinem Leben die vielen verschiedenen Landschaften seiner Heimat bewundern. In der Nähe der iranischen Grenze hielten sie an und warteten, bis es finster wurde. Dann übergab der Führer die Gruppe an den nächsten »Onkel«, der sie mit einem Kleinbus abholte. Der neue Führer sprach nur Dari, die zweite afghanische Sprache neben Paschtunisch, und Asif konnte ihn kaum verstehen. Den langen Erklärungen entnahm Asif nur, dass es gefährlich werden konnte und dass sie ganz still bleiben mussten, egal was geschah.
Als die Nacht hereinbrach, pferchte man die Jungen in den viel zu kleinen Minibus. Asif kam ganz unten zu liegen und konnte kaum atmen. Der Bus fuhr offenbar sehr schnell über unebenes Gelände, es ruckelte und rüttelte. Plötzlich hörte man Schüsse, eine Patrone durchschlug den Bus und einer der Burschen schrie auf. Der Bus war von der iranischen Grenzpolizei entdeckt worden, und die schoss immer ohne Vorwarnung, denn die Strecke war berüchtigt als Hauptroute für Drogenhandel und Menschenschmuggel. Der Wagen raste weiter und Asif hatte große Angst. Der neben ihm liegende Bursche blutete und röchelte.
Asif wusste nicht, wie lang die Fahrt dauerte, ihm kam es vor, als wären sie viele Stunden unterwegs gewesen, doch es war noch immer dunkel, als sie bei einem abgelegenen Gebäude anhielten und ausstiegen. Der schwer verletzte Bursche wurde fortgetragen und Asif sah ihn nie wieder.
In dem Haus bekamen sie zu essen und konnten auf Matratzen schlafen. Nur der jüngste von ihnen, ein kleiner Bub von rund zwölf Jahren, wurde vom »Onkel« weggebracht und kam verstört und weinend nach mehreren Stunden wieder zurück. Er wollte nicht sagen, was mit ihm geschehen war. Am nächsten Abend ging die Reise weiter. Dieser Ablauf wiederholte sich mehrere Tage, bis sie eine Gebirgslandschaft erreichten. Ihr Führer erklärte ihnen, dass es sich um das Van-Gebirge handelte, das den Iran von der Türkei trennte.
Am Abend kam ein neuer »Onkel« an, der sie zu Fuß über die Gebirgspässe führen würde. Er händigte ihnen auch Jeans und T-Shirts aus. »Zieht euch um. Mit euren afghanischen Kleidern fallt ihr in der Türkei gleich auf. Lasst sie da, die braucht ihr jetzt nicht mehr«, sagte der Führer. Asif fand das sehr aufregend. Er hatte noch nie etwas anderes getragen als das traditionelle paschtunische Kamis Partoog, bestehend aus Pluderhosen und langer Tunika aus demselben hellen Stoff. Die neue Hose war ihm zwar zu groß, aber er kam sich trotzdem richtig schick und westlich vor.
Ihre nächtliche Wanderung führte sie durch unwegsames steiles Gelände. Es war kalt und sie froren, denn die Kleidung war viel zu dünn hier in den schneebedeckten Bergen. Als einer der Burschen sich den Fuß verrenkte, mussten ihn die anderen abwechselnd stützen, was den Aufstieg noch mühsamer machte. Ihr Führer war nervös und trieb sie ständig zur Eile an. Immer wieder schlug er vor, den Verletzen einfach zurückzulassen, weil sie seinetwegen zu langsam vorankamen, »sonst erwischt uns alle die Grenzwache«. Doch die jungen Männer setzten sich gegen den Führer durch. »Wir lassen ihn nicht liegen«, sagten sie. Die Pausen, die sie einlegen durften, waren kurz und sie hatten nichts zu essen dabei. »Weiter, weiter!«, mahnte der neue »Onkel« pausenlos.
Unterwegs entdeckten die Wanderer plötzlich eine Kinderleiche am Wegrand. Das kleine Mädchen sei während der Nacht erfroren und man habe es zurücklassen müssen, erklärte der »Onkel«. Ein Bursche, der Dari konnte, übersetzte es für die Paschtunen.
Asif hatte keine Zeit, über das Schicksal des Kindes nachzudenken. Der Abstieg war schwierig und in seinen Gummischlappen musste Asif sich bei jedem Tritt konzentrieren, um nicht abzustürzen. Bald war er so erschöpft, dass er nur wie in Trance einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Wenigstens ließ die Kälte nach.
Endlich kamen sie zu einer versteckt gelegenen Hütte, wo es Kekse und Wasser gab. Eine andere Gruppe junger Afghanen war schon dort und wartete auf den Weitertransport. Jetzt hatten sie das Schlimmste hinter sich, dachte Asif und fühlte sich euphorisch. Endlich im Warmen und ausgestreckt schlafen dürfen, selbst wenn die Matratze stank.
Als er aufwachte, spürte Asif die Unruhe in der Gruppe. Ein neuer Führer hätte schon längst kommen und die erste Gruppe abholen sollen. Es gab kaum noch etwas zu essen. Ihnen war eingeschärft worden, dass sie die enge Hütte nicht verlassen durften und Aggression machte sich breit. Zwei Burschen prügelten sich, ohne dass jemand nachher hätte sagen können, warum der Streit ausgebrochen war. Am dritten Tag vernahmen sie endlich das Geräusch herannahender Autos und hofften, dass es nicht türkische Grenzsoldaten waren.
Zum Glück waren es die »Onkel« für den türkischen Abschnitt. Sie kamen in mehreren Pkws, die so präpariert waren, dass die Burschen im Kofferraum und unter den Sitzbänken versteckt werden konnten. Unter Stöhnen und Schreien wurde die erste Gruppe in die Verschläge gezwängt und fuhr ab. Asif und seine Gruppe hatten Proviant bekommen und mussten sich noch einen Tag gedulden. Dann wurden auch sie abgeholt und waren drei Nächte unterwegs. In wechselnde Fahrzeuge gezwängt und über Nebenstraßen holpernd erreichten sie schließlich Istanbul und Asif erblickte zum ersten Mal in seinem Leben das Meer. Es war gleichzeitig schön und angsteinflößend.
In dem Istanbuler Vorort durften sich die Burschen frei bewegen und Asif traf in den Straßen auf viele andere junge Afghanen. Sie zeigten ihm die Stadt, von der er sich überwältigt fühlte. So viele Menschen, Häuser und Fahrzeuge auf einmal hatte er noch nie gesehen. Einige seiner neuen Freunde waren schon länger in der Türkei. Bei manchen reichte das Geld nicht für die Weiterreise, andere waren von ihren Schleppern betrogen und im Stich gelassen worden. Nicht alle kamen direkt aus Afghanistan. Manche waren in Flüchtlingslagern im Iran aufgewachsen und von dort davongelaufen, als die Iraner sie zwingen wollten, nach Syrien kämpfen zu gehen.
Einige brachten sich mit Gelegenheitsjobs durch. Andere, vor allem die ganz jungen, verkauften ihren Körper, um zu überleben. Zwischen fünf und zehn Euro zahlten die Freier für ihre Dienste. Das reichte kaum fürs Überleben. Es würde also lange dauern, bis sie genug Geld ersparen konnten, um die Weiterreise zu bezahlen.
Von seinen neuen Freunden erfuhr Asif auch, dass es zwei Möglichkeiten gab, um in dieses sagenumwobene Europa zu gelangen: auf einem kleinen Boot über das Meer oder auf dem Landweg. Der Gedanke an eine Bootsfahrt entsetzte ihn, denn er konnte nicht schwimmen und hatte panische Angst vor dem Wasser. Zurück in der Unterkunft beruhigt ihn der hiesige »Onkel«. Asif und seine Gruppe würden auf dem Landweg nach Europa reisen.
In einem Telefonshop meldete sich Asif beim »Telefon-Wallah« seines Kreisstädtchens und bat ihn, seinem Vater auszurichten, dass alles in Ordnung war und dass er sich in Istanbul befinde. Sein Taschengeld war nun zur Gänze aufgebraucht, doch zum Glück hatte Asifs Vater eine ausreichende Summe für die gesamte Reise beim Saraf hinterlegt. Die Schlepper würden ihn also weiterbringen, er würde nicht in Istanbul festsitzen.
Nach zwei Wochen war es so weit. Die Schlepper stellten eine neue Reisegruppe aus rund zwanzig Jugendlichen und jungen Männern zusammen. Sie wurden in einen Fernlaster verfrachtet, der hinter dem Ladegut einen engen Verschlag eingebaut hatte, wo sie mit Mühe Platz fanden. Es war heiß und stickig, und die Fahrt dauerte viele Stunden. Trotzdem war Asif froh, dass er nicht in ein Boot steigen musste. Auf einsamen Parkplätzen durften die Passagiere einzeln das Versteck verlassen, um etwas zu essen und ihre Notdurft zu verrichten, dann ging es weiter durch Europa, Kilometer um Kilometer.
Als ein junger Mann in ihrem Verschlag einen Asthmaanfall bekam und nach Luft rang, wagte es niemand, Alarm zu schlagen und den Fahrer zu rufen, auch nicht, als der Bursche das Bewusstsein verlor. Die Angst vor Entdeckung durch die Polizei war zu groß.
Plötzlich hielt der Wagen abrupt an, die Reisenden hörten Lärm und Geschrei. Die Schritte und Stimmen kamen immer näher. Hundegebell war zu vernehmen. Dann wurde der Verschlag aufgerissen, doch Asif konnte zunächst gar nichts erkennen, zu geblendet war er vom Sonnenlicht. Erst nach und nach begriffen sie, was geschehen war. Die Polizei hatte den Wagen bei einer Stichprobe kontrolliert und das Geheimversteck entdeckt. Die jungen Männer taumelten benommen heraus. Als sich ihm ein großer Hund mit gefletschten Zähnen näherte, nässte sich Asif vor Angst ein.
Langsam ebbte das Geschrei ab. Der bewusstlose Junge wurde auf eine Trage gelegt und weggebracht. Den Fahrer führte man in Handschellen ab. Asif und seine Mitreisenden wurden in einen Polizeibus verladen. Man sei in Frankreich, behauptete einer der Burschen, der in seiner Heimatprovinz oft französische Truppen sprechen gehört hatte und glaubte, die Sprache zu erkennen. Wo und was Frankreich war, wusste Asif nicht, aber er begriff, dass er es wohl nicht schaffen würde, bis zu seinem Cousin in London durchzukommen.
Die Gruppe wurde in eine Art Gefängnis gebracht. Man gab ihnen zu essen und zu trinken, aber Asif wusste nicht, ob Schweinefleisch oder Alkohol dabei waren, und wollte zunächst gar nichts zu sich nehmen, obwohl er großen Hunger hatte. Erst als er die anderen essen sah, griff auch er zu. Dann saßen sie in dem versperrten Raum und warteten viele Stunden, bis ein Dolmetscher auftauchte. Einer nach dem anderen musste seinen Namen und seinen Geburtsort nennen. Die meisten Afghanen kennen ihr genaues Geburtsdatum nicht und können nur sagen, wie alt sie sind. Die Polizisten nahmen ihnen die Fingerabdrücke ab. Sie gingen grob mit den Burschen um, schlugen sie aber nicht, wie es die Polizei in Afghanistan wohl getan hätte. Dieses Europa ist ja doch ein besserer Ort, dachte Asif.
Er und die anderen Jugendlichen wurden von den über Achtzehnjährigen getrennt und weggebracht. Ein Bub begann zu weinen. Er war erst dreizehn Jahre alt und wollte bei seinem volljährigen Bruder bleiben, doch das erlaubte man ihm nicht.
Die kleine Gruppe wurde wieder in einen Wagen geschafft und zu einem Aufnahmezentrum für Minderjährige gebracht. Dort bekam jeder sein eigenes Bett und frische Kleidung zugeteilt. Man zeigte ihnen, wo sie duschen konnten, und erklärte, dass sie sich ausruhen sollen. Irgendjemand sagte ihnen noch, dass dieses Land Belgien sei und nicht Frankreich. Dann schlief Asif übermüdet und verunsichert ein.
Am nächsten Morgen begann ein ganz neues Leben für Asif. Er war in einem Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, aber was das war, verstand er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Andere afghanische Heimbewohner erzählten ihm, dass es einem hier recht gut gehe. »Demnächst werden sie dich fragen, was du in Europa willst, dann musst du sagen, du willst Asyl«, erklärte ihm sein neuer Zimmergenosse Rasul. Er war siebzehn Jahre alt und schon seit zwei Monaten hier. Es gefiel ihm gut. Man sprach tatsächlich Französisch, und Rasul war dabei, die Sprache zu lernen. »Wer hier wohnt, geht in die Schule. Da muss ich jetzt auch hin«, sagte er und ging mit seinem Rucksack davon.
Am Nachmittag erfuhr Asif mehr über seine neue Lage. »Bis du 18 bist, werden sie dich sowieso dabehalten. Aber dann können sie dich nach Afghanistan zurückschicken, wenn du dieses Asyl-Papier nicht bekommst. Das kann viele Monate dauern«, erklärte ihm sein Zimmergenosse. »Sie werden dich fragen, warum du gekommen bist, und du musst ihnen sagen, wie gefährlich es bei dir zu Hause ist«, instruierte er ihn.
Als Asif fragte, ob er arbeiten und Geld verdienen könne, wurde er enttäuscht. Nein, das sei nicht erlaubt. »Außerdem kannst du hier nicht einfach auf der Straße nach Jobs suchen wie daheim«, erzählte Rasul.
Allerdings bekam man hier ein wenig Taschengeld, und davon hatte sich Rasul schon eines dieser tollen Telefone gekauft. Es war ein gebrauchtes, aber man konnte damit kostenlos anrufen, wenn der andere auch so ein Telefon hatte. Rasul telefonierte täglich mit seinem Bruder in Schweden. Man konnte ihn sogar auf dem kleinen Bildschirm sehen, wenn man mit ihn sprach. Auch Fotos konnte man mit diesem Telefon machen oder Musik hören. »Im Heim gibt es WLAN«, sagte Rasul. Asif wusste zwar nicht, was das war, aber es schien wichtig zu sein und er wollte möglichst bald so ein Mobiltelefon besitzen. Nach und nach gewöhnte sich Asif an das Leben im Heim. Er bekam eine gesetzliche Vertreterin, eine nette junge Frau, die ihn regelmäßig besuchte und versuchte herauszufinden, warum er da war und was das Beste für ihn wäre. Anfangs war es irgendwie peinlich für ihn, einer unbekannten und unbedeckten Frau ins Gesicht zu sehen, weil man so etwas eigentlich nicht darf. Doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, Frauen und Mädchen zu sehen, doch er sprach nie mit seinen Klassenkameradinnen, wenn es sich vermeiden ließ. Wenn sie in der Stadt spazieren gingen, sprachen einige seiner Freunde sogar fremde Mädchen an, aber das kam Asif doch sehr unschicklich vor. Oft saßen sie im Park, tranken Red Bull und besprachen, was die Zukunft ihnen wohl bringen würde.
Asif begriff, dass er mehrere Monate auf ein eigenes Telefon sparen musste, doch vorläufig hatte er seiner Familie die Telefonnummer von Rasul mitgeteilt und einmal im Monat rief sein Vater an. Das war jedes Mal ein großer Stress für Asif, denn es gehörte sich nicht, dem Vater zu widersprechen. Doch der verlangte Unmögliches: Warum Asif denn nicht weiter nach London reise, wie geplant? Warum er Zeit mit Schule vertrödle. Er sei ein gesunder junger Mann und solle doch lieber arbeiten und Geld nach Hause schicken. Schließlich habe er, der Vater, große Opfer für seinen Sohn gebracht. Asif wusste nicht, wie er seinem Vater verständlich machen konnte, dass das hier in Belgien ganz anders lief.
Als er eines Tages über einen WhatsApp-Videoanruf mit dem Vater telefonierte, kam es zu einem großen Streit, denn der Vater sah, dass sein Sohn sich eine dieser modischen Undercut-Frisuren zugelegt hatte und westliche Kleidung trug. Asif bringe Schande über die ganze Familie, das sei unislamisch, schrie der Vater ihn an.
Asif war so eingeschüchtert, dass er beschloss, sein gesamtes angespartes Taschengeld nach Afghanistan zu schicken, um den Vater zu versöhnen. Er schwänzte einige Tage lang die Schule und versuchte, Arbeit zu finden. Dafür wurde er von seiner Rechtsvertreterin zurechtgewiesen und drehte vollends durch. An diesem Abend trank er zum ersten Mal in seinem Leben Alkohol, den einige seiner Freunde regelmäßig konsumierten. Am nächsten Tag war ihm elend und er fühlte sich noch schuldiger. Wem sollte er es recht machen und wie?
Auch Rasul war in diesen Tagen am Boden zerstört. Einer seiner Weggefährten hatte sich in Dänemark umgebracht, weil er depressiv war. Es war schon der zweite Selbstmord eines Freundes. Der andere war vor einen Zug gesprungen, als er abgeschoben werden sollte.
Nach einigen Monaten erhielt Asif einen negativen Asylbescheid und verfiel gänzlich. Eine Woche lang wollte er sein Bett nicht verlassen. Doch letztlich überzeugte ihn seine Rechtsvertreterin, dass sich vorläufig nichts an seiner Lage ändern würde. Sie berief in seinem Namen gegen die Entscheidung und Asif begann wieder die Schule zu besuchen und bemühte sich, besser Französisch zu lernen. Lateinische Schrift lesen und schreiben konnte er mittlerweile schon ganz gut.
An den Wochenenden traf er sich mit afghanischen Freunden im Park, aber von den Mädchen hielt er sich noch immer fern. So gingen zwei Jahre ins Land. Er hatte sich gut integriert und fühlte sich durchaus wohl im Heim. Stress bereiteten ihm nach wie vor die Telefonate mit seinem Vater, deswegen rief er ihn immer seltener an. Nun aber war er auf Facebook aktiv und korrespondierte mit seinen afghanischen Freunden in Istanbul und Europa auf Paschto, aber in lateinischer Schrift. Das fiel ihnen allen schon leichter als das ordnungsgemäße arabische Alphabet.
Woran sich Asif nicht gewöhnen konnte, war das Alleinsein. Aufgewachsen in einer Großfamilie mit mehreren Dutzend Mitgliedern empfand er sein neues Einzelzimmer nicht als Vergünstigung, sondern als Belastung. Und weil es vielen anderen jungen Afghanen in Europa ebenso erging, hatten sie sich etwas ausgedacht, das die Einsamkeit abmilderte. Im WLAN des Asylheims hatte Asif permanent die WhatsApp-Videofunktion seines Handys aktiviert und war so ständig mit mehreren Freunden verbunden. Egal ob einer schlief, seine Schulaufgaben machte oder aß, sie konnten einander immer sehen. Auf diese Weise fühlte es sich fast ein wenig an wie das Zusammenleben mit den vielen Geschwistern zu Hause.
In der Schule hatte Asif noch viel nachzuholen, aber er strengte sich jetzt wirklich an. Er wollte nämlich gerne Automechaniker werden. Autos hatten ihn immer schon fasziniert. Er dachte nicht darüber nach, dass er vielleicht gar nicht in Europa bleiben würde können, denn beim Gedanken an Rückkehr bekam er Magenschmerzen. Erstens fürchtete er sich vor der Reaktion des Vaters, zweitens würde er sich in Afghanistan gar nicht mehr wohlfühlen. Europa war so anders, so frei und sicher, und es gefiel ihm viel besser. Bald würde er volljährig sein. Sollte sein Asylantrag endgültig abgelehnt werden, würde er es machen wie einige Bekannte. Er würde untertauchen und versuchen, sich doch noch nach London durchzuschlagen. Dort würde sein Cousin ihm schon weiterhelfen.