Читать книгу Die von Europa träumen - Melita H. Šunjić - Страница 8
VORWORT
ОглавлениеIn der Migrationsdebatte geht es stets nur darum, wie sich die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten auf unsere Gesellschaft auswirkt. Stellt die Ankunft dieser Menschen eine humanitäre Verpflichtung und kulturelle Bereicherung dar oder eine Gefahr und einen schleichenden Identitätsverlust für Europa? Es ist eine durch und durch eurozentristische Debatte.
Nie fragen wir uns, wie es den Betroffenen selbst geht. Was bedeutet der Massenexodus von jungen Leuten für die Familien daheim und für die Herkunftsländer? Und welchen emotionalen und monetären Preis zahlen die Migrierenden selbst? Von welchem Europa haben sie zu Hause geträumt und was davon haben sie tatsächlich vorgefunden?
Man sollte nicht nur über Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten reden, sondern auch mit ihnen. Ich habe im Laufe der letzten zehn Jahre an die zweitausend Asylsuchende aus Ost- und Westafrika, aus dem Nahen Osten und aus Afghanistan selbst interviewt beziehungsweise Protokolle solcher Gespräche meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelesen. Diese Gespräche fanden vor der Abreise, auf der Reise und nach der Ankunft statt. In den sozialen Medien habe ich den Austausch zwischen Schleppern und ihren potenziellen Kunden untersucht, um zu begreifen, wie deren Transaktionen ablaufen. Opfer von Menschenhändlerringen haben mir erzählt, wie sie angelockt und betrogen wurden. Überlebende von Bootsunglücken im Mittelmeer haben ihre Erlebnisse geschildert und in Europa lebende anerkannte Flüchtlinge haben beschrieben, wie sie sich hier fühlen und was von ihren Träumen übrig geblieben ist.
Dieses Buch enthält neun Kurzgeschichten über Männer und Frauen, die auf irreguläre Weise nach Europa gekommen sind. Die Texte porträtieren keine real existierenden Einzelpersonen, trotzdem ist nichts darin erfunden. Alle Details stammen aus Interviewprotokollen und sind tatsächlich Menschen widerfahren. Ich habe die typischen Beispiele nur neu zusammengesetzt, um die Vertraulichkeit der Interviews nicht zu verraten.
Seit Jahren nervt mich überdies, dass die Migrationsdebatte polarisiert und sehr emotional, aber ohne Sachkenntnis geführt wird. Begriffe werden durcheinandergewirbelt und diese hochkomplexe, facettenreiche Thematik wird sozusagen in Schwarz-Weiß diskutiert, ohne Rücksicht auf die vielen Zwischentöne. Es ist ein fruchtloser Austausch von ideologisch geprägten Justament-Standpunkten, der sich in einer Endlosschleife wiederholt, ohne Lösungen hervorzubringen.
Daher schließen sich an die Lebensgeschichten der Betroffenen mehrere Sachkapitel an, in denen die wichtigsten Aspekte der Migrationsdebatte allgemein verständlich erklärt und begründet und Lösungen aufgezeigt werden.
Ende 2019 beschloss ich, mein Wissen nicht länger nur mit Forscherinnen und Forschern in sogenannten »Experteninterviews« zu teilen, sondern es auch einer breiteren Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Der Picus Verlag hat meinen Vorschlag für ein Buch spontan angenommen und trotz Coronakrise an dem Projekt festgehalten, wofür ich dankbar bin.
Wien, im Dezember 2020