Читать книгу Die von Europa träumen - Melita H. Šunjić - Страница 11

BERHANE AUS ERITREA DIE ZUKUNFTSANGST ALS STÄNDIGE BEGLEITERIN

Оглавление

Drei Jahre hatte Berhane auf dieses Asylinterview gewartet. Jetzt saß der zweiundzwanzigjährige Eritreer vor dem Beamten und der Dolmetscher übersetzte die Frage: »Warum sind Sie nach Italien gekommen? Was hat Sie bewogen, Ihre Heimat zu verlassen?« Berhane hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde, er hatte sie erwartet und sich seine Antwort zurechtgelegt. Trotzdem traf sie ihn wie ein Keulenschlag und er begann haltlos zu weinen. Berhane erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste ärztlich versorgt werden. Das Interview wurde abgebrochen. Berhane hatte sehr lange auf dieses Asylinterview gewartet, und jetzt konnte es wieder ewig dauern, bis er einen neuen Termin bekam.

Als er von seiner Beruhigungsspritze im Bett des Asylwerberheims aufwachte, schämte er sich. Man zeigte seine Gefühle nicht so offen, schon gar nicht vor Fremden. Aber die Frage hatte so vieles in ihm aufgewühlt und an die Oberfläche geschwemmt.

Er dachte zurück an Eritrea. Seine beiden älteren Brüder waren zum Militär eingezogen worden und nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Der eine wurde seit fünf Jahren in einem Bergwerk weit weg von seiner Heimatstadt als billige Arbeitskraft eingesetzt. Sein Militärdienst wurde immer wieder »verlängert«. Als Rekrut musste er von einem geringen Taschengeld leben. Er konnte weder studieren, wie er es vorgehabt hatte, noch seine Verlobte heiraten.

Sein zweiter Bruder war erst vor zwei Jahren eingezogen worden, doch auch seinen Dienst hatten sie verlängert. Er war als Verwaltungskraft in einer Kaserne eingesetzt, aber wenigstens in derselben Stadt wie die Familie.

An Berhanes 17. Geburtstag war ihm nicht nach feiern zumute gewesen. Er hatte Angst vor der Zukunft in Eritrea. Doch er hatte von Europa gehört, davon, wie wunderbar es dort war. So beschloss er, wegzugehen, wie es viele seiner Altersgenossen getan hatten. Nur wenige seiner Freunde besaßen ein Smartphone, aber er hatte doch einige Bilder gesehen, und am meisten hatte ihn ein Selfie beeindruckt, auf dem hinter einem jungen Eritreer eine Straßenszene in Paris zu sehen war. Unter anderem sah man darauf eine freundliche Frau mit einem Hund spazieren gehen. Dort wollte er auch hin, da waren die Leute sicher nett und hilfsbereit und man lebte in Freiheit.

Was hätte Berhane also dem Asylbeamten antworten sollen? »Ich bin gekommen, weil ich ein drohendes Übel gegen das Paradies eintauschen wollte. Und in Wirklichkeit habe ich ein bekanntes Übel durch viele unerwartete und unbekannte Übel ersetzt.« Er stellte sich oft und oft die Frage, ob er richtig gehandelt hatte, ob er gegangen wäre, wenn er gewusst hätte, was auf ihn wartete. Aber er kam zu keinem endgültigen Urteil. Er hatte in Europa noch keinen einzigen Eritreer getroffen, der seine Entscheidung nicht viele Male bereut hatte. Andererseits kannte er keinen Eritreer zu Hause, der zufrieden war und nicht darüber nachdachte, wegzugehen. Es schien ihm manchmal, als könnte man als Eritreer auf Erden nirgendwo glücklich werden.

Zwei Tage nach seinem 17. Geburtstag verabredete sich Berhane mit einigen Freunden. Sie würden sich auf eigene Faust bis Kassala im Osten des Sudan durchschlagen. Dort war es leicht, Schlepper zu finden, die einen weiterbringen würden. Und so war es auch. Ein wenig Geld für die Reise hatte er sich von einem wohlhabenden Verwandten ausgeborgt und war frohen Mutes, dass das für den Schlepper reichen würde.

Sie fanden einen sudanesischen »Reiseleiter« und konnten schon am nächsten Tag in einer größeren Gruppe ihre Reise antreten. Sie gingen zu Fuß und es kostete gar nicht viel. Man marschierte bei Nacht und schlief bei Tag. In Omdurman bekamen sie zwei Tage zum Rasten, dann ging es weiter, in die Sahara. Es war zwar beschwerlich, aber daran stieß Berhane sich nicht, das hatte er erwartet. Die ersten Zweifel stiegen in ihm erst auf, als er entlang des Pfades Leichen und Autowracks liegen sah. Waren das tote Schlepper und ihre Kunden? Der »Reiseleiter« wollte dazu nichts sagen.

Zweieinhalb Tage später kamen der Reisegruppe die libyschen Menschenschmuggler entgegen. Ihre Rucksäcke sowie die Vorräte an Wasser und Nahrung wurden auf einen Kleinlaster geladen. Sie selbst bestiegen einen Lkw, auf dem sich schon andere Somalier und Eritreer befanden und fuhren los.

Einige Stunden döste Berhane vor sich hin, als plötzlich Schüsse zu hören waren. Eine ägyptische Grenzpatrouille hatte sie entdeckt und angegriffen. Die Schlepper erwiderten das Feuer und es kam zu einer regelrechten Verfolgungsjagd. Schließlich befahlen die libyschen Schlepper allen Passagieren abzusteigen und rasten mit dem leeren Lastwagen und dem Kleinlaster mit dem Gepäck davon. Die Reisenden ließen sie einfach zurück, mitten in einem Meer aus Sand, ohne Wasser und ohne Nahrung.

Einige der Mitreisenden waren von den Kugeln getroffen worden. Insgesamt gab es acht Tote und siebzig Überlebende, von denen einige verletzt waren. Die Gruppenmitglieder bemühten sich, alle Toten zu identifizieren. Jene, die einen von ihnen kannten, versprachen, deren Familien zu verständigen, sobald es nur ging. Einige der Toten waren keinem in der Gruppe bekannt.

Mit bloßen Händen schaufelten die Männer Gräber im Sand und bestatteten die Toten so gut sie konnten. Sie waren mitten in der Sahara und einigten sich, dass es besser war, an Ort und Stelle auf die Rückkehr der Schlepper zu warten als planlos durch die Wüste zu irren. Es sollte noch über eine Woche dauern, bis man sie abholte. Jeden Tag begruben sie weitere Reisegefährten und bemühten sich, deren Namen und Heimatstädte auswendig zu lernen, denn sie hatten nichts zum Schreiben. Mit Galgenhumor bemerkte ein Äthiopier unter ihnen, dass hoffentlich der mit dem besten Gedächtnis am längsten überleben würde. Wer es über sich brachte, trank seinen eigenen Urin, um nicht zu verdursten.

Nach mehreren Tagen kam man sie endlich abholen. Die Überlebenden hörten das lang ersehnte Motorengeräusch schon aus der Ferne und freuten sich auf einen Schluck Wasser. Doch die Libyer brachten weder Wasser noch Nahrung. Im Gegenteil, schreiend befahlen sie der Gruppe aufzusteigen und schlugen jene, die zu schwach waren, um sich schnell zu bewegen. Erst am Abend bekamen sie notdürftige Verpflegung. Am folgenden Tag setzte sich die Höllenfahrt fort.

Als sie sich endlich der Küste näherten, mussten die Passagiere besser versteckt werden, um nicht an einer der vielen Straßensperren entdeckt zu werden. Sie wurden in den doppelten Boden eines Viehtransporters gepfercht. Obenauf wurden Schafe transportiert, die ihre Notdurft über ihnen verrichteten. Als einer sich beschwerte, feixte einer der Bewacher, dass sie es noch gut erwischt hätten. »Wir wollen ja, dass ihr überlebt.« Noch wenige Wochen zuvor waren Migranten in Betonmischern transportiert worden, bis die Polizei draufkam, sagte er. Bei einer Kontrolle bestanden die Polizisten darauf, dass der Fahrer den Mischer einschaltete. Auf diese Weise wurden die »Kunden« zu Tode gequetscht und deshalb habe man sich nun diese neue Transportmethode ausgedacht.

So fuhren sie unter der Schafherde nach Ajdabiya zu einer aufgelassenen Fischhalle. Dort sperrte man sie ein. Die Frauen bekamen ein wenig mehr zu essen, die Männer oft nur einen Teller Pasta zu fünft oder sechst. Es stank nach Fisch und Fäkalien und alle waren ständig schwach vor Hunger und Durst.

Die Bewacher forderten Geld, und wer keines aufbringen konnte, wurde geschlagen. Berhane konnte sich noch gut an einen sehr jungen Äthiopier erinnern, auf den sie so heftig mit Stöcken einschlugen, dass sein Körper über und über mit offenen Wunden bedeckt war.

Die fünf Frauen in ihrer Gruppe wurden wieder und wieder vergewaltigt, manchmal vor aller Augen und Berhane schauderte bei dem Gedanken, womit die Männer sie wohl auch noch angesteckt hatten.

Eines Tages stahl ein Somalier einem Bewacher eine Zigarette. Der bemerkte es und schlug ihn mit einer Schaufel so fest ins Genick, dass er tot zusammenbrach. Seinen Freund, der protestieren wollte, schlug er ebenfalls mit der Schaufel über das Gesicht. Er starb nach einigen qualvollen Stunden. Diese schrecklichen Bilder ließen Berhane nie ganz los.

Die Libyer verlangten von den Migranten sehr viel Geld, um sie gehen zu lassen. Aus Reisenden waren Geiseln geworden. Berhane kontaktierte seine Familie in Eritrea und einen Onkel in Kanada und konnte sich so die Hälfte der weiteren Reisekosten ausborgen. Mit den Schleppern konnte er nach langem Tauziehen vereinbaren, dass er für den Rest des Geldes arbeiten würde. Er sollte die Halle kehren, die Toiletten putzen und die Matratzen auf dem Boden zwischen den Schichtwechseln reinigen. Zwei Jahre lang.

Es war die Hölle für Berhane. Er wurde Zeuge von Misshandlungen und Vergewaltigungen, bekam selbst viele Prügel ab und sah viele Menschen vor seinen Augen sterben. Dabei war er gerade einmal achtzehn Jahre alt. Er überlebte diese Zeit nur, indem er sich abends an einen anderen Ort träumte. Er würde nach Frankreich kommen und eine freundliche Dame mit einem Hündchen treffen. Sie würde ihn aufnehmen wie einen Sohn. Er hätte ein Zimmer, könnte in die Schule gehen und einen Beruf erlernen. Dann würde er arbeiten, seine Schulden abbezahlen und ab und zu mit dem Hündchen spazieren gehen. Mit solchen Fantasiebildern überlagerte Berhane abends die Erinnerungen an die Schrecken des Tages.

Schließlich hatte Berhane den Rest des Lösegelds abgearbeitet und konnte die Reise über das Mittelmeer antreten. Mit kleinen Booten brachten die Schlepper sie zu einem größeren Schiff. Vierhundertsiebzig Leute, darunter sechsunddreißig Kinder waren auf dem Boot. Sie kamen aus verschiedenen Ländern Afrikas, doch eines hatten sie alle gemeinsam: die Angst vor dem Meer. Sie wurden auf zwei Decks untergebracht, Berhane kam auf das obere Deck. Das Unterdeck war nur durch eine kleine Luke zu erreichen und er dachte bei sich, dass sich von den Passagieren wohl kaum einer retten würde können, falls das Boot sank.

Sechzehn Stunden fuhren sie über das Meer. Was als mondhelle und windstille Nacht begonnen hatte, wurde zu einem stürmischen und regnerischen Vormittag. Das Boot schlingerte auf den Wellen und die Menschen schrien vor Angst. Einmal zog ein großes Schiff an ihnen vorbei, aber es half ihnen nicht. Nach einer weiteren Stunde tauchte aus dem Grau des Unwetters ein Fischerboot auf, nahm sie in Schlepptau und brachte sie nach Lampedusa.

Italien! Endlich! Die meisten Menschen auf dem Boot weinten vor Erleichterung, auch Berhane rannen die Tränen übers Gesicht, als sie ausstiegen.

Sie bekamen zu essen und zu trinken. Menschen in orangefarbenen Westen versorgten die Kranken und registrierten die Namen der Neuankömmlinge. Sie hatten freundliche Augen, mehr sah Berhane nicht von ihren Gesichtern, denn sie trugen Mundschutz. Angesichts des Gestanks konnte er es ihnen nicht verübeln.

Noch am selben Tag wurden die meisten Neuankömmlinge aufs Festland gebracht, auch Berhane. Mit Bussen transportierte man sie in eine nahe gelegene Stadt, zu einem Aufnahmelager. Dort mussten sie sich anstellen, um registriert zu werden. Bald machte unter den Wartenden das Gerücht die Runde, dass man ihnen hier die Fingerabdrücke abnehmen würde. Das war nicht gut und Berhane begann vor Angst zu schwitzen. Er wusste, dass man in Italien bleiben musste, wenn sie die Fingerabdrücke einmal hatten. Wer weiterzog, wurde angeblich wieder nach Italien zurückgeschickt. Davon hatten viele Mitreisende auf dem Schiff gesprochen. Einige sagten sogar, man sollte sich am besten die Fingerkuppen verbrennen oder mit einer Rasierklinge abschneiden. Berhane würde so etwas nicht über sich bringen, das wusste er. Allerdings wollte er auch nicht in Italien bleiben. Er wollte doch unbedingt nach Frankreich, dieses Land, das er sich seit dem Selfie auf Facebook so schön vorstellte.

Zusammen mit zwei anderen Eritreern, die er auf der Bootsfahrt kennengelernt hatte, fasste Berhane einen Entschluss. Man würde einen günstigen Moment abwarten und sich aus dem Staub machen. Als dann am Beginn der Warteschlange ein Geschrei ausbrach und das Aufsichtspersonal nach vorne eilte, schlichen sich etliche Wartende davon, so auch er und seine Freunde. Sie mussten nach Norden, er nach Frankreich, die anderen beiden wollten in die Schweiz beziehungsweise nach Deutschland, weil sie dort Verwandte hatten.

Einer der Burschen besaß ein Smartphone und hatte Landkarten von Italien heruntergeladen, die man offline benutzen konnte, und so marschierten sie entlang einer Hauptverkehrsstraße los. Es war unglaublich. Sie kamen durch Dörfer, wo die Menschen sie freundlich grüßten. Eine alte Frau winkte sie zu sich und gab ihnen einen warmen Laib Brot, den sie wohl gerade aus dem Backofen genommen hatte, sowie eine Flasche Wasser. Wie wunderbar doch die Menschen in Europa waren, dachte Berhane. In der nächsten Stadt fanden sie die Busstation und fuhren los. Gemeinsam reisten sie nach Bologna, dort trennten sich ihre Wege. Berhane wollte über Genua zum Grenzübergang Ventimiglia. Das sei der beste Weg nach Frankreich, stand auf den eritreischen Facebook-Seiten.

In Genua hatte Berhane kein Geld mehr, doch am Bahnhof traf er Landsleute, die ihm erzählten, wo er am Markt Kisten schleppen und etwas verdienen konnte. So arbeitete er am Tag und schlief nachts im Park, bis er das Geld für die Busfahrkarte beisammenhatte. Ein Eritreer riet ihm, es erst mit Autostopp zu versuchen, um Geld zu sparen. Und tatsächlich blieb ein Lastwagen stehen und der Fahrer nahm ihn mit. Diesmal musste er nicht unter Schafen kauern wie in Libyen, sondern durfte neben dem Fahrer in der Kabine sitzen. Berhane war in Hochstimmung. Ein Gespräch scheiterte an Sprachbarrieren, doch der Fahrer schenkte ihm eine Flasche Mineralwasser.

Einige Kilometer vor der Grenze bedeute ihm der Fahrer, dass er nun aussteigen müsse, und wies ihm die Richtung und sagte etwas von Polizei. Berhane bedankte sich und stieg aus. Wie gut sich Europa doch anfühlte, dachte er wieder und ging los.

Je näher er zur Grenze kam, desto mehr wuchsen seine Bedenken. Er sah viele Afrikaner in den Straßen, in den Parks stehen und sitzen, dann sogar in Zelten und unter Planen. So einfach, wie er sich das vorgestellt hatte, würde es wohl doch nicht werden, dachte Berhane bei sich. Als er zwei Männer Tigrinya sprechen hörte, wandte er sich an sie und fragte nach, was hier los sei. Was er hörte, stimmte ihn nicht froh. Die zwei Eritreer waren schon seit mehreren Monaten in Ventimiglia. Beide hatten schon mehrmals versucht, über die Grenze zu gelangen, und waren jedes Mal von der französischen Polizei aufgegriffen und zurückgebracht worden. Die Polizisten waren nicht brutal, »im Vergleich zu Libyen sind sie nett«. Aber sie gingen entschlossen und kompromisslos gegen illegale Grenzübertritte vor.

Wie ihnen beiden gehe es allen hier, berichteten ihm seine neuen Bekannten. Sie lebten in einem improvisierten Zeltlager und wurden von NGOs mit dem Nötigsten versorgt. Keiner wollte aufgeben. Diese beiden Männer wollten eigentlich nur durch Frankreich durchreisen, um nach Großbritannien zu gelangen, und sie waren zuversichtlich, dass sie es eines Tages schaffen würden.

Auch Berhane suchte sich einen Schlafplatz unter Bäumen. Er ergatterte einen Schlafsack von einer Hilfsorganisation und blieb den ganzen nächsten Tag darin liegen, um über seine Zukunft nachzudenken. Er hatte so viel erlitten und doch durchgehalten, weil er überzeugt gewesen war, dass in Europa alles schlagartig besser sein würde. Was nun? Warten? Worauf und wie lange? Er war mittlerweile neunzehn Jahre alt und hatte in den beiden letzten Jahren so viel Schreckliches gesehen und erlebt, dass er sich nichts anderes wünschte als ein ruhiges Leben und einen Job, der es ihm erlaubte, seine Schulden zurückzuzahlen und seine Familie zu Hause zu unterstützen. Er wollte so gerne seine Schulausbildung beenden und einen Beruf erlernen.

Ob man nicht einfach in Italien bleiben könnte, fragte er sich. Das war doch auch Europa und es war ein schönes Land mit vielen freundlichen Menschen. Er beriet sich mit seinen Landsleuten, doch die teilten seine Meinung nicht. Andere Länder seien viel besser als Italien, sagten sie. Da gebe es mehr Arbeit und mehr Verdienstmöglichkeiten. Da beschloss Berhane, noch zu warten. Immer wieder gab es Gerüchte, dass die Grenze geöffnet würde. Ab und zu schaffte es einer nach Frankreich und schickte dann Fotos und kurze Videos an seine zurückgelassenen Weggefährten. Die schöpften dann wieder Hoffnung und harrten weiter unter ihren Zeltplanen aus.

Auch Berhane verbrachte mehrere Monate in diesem Schwebezustand zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Als der Herbst ins Land zog und es kalt und regnerisch wurde, boten die Planen keinen Schutz mehr. Er hatte keine Lust, länger sein Leben so zu vertrödeln. Mittlerweile kannte er die Helfer aus den NGOs und wusste, dass sie auch Rechtsberatung anboten. In Europa war es eben nicht so, dass man sich einfach eine Arbeit und eine Wohnung suchen und bleiben konnte. Er musste Asyl beantragen, erklären, warum er gekommen war, und hoffen, dass man ihm Glauben schenkte. So ein Asylverfahren konnte viele Jahre dauern und erst am Ende würde Berhane wissen, ob er bleiben durfte oder ob sie ihn zurückschicken würden. Er schauderte bei dem Gedanken, dass er umsonst so viel gelitten haben könnte. Wie würde er seine Schulden bezahlen, wenn sie ihn zurückschickten? Er würde Schande über die ganze Familie bringen.

Doch die Rechtsanwältin überzeugte ihn, dass es keine andere Möglichkeit gab. Würde er sich bis Frankreich durchschlagen, dann müsste er eben dort so ein Asylverfahren durchlaufen. Das war in ganz Europa so. Erst wenn sein Antrag angenommen wurde, konnte er an Ausbildung oder Arbeit denken.

Weder zu Hause noch unterwegs hatte er je daran gedacht, dass das Leben in Europa schwierig sein könnte. Er hatte sich das so schön ausgemalt, mit seiner Adoptivmutter und ihrem Hund, dachte er wehmütig, wenn er eine Frau mit Hund sah.

Er überlegte noch einige Tage, dann teilte er der Rechtsanwältin mit, dass er in Italien einen Asylantrag stellen wollte. Danach ging alles recht zügig vonstatten. Sie fanden einen Platz für ihn in einem Aufnahmelager in Turin, wo er in ein Zimmer mit fünf anderen Männern kam. Sie schliefen in Stockbetten und teilten sich eine Gemeinschaftsdusche mit zwanzig anderen, doch das war Luxus verglichen mit allem, was er seit seiner Flucht von daheim erlebt hatte. Es gab immerhin drei Mahlzeiten am Tag und man konnte zum Arzt, wenn man krank war. Er musste weder Folter noch Tod fürchten.

Nach einigen Tagen wurde Berhane zur Polizei beordert, um seine Fingerabdrücke abzugeben und offiziell auszusagen, dass er in Italien Asyl beantragen wollte. Der Dolmetscher erklärte ihm, dass er nun auf einen offiziellen Interviewtermin warten musste. Er bekam eine Bestätigung über eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung in Italien, die ihn vor Polizeikontrollen schützte. Arbeiten dürfe er aber nicht, sagte man ihm.

Dann begann das lange Warten. Schlafen, essen, spazieren gehen, warten, schlafen, ein paar Stunden Schwarzarbeit, warten. Berhane sparte so lange, bis er sich ein gebrauchtes Smartphone kaufen konnte. Über Facebook und WhatsApp war er wenigstens in Kontakt mit Freunden auf der ganzen Welt und vertrieb sich so viele Stunden.

Er versuchte auch, Italienisch zu lernen, aber das ging schleppend voran. Im Heim gab es keine Sprachkurse. Anders als viele seiner Landsleute hatte er in der Schule ein wenig Englisch gelernt und konnte die lateinische Schrift zumindest lesen. Nach und nach schnappte er ein paar Redewendungen auf und nutzte sie, um sich stundenweise Hilfsarbeiten auf Baustellen oder Märkten zu besorgen. Illegal arbeitende Afrikaner wurden ganz schlecht bezahlt und manchmal auch um den ganzen Lohn betrogen. Aber was konnten sie schon dagegen tun? Etwa zur Polizei laufen und dann selbst bestraft werden?

Als der Winter kam, mussten viele junge Männer das Heim räumen, um Familien mit Kindern Platz zu machen. Berhane kam mit einer Gruppe alleinstehender Männer in einem Dorfpfarrhof weit außerhalb der Stadt unter. Sie waren dankbar dafür, denn viele andere waren auf der Straße. Doch in dem Dorf gab es keine Möglichkeit zur Schwarzarbeit, keine Abwechslung, kein WLAN im Pfarrhof. Zäh floss ein Tag in den anderen. Wenn Berhane vor Aussichtslosigkeit und Langeweile verzweifeln wollte, dachte er an Libyen. Hier ging es ihm immerhin besser.

Nach fast einem Jahr hatte er das erste Asylinterview. Er schilderte seinen Aufbruch, die Lage in Eritrea und alles, was er in Libyen durchgemacht hatte. Doch der Beamte gab sich nicht zufrieden. Immer wieder bohrte er nach, fragte nach kleinsten Details, um Berhane Widersprüche und Lügen nachzuweisen.

Es war ein Fragenbombardement, von dem Berhane der Kopf schwirrte: »Wie viele Menschen waren auf dem Lastwagen?« »Wie lange genau mussten sie auf die Schlepper warten?« »Vorhin haben Sie gesagt eine Woche, jetzt sagen Sie zehn Tage. Was stimmt jetzt?« – »Was war die genaue Adresse der Fischhalle, in der Sie gefangen gehalten wurden? Wieso kennen Sie die nicht?« – »Mit wie vielen Menschen waren Sie in Omdurman untergebracht? Was war das genaue Datum Ihres Aufenthalts dort?« – »Sie behaupten, geschlagen worden zu sein? Welche Verletzungen haben Sie davongetragen?«

Stundenlang wurden ihm immer wieder dieselben Fragen gestellt. Er war am Weinen, als der Beamte endlich von ihm abließ. Berhane hatte physische Folter zu Genüge erfahren. Das hier war auch eine Folter, aber eine, die seine Seele aufwühlte.

Wieder verstrich fast ein Jahr, bis Berhane seinen Asylbescheid erhielt: Antrag abgelehnt! Es war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Abgelehnt? Seine Rechtsanwältin hatte ihn gewarnt, wollte ihn vorbereiten, aber er hatte gar nicht hingehört. So sicher war er sich seiner Sache gewesen. Er hatte doch gute Gründe gehabt, Eritrea zu verlassen. Jeder wusste, was für eine Militärdiktatur seine Heimat war.

Nach Erhalt des Briefes fiel Berhane in eine tiefe Depression. Wie viele seiner Landsleute begann er Alkohol zu trinken. Seine Rechtsberaterin riet ihm, Berufung einzulegen, und das tat er auch. Wieder hieß es auf den nächsten Interviewtermin warten.

Da saß er nun in diesem herbeigesehnten Europa und fühlte sich nutzlos und verzweifelt. Was hatte er aus seinem Leben gemacht? Wo war dieses Paradies, für das er so viel Leid auf sich genommen hatte. Warum hatte ihn keiner gewarnt? Selbst wenn man ihm von Europa abgeraten hätte, hätte er den Ratschlägen denn Glauben geschenkt? Wohl kaum, er sah die schönen Bilder auf Facebook und dachte, Bilder können nicht lügen. Wer in so einer schönen Umgebung lebt, muss reich und glücklich sein.

Wäre er in Eritrea glücklicher gewesen? Unter seinen eigenen Leuten, mit seiner Familie, in einer Gesellschaft, die er verstand und wo er seinen Platz hatte? Hätte das die Leiden eines jahrelangen Militärdienstes aufgewogen? Wohl auch nicht. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, woanders neu anzufangen? Im Sudan oder in Äthiopien zum Beispiel? Auch diese Frage verneinte Berhane in seinem Kopf. Viele seiner Landsleute lebten dort in Armut und Angst vor der Polizei. Und auch dort hätten ihn die schönen Bilder immer verlockt. Was gab es für einen Ausweg? Waren die Eritreer auf ewig verdammt?

Als sein Berufungsverfahren nach vielen, vielen Monaten des Wartens endlich begann, stellte ihm der Beamte gleich zu Beginn des Interviews genau jene Fragen, an denen er seit Monaten langsam zerbrach. Warum hatte er seine Heimat verlassen? Dort hatte er Angst vor der Zukunft in Eritrea gehabt. Jetzt hatte er Angst vor der Zukunft in Europa.

Die von Europa träumen

Подняться наверх