Читать книгу Schattenklamm - Mia C. Brunner - Страница 10
Kapitel 6
ОглавлениеTief in Gedanken versunken schlenderte Hauptkommissar Forster über die Hamburger Reeperbahn. Am Tage war die Amüsiermeile von Hamburg unspektakulär und ein wenig schmuddelig, doch nachts erwachte sie zum Leben. Die bunten Lichter, die Kneipen, die zum Bleiben einluden, und natürlich die Stripbars, die mit nackten Frauen und purem Vergnügen warben, faszinierten den Allgäuer Beamten, der sich hier vorkam, als wäre er in Kempten ein kleiner Dorfpolizist ohne Herausforderung. Die Kommissare und Streifenpolizisten hatten hier monatlich sicher mit wesentlich mehr Verbrechen und Abgründen menschlichen Versagens zu tun, als er in seiner gesamten Polizeilaufbahn je haben würde.
Seit zwei Tagen war Hauptkommissar Forster bereits in Hamburg, hatte versucht, sich selbst ein Bild zu machen über diesen mysteriösen Mordfall an dem Polizeibeamten im Dezember letzten Jahres. Irgendwie hatte er das Gefühl, dieser Mord hätte etwas mit seinem aktuellen Fall zu tun, doch er kam nicht dahinter, welches Indiz ihn auf diese Idee brachte. Natürlich gab es da die Verbindung durch die gespeicherte Nummer im Handy des Kemptener Opfers. Florian Forster glaubte nicht an Zufälle und war sich sicher, dass mehr hinter dieser Nummer steckte, als die Beteiligten zugaben. Er vermutete irgendeine Beziehung zwischen den beiden Opfern. Da sowohl Susanne Reuter als auch Jessica Grothe glaubhaft versichert hatten, sie würden das Baumarktopfer Klaus Vollmer nicht kennen, musste die gespeicherte Telefonnummer in Verbindung zu dem Hamburger Opfer Wolfgang Reuter stehen, der als Einziger ebenfalls unter dieser Telefonnummer gemeldet gewesen war. Doch weder bei dem Polizeibeamten noch bei dem Baumarktmitarbeiter wies irgendetwas auf Korruption oder andere kriminelle Machenschaften hin. Beide Opfer hatten Familie, keine Eheprobleme, ein geregeltes Leben und schienen glücklich zu sein. Die beiden Opfer lebten schon immer beinahe 800 Kilometer voneinander entfernt und hatten nach Angaben der Freunde und Verwandten auch nie ihren Urlaub in der jeweils anderen Region verbracht, konnten sich also nicht begegnet sein. Und doch wurmte den Allgäuer Hauptkommissar etwas, das er nicht zu definieren vermochte. Auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße sah er die hell erleuchteten Reklameschilder des Burger King und ihm gegenüber die Davidwache. Er hatte darum gebeten, sich den Tatort ansehen zu dürfen. Der leitende Kommissar Wächter war nicht begeistert gewesen, doch hatte er schließlich zugestimmt. Niemand ließ sich gern in die laufenden Ermittlungen blicken, das wusste Florian Forster nur zu gut.
Minuten später betrat er die Wache und stellte sich vor. Der diensthabende Polizist hinter dem Tresen verwies ihn freundlich an seinen Kollegen, der verärgert, ja beinahe zornig aus seinem Büro kam und Hauptkommissar Forster nur aus Höflichkeit die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Florian wusste, dass er hier nicht willkommen war.
»Guten Tag, Herr Hauptkommissar«, wurde er mürrisch begrüßt. »Sie wurden uns schon angekündigt. Wollen Sie gleich mitkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte der Polizeibeamte mit weit ausholenden Schritten durch den langen Gang in den hinteren Teil des Gebäudes. Scheinbar schien er diese leidige Angelegenheit so schnell wie nur möglich hinter sich bringen zu wollen.
»Was verschlägt Sie hier nach Hamburg, Herr Hauptkommissar?«, brummte der Beamte vor ihm, in dem Versuch, höfliche Konversation zu halten. »Sie hätten sich die Unterlagen zu diesem Fall schließlich auch faxen lassen können.« Letzteres klang mit voller Absicht vorwurfsvoll.
»Die Unterlagen hatte ich bereits in Kempten gesichtet, doch ich mache mir gern selbst ein Bild«, gab der Kommissar ruhig und sachlich zur Antwort.
Der Hamburger Beamte blieb vor einer Tür stehen, stieß diese mit einer Hand auf und deutete Florian an, einzutreten.
»Das ist der Umkleideraum«, erklärte er dem Hauptkommissar. »Dort hinten ist das Bad mit den Toiletten und Duschen. Dort ist der Mord passiert.« Als der Polizist dem Kommissar in den gefliesten Raum nicht folgte, drehte sich Florian Forster zur Tür um und sah, dass der Beamte wortlos und beinahe angsterfüllt an die hintere Wand starrte und nicht bereit war, einen weiteren Schritt zu gehen. Florian wusste sofort, dass dort die Leiche gelegen haben musste.
»Es ist immer schrecklich, einen Kollegen zu verlieren«, versuchte der Kommissar den jungen Beamten zu beruhigen. »Mir selbst ist das noch nie passiert, dem Himmel sei Dank«, gab er zu.
»Ich habe ihn gefunden«, flüsterte der Hamburger Beamte kaum hörbar. »Und er war mehr als ein Arbeitskollege für mich. Er war mein bester Freund.«
Den Abend verbrachte Florian mit Martin Hansen in einer kleinen, recht stilvollen Kneipe ganz in der Nähe der Polizeiwache. Er war froh, dass er den Kollegen überreden konnte, auf ein Bier mit ihm mitzukommen, einerseits, weil er so den Abend nicht einsam in seinem Hotelzimmer verbringen musste, andererseits, weil er hoffte, noch mehr Informationen über Wolfgang Reuter zu bekommen. Vielleicht half ihm dieses Treffen mit dem besten Freund des Opfers, etwas mehr Klarheit zu schaffen oder die gesuchte Verbindung ins Allgäu herzustellen. Wenn er allerdings ganz ehrlich zu sich selbst war, interessierte ihn all das nur am Rande. Viel lieber würde er mehr über Jessica erfahren. Martin Hansen musste sie schließlich mehr als gut kennen, wenn er mit ihrem Schwager befreundet gewesen war. Außerdem waren Jessica und Martin beide Polizisten und damit Kollegen gewesen.
Seit dem Treffen im »Feuertempel« vor über zwei Wochen hatte er Jessica nicht mehr gesehen. Die Handynummer, die sie ihm etwas widerwillig aufgeschrieben hatte, war falsch. Diese Nummer existierte nicht. Für Florian war das ein Zeichen gewesen, dass sie ihn nicht wiedersehen wollte. Das und die Tatsache, dass sie sich auch nicht bei ihm gemeldet hatte, denn sie hätte sowohl auf dem Revier als auch privat auf seinem Handy anrufen können. Doch ganz abgehakt hatte er diese Angelegenheit noch nicht. Diese Frau zog ihn beinahe magisch an. Vielleicht lag es gerade an der Schwierigkeit, ihr näherzukommen und dass es für ihn eine so große Herausforderung darstellte, was die ganze Sache noch aufregender machte. Sein Jagdinstinkt war jedenfalls geweckt.
»Du hattest doch damals sicher auch Kontakt zu der Ehefrau und der Schwägerin von Wolfgang, oder?«, fragte Florian, obwohl er die Antwort bereits kannte. Martin Hansen nickte zustimmend.
»Was hältst du von den beiden Schwestern?« Jetzt sah Martin ihn fragend an, runzelte die Stirn, beschloss dann aber für sich, dass die Frage nicht darauf abzielte, Susanne und Jessica in den Dreck zu ziehen. Der Beamte hielt sehr viel von den beiden Frauen und würde niemals zulassen, dass die eine oder die andere jemals in den Verdacht gerieten, mit dem Mord etwas zu tun zu haben.
»Wolfgangs Frau Susanne ist eine ganz liebe«, begann Martin und gab der Kellnerin mit seiner rechten Hand ein Zeichen, die nächste Runde Bier zu bringen. »Ich war bei Wolfgang und ihr immer willkommen und hatte nie das Gefühl zu stören. Wolfgang und Susanne waren das Traumpaar schlechthin.« Er lachte und verdrehte gespielt genervt die Augen. »Da kann man schon neidisch werden, oder? Hast du Frau und Kinder?«
»Nee.« Florian schüttelte vehement den Kopf. »Das hat doch noch Zeit.«
»Findest du?«, warf Martin etwas verwundert ein. »Also ich könnte mir schon vorstellen …« Er vollendete den Satz nicht, denn die Bedienung trat an ihren Tisch und brachte das Bier.
»Und die Schwester?«, erinnerte Florian den Polizisten, als die Kellnerin mit den leeren Gläsern gegangen war.
»Jessy? Die ist klasse. Ein richtiger Kumpeltyp. Auf die kann man sich immer verlassen.« Wieder lachte Martin, dieses Mal aber eher unsicher. »Ich muss zugeben, dass ich eine Zeit lang mal total scharf auf die war. Erzähl das bloß keinem«, beschwor er flüsternd den Allgäuer Kollegen, lehnte sich dann zurück und grinste, als er Florians ernstes Gesicht sah. »Nee«, sagte er dann. »Die ist eine Nummer zu groß für mich. Zu mir passt besser eine, die ruhig und lieb ist als so ein Energiebündel wie Jessy.« Gedankenverloren griff er nach seinem Glas, erhob es und prostete Florian zu. »Tja, trotzdem ne klasse Frau.«
»Ja.« Abwesend starrte Florian auf sein Bierglas und drehte es zwischen seinen Fingern im Kreis. Das Glas schabte über den Tisch und verursachte ein dumpfes, brummendes Geräusch. Schließlich ließ er von dem Bierglas ab und schaute zu Martin hinüber, der jetzt noch breiter grinste. Sein Mund war etwas schief verzogen und ließ sein Gesicht recht albern und schelmisch aussehen. Auch seine Augen schienen zu lachen.
»Was ist denn?«, fragte Florian und hob fragend eine Augenbraue.
»Du stehst auf sie!« Martin Hansen schüttelte lachend und verwundert seinen Kopf. »Die ganze Fragerei … Ich hätte es merken müssen … Gott, bin ich blöd.« Er griff sich theatralisch an seine Stirn und rieb sich mit der Hand über seine kurzen rotblonden Haare. »Und ich dachte erst, das ist eine Art Verhör, was wir hier beide führen. Dabei willst du nur mehr über Jessy erfahren.«
Der Hauptkommissar fühlte sich ertappt, aber nicht beschämt. Es gab nichts, wofür er sich schämen musste, also stimmte er in Martins Gelächter ein.
»Und?«, fragte er schließlich und prostete erneut seinem Kollegen zu.
»Was, und?«
»Gibst du mir jetzt die gewünschten Informationen? Wir Männer müssen doch zusammenhalten.«
Erschrocken riss Jessica die Augen auf. Das Zimmer war stockdunkel, nicht der kleinste Fetzen Licht kam durch das kleine Kellerfenster. Ihr Handy, das sie gerade so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte, klingelte und klingelte. Genervt schlug sie die Decke zurück und die eiskalte Raumluft ließ sie frösteln. Der kleine Heizkörper neben der Tür zu ihrem Zimmer erbrachte Höchstleistungen, doch schaffte er es vor allem in der Nacht nicht, den Kellerraum auf normale Zimmertemperatur zu bringen. Jetzt war erst Anfang November und Jessica dachte mit Grauen an die frostigen Wintermonate, die ihr bevorstanden. Die Anschaffung eines zusätzlichen Elektroheizkörpers ließ sich wohl nicht vermeiden. Sie stapfte barfuß durch den dunklen Raum, stieß mit dem Schienbein gegen den kleinen Tisch in der Mitte, fluchte laut und fand schließlich ihre Jacke, in der ihr Handy nach wie vor ununterbrochen läutete.
Das Display zeigte einen unbekannten Anrufer an. Jessica schaute auf die Ziffernanzeige der Uhr in ihrem Handy. 2:57 Uhr. Wer in Gottes Namen rief um diese Uhrzeit an? Kurze Zeit überlegte sie, ob sie diesen dreisten Anrufer einfach wegdrücken sollte, doch dann siegte die Neugier und sie nahm das Gespräch an.
»Wer stört?«, brummte sie in das Telefon und versuchte ihrer Stimme einen wütenden Unterton zu verleihen, allerdings gelang ihr das nicht. Kurz nach dem Aufstehen klang ihre Stimme immer etwas heiser und gebrochen. Sie hüstelte.
»Hallo, Jess«, hörte sie eine Männerstimme an ihrem Ohr säuseln. Lallte der Kerl? »Schön, deine Stimme zu hören.«
»Wer ist denn da, bitte?« Jetzt klang sie wirklich wütend, doch ihr Gesprächspartner ließ sich in keiner Weise dadurch einschüchtern, sondern kicherte etwas albern.
»Du bisch sooooo süß«, verkündete die Männerstimme melodisch. »Oh Mann, i liab dei Stimm’. Die isch … sexy.«
»Wie bitte?« Dann plötzlich konnte sie die Stimme des Mannes endlich mit einem Bild in ihrem Kopf verbinden. »Herr Forster?« Erstaunt schüttelte sie ihren Kopf. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie sich geeinigt hatten, sich zu duzen. »Florian?«
»Jaaaaaaaa«, kam es träge aus der Leitung.
»Bist du betrunken?«, fragte Jessica und grinste. Plötzlich amüsierten sie der Anruf und der angetrunkene Hauptkommissar sehr. Vielleicht freute sie sich aber auch nur, dass er nun endlich anrief.
»Na … a bissele höchschtens. Gar ned so schlimm. Du, Jess …?« Der Allgäuer Dialekt, der plötzlich so vehement bei ihm durchschlug, klang irgendwie niedlich.
»Ja?« Weil ihr die Kälte plötzlich durch und durch ging, stolperte Jessica zurück zu ihrem Bett, legte sich hinein und zog die Decke bis über ihre Schultern, das Handy fest an ihr Ohr gepresst.
»Mir müssen uns treffa«, verkündete Florian im Brustton der Überzeugung, hickste laut und räusperte sich dann. Jessica hörte, wie viel Mühe er sich gab, beim Sprechen nicht zu lallen, doch dieser Vorsatz misslang ihm gänzlich. Nur schwer bekam er die Worte einigermaßen klar über die Lippen. »Du derfsch mi itt so oifach wegschicka. Mir isch kalt.«
Jessica kicherte. »Es ist mitten in der Nacht! Wir können uns jetzt nicht treffen, Florian«, erklärte sie ihm ernst. »Wo bist du denn? Wieso ist dir kalt?«
»Ja, mir isch kalt«, sagte er geistesabwesend, dann kamen wohl ihre Worte bei ihm an und er beantwortete ihre Frage. »Bin im Hotel. Sehr kalt hier.«
»Du bist ja voll wie eine Schnapsdrossel. Geh ins Bett, dann wird dir wieder warm«, schlug Jessica vor und lächelte stumm in sich hinein.
»Kommsch du denn mit?«, fragte der Hauptkommissar. Es war die nüchterne, völlig sachliche Frage eines kleinen Kindes, das sich nicht wohlfühlte und nicht allein bleiben wollte, nicht die Frage eines Mannes, der nichts anderes im Kopf hatte als Sex. Im Kopf wie im ganzen Körper dieses Mannes war purer Alkohol, keine schmutzigen Gedanken.
»Ich liege bereits im Bett, Florian. Geh du jetzt auch schlafen. Wir können morgen weitersprechen.« Der mütterliche Ton in ihrer Stimme erschreckte Jessica erst, dann amüsierte sie sich köstlich über sich selbst, den Kommissar und die ganze Situation.
»Guats Nächtle, Jess.« Ein Rascheln und Knarzen drang durch den Hörer. Vermutlich kroch Florian in sein Bett. Dann wurde das Gespräch unterbrochen.
»Gute Nacht. Dann schlaf mal schön deinen Rausch aus.« Ohne das Handy aus der Hand zu legen, drehte sich Jessica auf die Seite, zog die Decke noch ein Stückchen höher, seufzte zufrieden und schloss die Augen.