Читать книгу Schattenklamm - Mia C. Brunner - Страница 7

Kapitel 3

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»Fantastischer Mohnkuchen, Susi. Herrlich locker und leicht, nicht zu süß. Genau richtig«, lobte Elfriede Grothe ihre jüngere Tochter und hob mit elegant abgespreiztem kleinen Finger ihre Kaffeetasse zum Mund, nahm einen großen Schluck und lächelte begeistert.

»Danke, Mutti«, trällerte Susanne und sah zu ihrer Schwester hinüber, »aber das Lob muss ich an Jess weitergeben. Sie hat den Kuchen gemacht.« Liebevoll legte sie Jessica ihre Hand auf den Unterarm. Die Augen ihrer Mutter schnellten zu ihrer älteren Tochter und sie nickte dieser schließlich wohlwollend zu.

»Ja, ich und Svenja haben gestern gebacken. Aber die Tischdecke, die hat Susi gebügelt. Toll, nicht? Das hätte ich niemals so gut hinbekommen.« Lauthals lachend schlug sie sich mit den Händen auf die Oberschenkel und zwinkerte ihrer kleinen Schwester zu. Jessica wusste, wie sehr es ihrer Mutter zuwider war, am Tisch und vor allem beim Essen, derart laut zu lachen. Schon lautes Sprechen war ihrer Meinung nach nicht schicklich, doch Jessica hatte das nie gestört und auch Susi stimmte jetzt in ihr Lachen mit ein. Ihr Vater Herbert allerdings tupfte sich schnell mit seiner Serviette ein paar imaginäre Kuchenkrümel von seinen Lippen und versteckte so ein viel zu breites Grinsen.

»Schön habt ihr es hier«, sagte er schließlich mit einem Blick in den kleinen Garten hinter der großen Fensterfront im Wohnzimmer. »Der Garten ist aber noch nicht fertig«, entschied er schließlich.

»Wir haben gestern aber schon Blümchen gepflanzt, Opa«, meldete sich jetzt die kleine Svenja zu Wort. Susannes Tochter rutschte vom Esszimmerstuhl, lief zu ihrem Großvater und kletterte auf seinen Schoß. »Jetzt schlafen sie aber noch«, verkündete sie und legte ihm ihre kleinen Ärmchen um den Hals. »Erst im Frühjahr kommen sie heraus …«

»Im Frühjahr oder in Australien …«, warf Jessica ein und sorgte damit wieder für ausgelassene Stimmung.

Über den Besuch ihrer Eltern freuten sich die beiden Schwestern sehr. In Hamburg hatte sich die Familie regelmäßig getroffen und Zeit miteinander verbracht. Seit ihrem Umzug vor gut vier Monaten waren sie nicht mehr zusammengekommen, was bei einer Entfernung von guten 800 Kilometern auch nicht verwunderlich war. Auch Wolfgang hatte von Anfang an zur Familie gehört, war herzlich in ihren engen Kreis mit aufgenommen worden und wurde von ihren Eltern wie ein drittes Kind geliebt. Der Verlust ihres Schwiegersohns hatte auch Elfi und Herbert Grothe schwer getroffen.

Als ehemaliger Kriminalhauptkommissar war Jessicas Vater erschüttert über den Mord an einem Kollegen. Obwohl er seit guten fünf Jahren im Ruhestand war, nahmen ihn solche Schreckensmeldungen nach wie vor unheimlich mit und er wollte über den Stand der Ermittlungen ausführlichst unterrichtet werden. Dass er, genau wie seine Tochter, keinen Hinweis auf den Mörder sehen und finden konnte, nahm ihn beinahe genauso mit wie der eigentliche Verlust seines geliebten Schwiegersohnes. Herbert Grothe war Kriminalbeamter mit Herz und Seele. Seine Beliebtheit im Revier und seine immer professionelle Arbeit machten es Jessica nicht leicht, in seine Fußstapfen zu treten. Dennoch musste sie zugeben, dass wohl vor allem der gute Name und die empfehlenden Worte ihres Vaters ihren eigenen raschen Karriereaufstieg gefördert hatten. Mit 29 Jahren bereits zur leitenden Hauptkommissarin ernannt zu werden, war selten und ungewöhnlich. Nicht wenige ihrer Kollegen beneideten sie damals, doch sie strafte alle Zweifler Lügen, indem sie genau wie ihr Vater sauber, präzise und erfolgreich arbeitete.

Ihr Vater hatte ihren Ausstieg aus dem Polizeidienst nicht gutgeheißen. Für ihn war ihre Aufgabe ein Zeichen von Schwäche und entsprach in keiner Weise seinem persönlichen Lebensmotto. Jessicas Vater war der Meinung, dass nur sehr wenige Menschen tief in ihrer Seele so gut waren, dass sie sich in ihrem Leben nicht anstrengen mussten, um auf dem rechten Weg zu bleiben. Die meisten Menschen hatten dunkle Flecken auf der Seele und mussten sich tagaus, tagein bemühen, ihre schlechte Seite zu unterdrücken, um wirklich gut zu bleiben.

Und Jessica hatte mit ihrem Ausstieg aus dem Polizeidienst einen Schritt in die falsche Richtung getan. Sie sah an den enttäuschten Augen ihres Vaters und seinem durchdringenden Blick, dass sie seiner Meinung nach den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Doch gesagt hatte er nie etwas. Rein äußerlich hatte er ohne Murren ihre Fehlentscheidung scheinbar respektiert.

»Guck mal, Opa«, plapperte Svenja weiter, die ihren Großvater durch die Terrassentür in den kleinen Garten gezogen hatte und jetzt mit ihm vor dem dunklen und leeren Beet am Gartenzaun stand, »hier schlafen die kleinen Tulpen.« Dann sah sie ihren Opa mit großen runden Kinderaugen an und lächelte ihm entgegen. »Und da hinten soll die Sandkiste für mich und Tobi stehen.« Sie deutete mit ihrem kleinen Zeigefinger an den Rand der gefliesten Terrasse und erinnerte ihren Opa an das Versprechen, das er ihr noch in Hamburg gegeben hatte.

Herbert Grothe brach in schallendes Gelächter aus. »Das hast du also nicht vergessen!«, polterte er, hob seine Enkeltochter hoch in die Luft und drückte sie dann fest an sich. »Gleich morgen gehen wir in den Baumarkt und kaufen dir und deinem Bruder die versprochene Sandkiste. Ihr müsst mir aber helfen, sie aufzubauen, okay?«

»Klar, Opa. Das machen wir.«

Klaus Vollmer verließ als einer der letzten den Baumarkt, in dem er seit mehreren Jahren arbeitete. Er zog seinen alten Lederblouson fest um seinen Körper und schloss die Druckknöpfe über seiner Brust. Der Reißverschluss war seit Langem schon kaputt, doch er hatte weder das Geld für eine Reparatur noch konnte er sich eine neue Jacke leisten. Zu Hause warteten drei kleine Kinder und eine Ehefrau, die selbst kein Geld verdiente. Sein Ältester war letzte Woche gerade vier Jahre alt geworden und alle drei Kinder brauchten noch intensive Betreuung und kosteten jede Menge.

Doch bald würde es ihnen allen besser gehen.

Noch immer fröstelnd, stapfte Klaus Vollmer über den leeren Parkplatz zu seinem alten Ford, der am äußersten Rand parkte und das einzige Auto in diesem Bereich des großen Platzes war. Er zog seine Zigaretten aus der Jackentasche, ein Feuerzeug aus der Gesäßtasche seiner dreckigen Jeans und blieb kurz stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Trotz der Flutlichtbeleuchtung war der Parkplatz um diese Uhrzeit bereits recht dunkel und umso weiter er sich vom Gebäude weg bewegte, umso schummriger wurde die Umgebung. Er parkte immer ganz am Rand und in dieser abgeschiedenen Ecke. Niemand sollte zu aufmerksam werden auf seine alte Rostlaube, die wirklich schon bessere Tage gesehen hatte, ihm aber treu und ohne Murren auch in ihrem hohen Alter noch ihren Dienst erwies. Doch bald würde er sich ein besseres Auto zulegen können. In der einen Hand seine brennende Zigarette, in der anderen seinen Autoschlüssel, ging er weiter auf den Ford zu. Er freute sich auf sein Zuhause, auf sein Sofa, das kalte Feierabendbier und das Abendessen.

Dann bemerkte er neben der Fahrertür seines Autos die dunkle Gestalt. Wie lange stand sie schon dort?

»Hallo? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Klaus Vollmer ohne jeglichen Argwohn und hob zusätzlich grüßend die Hand mit dem Schlüsselbund.

»Ja, das können Sie tatsächlich«, begrüßte ihn die Person an seinem Auto und hob ebenfalls zum Gruß die Hand. Die Stimme klang hohl, etwas arrogant und passte überhaupt nicht zu diesem Menschen. Sie war beinahe furchteinflößend. Bei diesen Gedanken schüttelte Klaus Vollmer lächelnd den Kopf. Natürlich würde ihm hier nichts passieren. Niemand hatte einen Grund, ihm etwas zu tun. Er sah nicht aus, als hätte er Geld und seine alte Karre war noch weniger wert als seine kaputte Jacke. Trotzdem blieb er erschrocken wie versteinert einige Meter vom Auto entfernt stehen, als er diesen Menschen eiskalt und verbittert lachen hörte.

»Ja, Sie können mir tatsächlich behilflich sein, lieber Herr Vollmer«, wiederholte die Person dieses Mal flüsternd, doch nicht, um die Nachtruhe nicht zu stören, sondern um der eigenen Stimme Dramatik und eine unterschwellige Drohung zu verleihen. Beinahe theatralisch hob die dunkle Gestalt beide Hände gen Himmel und seufzte.

Klaus Vollmer kroch die Angst fröstelnd und unaufhaltsam über seinen Rücken, seinen Nacken und direkt in sein Gehirn. Dieser Mensch, der ihm gegenüberstand, war durch und durch böse. Er konnte die Augen nicht erkennen, denn sie lagen im Schatten eines dunklen Hutes, doch der etwas schief zu einem hämischen Grinsen verzogene Mund flößte ihm Panik ein.

»Was … wie kann ich Ihnen helfen?« Er wählte die Worte mit Bedacht und hoffte, er könne mit Ruhe und Selbstbeherrschung nicht nur seine Furcht bekämpfen, sondern auch die Situation zu seinen Gunsten ändern. »Ich habe absolut nichts, was Sie interessieren könnte«, fügte er hinzu und bereute sogleich seine Aussage, denn sein Gegenüber lachte erneut, dieses Mal beinahe belustigt, doch eiskalt.

»Oh doch, Herr Vollmer. Sie haben etwas, das mir gehört, und ich lasse mir nichts wegnehmen«, sagte die Stimme ruhig und bedächtig. »Niemals würde ich so etwas zulassen. Sie sind mir im Weg, Herr Vollmer. Sie … müssen weg!«

Als Klaus Vollmer sich auf dem Absatz umdrehte und zu rennen begann, wusste er im ersten Moment noch nicht, warum er so reagierte. Sein Verstand versuchte krampfhaft, ihm Gründe für diese merkwürdige Begegnung zu geben, doch ihm fiel absolut nichts ein, das ihm derartige Reaktionen verständlich machen konnte. Seine Flucht war eine absolut instinktive Handlung und auch diese Reaktion vermochte er nicht zu deuten. Bereits wenige Schritte später hallte die hämische Lache seines Angreifers erneut in sein Ohr und würde ihn verfolgen, bis er wieder nahe genug am Gebäude des Baumarktes und damit in Sicherheit und im Licht war. Schall war schneller, als er jemals würde laufen können, doch auch dieser gottverlassenen Stimme versuchte er zu entkommen und rannte jetzt noch schneller. Dann plötzlich dröhnte die Luft um ihn herum donnernd und brüllend und übertönte alles andere. Alle Lichter um ihn herum erloschen schlagartig und er hatte plötzlich das Gefühl zu fliegen, abzuheben und endlich frei von jeder Angst zu sein. Danke, er war gerettet.

Trotz der zwei Personen mehr im Haus verliefen die nächsten Tage ruhig und entspannt. Das lag vor allem daran, dass Susanne ihre Eltern, so oft es nur ging, zu Ausflügen mit den Kindern überredete und die Nachmittage deshalb immer still und friedlich waren. Jessica verbrachte diese freien Momente meist auf dem Sofa vor dem Fernseher. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie für den Besuch ihrer Eltern keinen Urlaub genommen. Sie war noch in der Probezeit und durfte um freie Tage noch nicht bitten, wenn sie ihren Job behalten wollte.

Heute verbrachte die Groth’sche Familie den Nachmittag im Augsburger Zoo. Alle fünf waren, gleich nachdem Svenja aus der Schule kam, losgefahren und würden vermutlich erst gegen Abend wieder in Kempten sein. Jessicas Schicht begann bereits um 19 Uhr und sie glaubte nicht, dass sie ihre Schwester und den Rest heute noch sehen würde. Sie liebte ihre Nichte und ihren Neffen sehr, doch es war ausnahmsweise auch einmal schön, keine kleinen Kinder um sich herumwuseln zu haben. Solche Momente waren selten genug, also genoss Jessica die vermutlich letzten warmen Sonnenstrahlen des Oktobers, warm eingepackt in eine Wolldecke, auf einem Liegestuhl auf der winzigen Terrasse. Ihr Vater hatte am Samstag im Baumarkt nicht nur die Sandkiste für seine Enkelkinder gekauft, sondern seinen beiden Töchtern zum Einzug gleich noch zwei teure Holzliegen spendiert, zwei wunderbare Teile ganz ausgezeichneter Qualität. Wenn Herbert Grothe etwas kaufte, dann musste es gut sein und sehr lange halten. Jedenfalls war Jessica mehr als dankbar für dieses herrliche Geschenk. Wenn es nach ihr ginge, würde sie jede freie Minute im Freien verbringen, egal in welcher Jahreszeit und bei welchem Wetter.

Gerade hatte sie sich eine Tasse heißen Kakao aus der Küche geholt, ihn auf das kleine Tischchen gestellt, das eigentlich neben das Sofa im Wohnzimmer gehörte, und sich wieder auf die Liege gelegt, als es an der Tür läutete. Genervt warf sie die Wolldecke beiseite, erhob sich erneut von der Liege und betrat das Wohnzimmer durch die Terrassentür. Dann ging sie am Esstisch vorbei und schritt durch den kleinen Flur. Vor der mattierten Glasscheibe der Haustür konnte sie zwei dunkle Umrisse erkennen. Vermutlich waren das irgendwelche unangenehmen Vertreter von Staubsaugern oder merkwürdigen Glaubensformen, die ihr gleich mit Dreck auf dem Fußboden oder Blödsinn aus den verdrehten Gehirnen auf die Nerven gehen würden. Solchen Leuten musste man sofort zeigen, dass sie nicht willkommen waren. Also setzte Jessica eine betont ärgerliche Miene auf und öffnete die Tür.

»Da stehen zwei Namen an der Tür, Chef«, stellte der junge Beamte fest, als er die Haustür noch vor seinem Vorgesetzten erreichte und den Klingelknopf betätigte. Er verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und baute sich neben dem Briefkasten auf. Hätte er nicht so zappelig und nervös sein Gewicht immer wieder von dem einen auf den anderen Fuß verlagert, dann wäre seine Körperhaltung beinahe majestätisch gewesen. Kommissar Berthold Willig war groß und schlaksig, überragte seinen Kollegen um einen ganzen Kopf und machte seinem Namen alle Ehre. Er war willig bemüht, aber bisher konnte Hauptkommissar Florian Forster noch keine außergewöhnlichen Talente an seinem Untergebenen feststellen. Er schien loyal und ehrlich zu sein, aber auch tollpatschig und scheinbar wenig intelligent. Florian Forster war es ein Rätsel, warum der Junge unbedingt zur Kriminalpolizei wollte, doch er behielt seine Meinung für sich.

»Hauptsache ist, der Name ›Reuter‹ steht auf dem Klingelschild«, sagte er sarkastisch. »Sonst stehen wir vorm falschen Haus!«

»Ja«, bestätigte Berthold Willig und beugte seinen Oberkörper weit hinab, um das Schild neben der Tür noch einmal ganz aus der Nähe zu betrachten, nickte dann und wiederholte seine Aussage. »Ja, Chef. Wir sind richtig. Hier wohnt aber auch noch ein Herr oder eine Frau Grothe.«

»Nicht ›Chef‹, Berthold. Wir hatten uns doch geeinigt, uns zu duzen.« Hauptkommissar Forster setzte ein charmantes Lächeln auf und sah zu seinem Kollegen auf. Auch daran würde er sich gewöhnen müssen. Sein vorheriger Kollege und Partner war mit ihm wenigstens auf Augenhöhe. Dabei war er selbst nicht einmal klein. Mit seinen eins neunundachtzig überragte er einige seiner Kollegen, seinen neuen Partner schätzte er auf zwei Meter zehn.

Die Haustür vor ihm wurde mit Schwung aufgerissen und Berthold Willig zuckte erschrocken zusammen. Die Dame, die sich im Eingang vor ihnen aufbaute, starrte sie beinahe böse an und presste ihre Lippen fest aufeinander. Als sie jedoch die Uniformen bemerkte, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck merklich und wirkte jetzt überrascht.

»Ja?«, fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben, hielt aber nach wie vor die Tür fest und ließ keinen Blick in die Wohnung zu.

Gerade als Hauptkommissar Florian Forster den Mund öffnete, um sich vorzustellen, fiel ihm sein Kollege Willig ins nicht ausgesprochene Wort.

»Guten Tag, verehrte Frau Reuter. Wir sind von der Polizei. Kriminalpolizei Kempten. Hier.« Er zog seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn der Dame so dicht vors Gesicht, dass diese einen Schritt zurückwich und wieder ärgerlich schaute. »Mein Name ist Kommissar Willig und das hier ist mein Kollege …«

»Hauptkommissar Forster«, meldete sich jetzt der leitende Kommissar selbst zu Wort. »Dürfen wir kurz reinkommen, Frau Reuter? Wir hätten da einige Fragen an Sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er auf die Tür zu und die Dame ließ ihn widerstandslos passieren. Berthold Willig folgte ihm auf dem Fuße.

»Schön, dass Sie den Weg in unser Haus so problemlos alleine finden, Herr Hauptkommissar«, hörte Florian Forster die Dame kühl und leicht überheblich sagen, als er den Flur hinter sich gelassen hatte und jetzt im Wohnzimmer stehen blieb. »Mein Name ist übrigens Grothe. Meine Schwester, Frau Reuter, ist nicht im Hause. Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Ihr letzter Satz war nicht wirklich eine Frage, sondern eine Aufforderung, ihr zu erklären, aus welchem Grund sie überhaupt da waren. Hauptkommissar Forster lächelte zaghaft, setzte dann wieder sein charmantes Grinsen auf und drehte sich zu Frau Grothe um.

»Vermutlich können auch Sie uns die nötigen Auskünfte geben«, teilte er ihr mit und nahm unaufgefordert Platz auf einem der Stühle am Esstisch im Wohnzimmer. Etwas verlegen stellte sich Berthold Willig neben ihn.

»Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Herren.« Sarkasmus schwang in ihrer Stimme mit und beinahe theatralisch deutete sie auf zwei Stühle gegenüber von Florian Forster. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Tee? Kaffee? Ein Glas Wasser?« Fragend hob sie die Augenbrauen, doch in ihrem Blick sah Hauptkommissar Forster Argwohn und Misstrauen.

»Gern. Zwei Glas Wasser, bitte«, bestellte der Beamte, zog demonstrativ den Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor und deutete seinem Kollegen an, sich zu setzen.

Wütend stampfte Jessica in die Küche, riss den Vitrinenschrank über der Kaffeemaschine auf und holte zwei Gläser heraus. Dann griff sie nach der Wasserflasche neben dem Kühlschrank und transportierte alles zurück an den Esszimmertisch. Höflich lächelnd platzierte sie die Gläser und die Flasche vor den beiden Beamten. Dann setzte sie sich selbst den Beamten gegenüber.

»Und was verschafft mir jetzt die Ehre Ihres plötzlichen Besuches? Habe ich falsch geparkt?«, fragte sie süffisant lächelnd, doch konnte sie ihren Ärger trotz allem nicht gänzlich unterdrücken.

Hauptkommissar Forster ließ sich sehr viel Zeit, griff beinahe im Zeitlupentempo nach der Flasche und schenkte sich und seinem Kollegen ein. Dann sah er Jessica lange und durchdringend an, doch Jessica hielt seinem Blick stand.

»Neigen Sie denn dazu, falsch zu parken?«, fragte er schließlich belustigt und nahm einen großen Schluck aus dem Glas, ohne Jessica aus den Augen zu lassen.

Jessica sparte sich die Antwort.

»Warum sind Sie also hier, Herr Hauptkommissar?« Sie lehnte sich lässig auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Es geht um den Mord auf dem Parkplatz des Baumarktes am letzten Samstag«, erklärte der Beamte und verfiel plötzlich in einen sachlichen, professionellen Verhörton. »Sie haben sicher davon gehört?« Als Jessica nickte, zog er ein kleines Notizbuch aus seiner Brusttasche, schlug es auf und fuhr fort.

»Der Ermordete hieß Klaus Vollmer. Sagt Ihnen der Name etwas? Kennen Sie ihn?« Florian Forster schaute jetzt wieder von seinen Notizen auf und starrte Jessica unverwandt an.

»Nein, tut mir leid«, gab sie kopfschüttelnd zur Antwort. »Aber würden Sie mir bitte erklären, warum Sie ausgerechnet mich dazu befragen?« Dann fiel ihr ein, dass die Beamten ursprünglich nach Susanne gefragt hatten, und sie fügte hinzu: »Und was wollen Sie diesbezüglich von meiner Schwester? Wir haben den Mann schließlich nicht umgebracht.« Wieder schüttelte sie den Kopf, doch dieses Mal mehr aus Fassungslosigkeit.

»Davon gehen wir auch gar nicht aus«, wehrte Hauptkommissar Forster ab und hob beruhigend die rechte Hand. Es sah beinahe so aus, als würde er Jessica auffordern, stehen zu bleiben und nicht näher zu kommen.

»Und? Was wollen Sie dann hier? Haben Sie festgestellt, dass wir an diesem Tag in genau diesem Baumarkt eingekauft haben, und überprüfen Sie jetzt alle Kunden?« Wieder schwang Sarkasmus in ihrer Stimme mit und sie konnte es nicht verhindern. Sie war wütend und verstand die Zusammenhänge nicht. Was hatte das alles hier mit professioneller Polizeiarbeit zu tun?

»Das ist ja interessant«, stellte Herr Forster sachlich fest, doch konnte Jessica den Schalk in den Augen des Beamten aufblitzen sehen. »Sie geben also freiwillig zu, dass Sie am Tatort waren.« Noch bevor Jessica wütend aufbrausen konnte, winkte er erneut ab, verwies sie mit seiner erhobenen Hand in ihre Schranken und grinste breit und überheblich.

»Keine Panik, Frau Grothe. Das war nur ein Scherz«, erklärte er und schaute wieder in das kleine lederne Notizbuch. »Sagen Ihnen die Buchstaben ›LLFS‹ etwas, Frau Grothe?«

Jessica seufzte tief und eindeutig genervt. »Nein«, blaffte sie den Beamten wütend an. »Und ich möchte jetzt auf der Stelle wissen, was Sie von mir … was Sie von meiner Schwester wollen.« Um die Nachdrücklichkeit ihrer Worte zu unterstreichen, presste sie die Spitze ihres Zeigefingers auf die Tischplatte und den Mund fest zusammen.

»Wir haben festgestellt«, begann der Hauptkommissar schließlich, »dass es eine Verbindung des Opfers zu Ihnen und Ihrer Schwester gibt. Diesem Sachverhalt gehen wir nach. Was würden Sie also hinter den Buchstaben …«, er beugte sich wieder über sein Notizbuch und las ab, »›LLFS‹ vermuten?«

»Keine Ahnung, vielleicht eine Partydroge, vielleicht eine Abkürzung für … für … Lothar Lommel Fahr-Schule? Woher soll ich das denn wissen? Ich dachte, dafür würde man Sie bezahlen?«

»Deshalb sitze ich hier. Wir haben diese ›Abkürzung‹, oder was immer es ist, neben der Telefonnummer Ihrer Schwester gefunden. Sie war im Handy des Opfers gespeichert. Und die internen Ermittlungen haben ergeben, dass mehrmals Gespräche von diesem Handy an eben diese Nummer geführt wurden«, erklärte Florian Forster, legte sein Notizbuch auf den Esstisch und schob es zu Jessica hinüber. »Ist das die Telefonnummer Ihrer Schwester?«

Jessica schaute auf die etwas krakeligen Aufzeichnungen und fand schließlich die besagte Telefonnummer. Ungläubig schaute sie auf die zehn Ziffern. Dann nickte sie zögernd.

»Ja«, bestätigte sie schließlich. »Diese Telefonnummer gehörte zu dem Anschluss Wolfgang und Susanne Reuter in Hamburg. Und auch ich war unter dieser Nummer gemeldet, denn ich habe im selben Haus gewohnt.« Sie machte eine Pause und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Der Hauptkommissar unterbrach sie nicht.

»Wieso hatte das Mordopfer unsere Nummer in seinem Handy gespeichert? Und was bedeuten die Buchstaben vor der Telefonnummer? Wenn er diese Nummer benutzt hat, dann müssten wir diese Person doch kennen. Hat er schon immer in Kempten gewohnt? War er einmal in Hamburg zu Besuch? Wo hat er gearbeitet?« Jessica fühlte sich plötzlich ganz in ihrem Element. Der Fall interessierte sie brennend und sie wollte Antworten auf all diese Fragen, wollte die Verbindung verstehen, die angeblich zwischen ihrer Familie und dem Opfer bestand.

»Führen Sie jetzt die Ermittlungen, Frau Grothe?«, fragte der Hauptkommissar belustigt, schnappte sich sein Notizbuch vom Tisch und verstaute es in seiner Jacke. »Das überlassen Sie mal lieber den Profis.«

Jessicas Handy klingelte und verhinderte somit die abfällige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Sie entschuldigte sich, stand auf und lief in den Flur zu ihrem Mantel, in dem ihr Handy steckte.

»Hallo?«, meldete sie sich ganz neutral, denn auf dem Display erschien keine Nummer. Der Anrufer war ihr also vermutlich nicht bekannt, und Jessica wollte unbekannten Anrufern nicht auch gleich ihren Namen verraten.

»Ich bin’s.« Eine Männerstimme meldete sich leise aus dem Telefon. Im Hintergrund rauschte es laut.

»Wer ist ›ich bin’s‹?«, fragte Jessica und spürte bereits wieder, wie Wut in ihr aufkochte. Dieser Tag, der eigentlich ruhig und besinnlich sein sollte, hatte eine Wendung genommen, die ihr gar nicht gefiel. Und weil sie nichts an ihrer Situation bessern konnte, war sie einfach nur genervt und ungnädig.

»Martin Hansen«, gab der Mann an und Jessica erkannte ihn sofort. »Hallo, Jess. Du wunderst dich sicher, dass ich anrufe.«

Der beste Freund ihres verstorbenen Schwagers Wolfgang war immer ein gern gesehener Gast auf jeder Familienfeier, jeder Party und jedem Sofa-Fernsehguck-Wochen­ende gewesen. Er gehörte beinahe schon zum Inventar der Wohnung. Doch seit dem Tod von Wolfgang hatte er sich nicht mehr bei den beiden Schwestern gemeldet. Bei der Beerdigung hatten sie ihn das letzte Mal gesehen. Jessica verstand damals sogar die Distanz, die er aufbaute. Martin Hansen fühlte sich genauso schuldig am Tod seines Freundes wie auch Jessica sich schuldig fühlte, den Mord nicht aufklären zu können. Außerdem war er schließlich hauptsächlich Wolfgangs Freund gewesen und nicht ihrer oder der ihrer Schwester. Doch warum meldete er sich ausgerechnet jetzt?

»Martin? Das ist aber jetzt eine Überraschung«, staunte sie deshalb wirklich überrascht. »Was gibt es? Wie geht es dir denn? Du hast dich lange nicht gemeldet.« Doch es war kein Vorwurf in ihren Worten. Sie freute sich wirklich, seine Stimme zu hören.

»Stimmt. Tut mir auch leid«, stammelte er und seine leise Stimme übertönte kaum das laute Rauschen im Hintergrund.

»Sitzt du im Auto?«, fragte Jessica, schaute sich dann aber beinahe ertappt zu den beiden Beamten um, die immer noch an ihrem Esstisch saßen.

»Nee … ja, schon. Aber ich stehe auf einem Rastplatz an der Autobahn. Ganz schön laut hier«, bestätigte Martin, der ihre Frage richtig gedeutet hatte.

»Ach, du stehst auf dem Rastplatz«, wiederholte Jessica betont laut und deutlich und grinste dann in Richtung Wohnzimmer. Hauptkommissar Forster grinste zurück, Kommissar Willig nickte anerkennend.

»Ja«, sagte Martin Hansen und sprach seinerseits jetzt auch etwas lauter. Er vermutete wohl eine schlechte Verbindung, weil Jessica beim Sprechen beinahe schrie. »Ich bin auf dem Weg nach Kempten … also eigentlich nach Österreich. Ähm, ich dachte, wir könnten uns sehen und ich mache hier einfach eine Nacht Pause.«

»Suchst du einen Platz zum Schlafen? Du weißt, du bist bei uns jederzeit willkommen«, verkündete Jessica fröhlich und freute sich bereits jetzt auf ein Wiedersehen mit Martin.

»Nee, danke«, gab ihr ehemaliger Kollege zurück. »Ich hab mich schon um eine Pension bemüht. Danke trotzdem für dein Angebot. Hast du heute Abend Zeit?«

Verwundert starrte Jessica auf den großen Garderobenspiegel im Flur. Dieser Besuch war also geplant und keine spontane Entscheidung, wie sie erst vermutet hatte. Doch vorerst würde sie sich auf ein Treffen einlassen. Martin würde schon mit der Sprache rausrücken, wenn sie ihm erst einmal gegenübersaß.

»Komm heute Abend doch in den ›Feuertempel‹ in der Innenstadt. Ich arbeite dort, finde aber sicher ein paar Minuten, um mit dir zu quatschen. Im Anschluss können wir dann ja noch woanders hingehen, wenn du magst«, schlug sie vor, beendete dann nach wenigen weiteren Sätzen das Gespräch und ging zurück zu den beiden Beamten an ihrem Esstisch.

»Vielleicht war dieser Herr Vollmer, der Ermordete, ein Bekannter meines verstorbenen Schwagers«, sinnierte Jessica nachdenklich und ließ sich auf ihrem alten Platz am Esstisch nieder. Die Sache war äußerst mysteriös und warf so viele Fragen auf. »Wie viele Gespräche wurden denn mit der Hamburger Nummer geführt? Und vor allem … wann und wie lange wurde telefoniert?« Fragend sah Jessica erst Herrn Forster, dann Herrn Willig an.

»Meine liebe Frau Grothe«, erklärte Hauptkommissar Forster mit einem weisen und überheblichen Lächeln auf seinen Lippen. »Sie können sicher ganz wunderbar Bestellungen aufnehmen und ganz ausgezeichnet bedienen«, sagte er arrogant. »Mein Kollege und ich konnten uns von letzterem höchst persönlich überzeugen. Doch bitte, versuchen Sie nicht, sich Gedanken über etwas zu machen, von dem Sie überhaupt keine Ahnung haben.« Der Beamte erhob sich gemächlich vom Stuhl und sein Kollege Willig tat es ihm eifrig und ein wenig hektisch gleich.

»Machen Sie Ihre Arbeit und wir unsere, okay?«

Jessicas Blicke waren unerbittlich und wütend, doch sie schwieg und blieb sitzen.

»Ich erwarte Ihre Schwester morgen um 10 Uhr auf der Wache«, bestimmte der Hauptkommissar ernst und Jessica vermutete, dass er selten keinen Erfolg mit diesen Befehlen hatte. Er wirkte in diesem Moment respekteinflößend und stark. »Ich werde auch Frau Reuter zu der Telefonnummer befragen müssen. »Als Jessica immer noch keine Reaktion zeigte, lächelte Florian Forster wieder überheblich.

»Ich finde auch allein hinaus, bleiben Sie ruhig sitzen, Frau Grothe. Vielen Dank für Ihre Mühen und das Gespräch.«

Mit diesen Worten verschwand er durch die Haustür, ohne sich noch einmal umzudrehen, und nahm seinen Kollegen mit, der wie sein Schatten an ihm klebte.

Schattenklamm

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