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Kapitel 5
ОглавлениеVor 20 Jahren in einer idyllischen Hamburger Nebenstraße vor einem imposanten Einfamilienhaus im schicken Vorgarten …
Der kleine Junge mit dem dunkelblonden Haar und den auffallend leuchtend grünen Augen kniete im nassen Gras und weinte. Die eiskalte Feuchtigkeit drang durch seine neue hellbraune Cordhose und er spürte die beinahe frostige Kälte an seinen Knien und Schienbeinen, doch er konnte jetzt nicht aufstehen. Leise schluchzend wiegte er seinen Oberkörper mechanisch vor und zurück. Von weitem sah es aus, als würde er beten und dazu monoton ein fast stummes Lied summen, doch seine Bewegungen waren nicht weich und fließend, sondern hektisch und schnell. In seinen Armen hielt er etwas Weiches. Weißes struppiges Fell quoll oben und unten über seine fest vor den Bauch gepressten dünnen Ärmchen. Schlaff und leblos lag der kleine Hund auf seinem Schoß und all das fröhliche Bellen und wilde Herumgetobe waren mit diesem winzigen Körper gestorben.
Er hatte aufgepasst. Niemals hatte er seinen Freund aus den Augen gelassen oder ihn allein im Garten spielen lassen. Jetzt war er tot.
Zärtlich streichelte er seinem Liebling den Kopf und sein Wimmern verwandelte sich schließlich wirklich in einen Singsang aus Schlaflied und Totengesang. Die winzigen Augen des quirligen Mischlings waren fest geschlossen. Der Junge hatte sie zugedrückt, weil sein Freund ihn so angsterfüllt und gequält aus seinem toten Körper angestarrt hatte. Außerdem hatte er dem Hund den weißen Schaum mit dem Ärmel seiner moosgrünen Jacke von den Lefzen gewischt und den Kopf liebevoll auf seinen rechten Unterarm gebettet.
Ob es einen Hundehimmel gab? Verstohlen sah er nach oben und erblickte eine graue Wolkendecke, aus der es müde nieselte. Auch der Himmel weinte um den süßen Hund.
Jetzt war niemand mehr da, der ihn mittags begrüßte, wenn der kleine Junge aus der Schule kam. Und sein Papa würde vielleicht sogar froh sein, wenn der alte Kläffer, wie er ihn nannte, endlich weg war. Jeden Abend, wenn sein Vater von der Arbeit kam, schimpfte er auf den fröhlichen Hund, der wild um seine Beine wuselte und sich auf den letzten Spaziergang des Tages freute. Abends durfte der kleine Junge nicht mit seinem Freund nach draußen, weil es zu gefährlich war. Der Junge hatte keine Angst vor der Nacht und wäre auch gegangen, aber abends musste immer sein Vater gehen, weil er groß und stark war und niemand ihm im Dunkeln etwas tun würde.
Wieder weinte der Junge und Tränen und Rotz tropften über sein Kinn auf das struppige Fell des Tieres. Wäre er doch auch so stark wie sein Vater, dann wäre sein kleiner Freund jetzt noch bei ihm. Dann hätte er noch besser auf ihn achtgeben können und vielleicht hätte sein Vater den Hund dann doch gemocht, weil er ihm keine Arbeit gemacht hätte. Doch der kleine Junge wusste, dass sein Vater nicht um den Mischling weinen würde. Er hatte auch nicht geweint, als die Mama gestorben war. Sein Gesicht war versteinert und wütend gewesen, als er von der Beerdigung kam, zu der der Junge nicht mitgehen durfte, weil es nicht richtig wäre. Damals hatte er sich schuldig gefühlt. Seine Mutter war gestorben, weil er nicht gut genug war, weil sie sich immer so sehr ärgern musste über ihn, weil er nie aufräumte und oft sein Gemüse nicht essen wollte. Jetzt war sie schon so lange tot, doch noch immer vermisste er sie schrecklich. Papa hatte sie schnell vergessen, war morgens wieder früh zur Arbeit gegangen und spät heimgekommen. Alles war wieder wie früher, nur Mama fehlte. Sein Vater würde auch nicht um den Hund weinen. Sein Vater weinte niemals.
An den Wochentagen war der »Feuertempel« nur wenig besucht. Manche Gäste kamen zum Abendessen oder tranken ein kleines Feierabendbier, doch nur sehr wenige blieben länger als 21 Uhr. Schließlich mussten die meisten der Gäste am folgenden Tag früh raus. Die wenigen Nachtschwärmer, die es länger in der Kneipe hielt, saßen schließlich hauptsächlich direkt an der Bar und bereiteten allerhöchstens Paula ein wenig Arbeit.
Heute allerdings hatte Paula sich krankgemeldet und der Chef persönlich bediente hinter dem Tresen. Markus Mertens war klein, etwas untersetzt und hatte sich deutlich abzeichnende Geheimratsecken in seinem dunkelbraunen Haar. Erste graue Härchen zierten seinen Kopf, doch keiner konnte sagen, ob sich die grauen Haare oder die Glatze zuerst durchsetzen würden. Ein viel zu großer und buschiger Schnauzbart unter der etwas platten Nase ließen ihn immer mürrisch und schlecht gelaunt aussehen, dabei war er eigentlich eine Frohnatur, wenn man auf seine Art von Humor stand. Er liebte abfällige Witze über Frauen, Behinderte und Ausländer, betonte dennoch immer wieder voller Inbrunst, er wäre der sozialste und liberalste Mensch, den man sich denken könnte. Jessica hielt ihn für einen Idioten und ihre Meinung dazu selbstverständlich immer zurück.
»Glück gehabt, junge Frau«, empfing Markus Mertens Jessica, als diese hinter den Tresen trat, um die Einnahmen des heutigen Tages an der Kasse abzurechnen. Der Abend hatte sich gelohnt und obwohl es erst kurz nach 21 Uhr war, passte das Trinkgeld und entschädigte sie für jeden dummen Spruch, den sie sich heute hatte anhören müssen. Im Laufe der letzten Wochen hatte Jessica gelernt, dass es hier nicht darauf ankam, immer freundlich zu lächeln und die Gäste höflich und zuvorkommend zu bedienen, sondern darauf, wie frech, kokett und lustig man auf die Kundschaft einging, um ihnen mehr Trinkgeld zu entlocken. Für den Gastraum waren heute nur Jessica und Eva eingeteilt. Ihre Kollegin Eva bediente nach wie vor zwei Tische mit Gästen direkt am großen Panoramafenster, das den Blick in die Fußgängerzone und Einkaufsstraße von Kempten freigab. Boutiquen reihten sich hier an Blumenläden, Imbisse und Kneipen. Um diese Uhrzeit allerdings war der grau gepflasterte Weg zwischen den Geschäften fast menschenleer. Der Bereich der Kneipe, in dem Jessica heute gearbeitet hatte, war jetzt ebenfalls leer. Da vermutlich keine weiteren Gäste kommen würden, griff Jessica nach dem alten Putzeimer unter dem Tresen, um ihre Tische abzuwischen, bevor sie dann von ihrem Chef in den hinteren Bereich geschickt wurde, um in der Küche zu helfen oder sein Büro zu putzen.
»Bist du taub, Mädel?«, blaffte Markus Mertens sie an, stapfte mit zwei großen Schritten zu ihr hinüber und baute sich direkt vor ihr auf. Ihr Chef war etwa einen halben Kopf kleiner als sie selbst, dafür aber doppelt so breit. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und grinste breit. »Lass das Putzen, das macht heute Eva. Die hat eh nix zu tun.«
Jessica stellte den Eimer wieder auf seinen Platz und richtete sich dann zu voller Größe auf.
»Gut«, sagte sie von oben herab und lächelte zurück. »Und was soll ich dann jetzt machen?«
»Du, Fräulein, gehst jetzt nach Hause. Überstunden abbummeln«, verkündete Mertens selbstgefällig, drehte sich um und ließ sie einfach stehen.
Wenige Minuten später kam Jessica in Jeans und Wollpullover aus dem Personalbereich der Kneipe zurück in den Ausschankraum, durchquerte den Gastraum auf dem Weg zur Tür und kramte dabei in ihrer Umhängetasche auf der Suche nach ihrem Autoschlüssel. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Arbeitskleidung erst hier anzuziehen, und auch für den Rückweg bevorzugte sie wärmere und bequemere Klamotten. Ende Oktober war es eindeutig bereits zu kalt für kurze Röcke und dünne Blusen.
Als sie die Tür erreicht hatte und die Hand gerade auf den Türknauf legte, hörte sie jemanden nach ihr rufen.
»Frau Grothe? Bitte warten Sie.«
Fragend schaute Jessica in die Richtung, aus der der Ruf kam.
»Ach«, bekam sie schließlich verwundert heraus, schloss die Tür wieder und ging auf den letzten besetzten Tisch der Kneipe zu. »Hauptkommissar Forster. Was für eine Überraschung.« Beinahe hätte sie, ganz nach Bedienungsmanier, breit und herausfordernd gelächelt, doch sie hielt sich zurück und verkniff sich jede Form von aufgesetzter Freude und Freundlichkeit.
»Ich würde mich freuen, wenn Sie sich kurz zu mir setzen, Frau Grothe«, sagte Florian Forster freundlich, zeigte auf den freien Platz am Kopfende des Tisches direkt neben sich und fuhr dann fort: »Ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«
Jessica zögerte, setzte sich dann dem Beamten gegenüber auf einen weiteren freien Stuhl am Tisch und erwiderte das belustigte Lächeln auf dem Gesicht des Kommissars.
»Haben Sie denn immer noch nicht Feierabend, Herr Hauptkommissar?«, fragte Jessica beinahe schnippisch. »Was wollen Sie denn noch wissen? Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich das Opfer nicht kenne.«
»Es geht nicht um den Fall«, erklärte Florian Forster, griff nach dem fast leeren Bierglas vor sich auf dem Tisch und trank es aus. »Möchten Sie auch etwas trinken?«, fragte er höflich und winkte Eva heran, die nur darauf gewartet zu haben schien, denn beinahe zeitgleich stand sie schon neben dem Tisch und zückte ihren Zettelblock.
»Hi, Jessy«, grüßte sie ihre Kollegin freundlich, dann galt ihre Aufmerksamkeit einzig und allein dem Hauptkommissar.
»Ich hätte gern noch eine Halbe und …«, er sah Jessica fragend über den Tisch hinweg an.
»… bringst du mir ein Wasser, Eva?«, wendete sich Jessica jetzt direkt an ihre Kollegin. »Das alles hier geht auf mich«, sagte sie und deutete mit der Hand auf das jetzt leere Glas ihres Gegenübers.
Eva machte ein enttäuschtes Gesicht und ging. Sie fürchtete scheinbar um ihr Trinkgeld, wenn sie die Rechnung, wie Jessica es wollte, auf ihr Personalkonto schrieb und nicht abrechnen durfte. Alle Getränke, die das Personal während der Arbeitszeit trank, wurden mit eventuellen Überstunden verrechnet und waren selbstverständlich billiger als im normalen Verkauf. Markus Mertens wusste, wie man Geld machte.
»Sie sind also weder wegen des Falles noch zufällig hier«, analysierte Jessica treffend. »Was verschafft mir also die Ehre Ihres Besuches, Herr Hauptkommissar?«
Florian Forster beugte sich nach vorn, verschränkte seine Arme vor sich auf dem Tisch und stützte seinen Körper auf die Ellenbogen, dann legte er seinen Kopf leicht schräg und lächelte verstohlen, bevor er seinen Blick abwandte und aus dem Fenster sah. Der Kommissar hatte ein markantes Profil, eine gerade Nase, einen leichten Ansatz von Bart und dunkle Augen mit für einen Mann sehr langen Wimpern. Seine Haare waren beinahe schwarz, im Nacken kurz geschnitten, doch ansonsten recht lang und leicht gewellt. Jessica schätzte ihn auf Mitte 30, aber nicht nach seinem Aussehen, sondern mehr nach der Tatsache, dass er bereits Hauptkommissar war. Rein äußerlich sah er jünger aus.
»Ich habe Sie falsch eingeschätzt«, ergriff Herr Forster schließlich das Wort und sah ihr jetzt direkt in die Augen. Jessica hielt seinem Blick stand. »Ich kann Menschen eigentlich ganz gut beurteilen. Bei Ihnen habe ich mich geirrt, Frau Hauptkommissarin Grothe.« Jetzt grinste er und zeigte eine ganze Reihe ebenmäßiger und weißer Zähne. Dann biss er sich auf die Unterlippe und wartete gespannt auf Jessicas Reaktion.
»Sie haben also recherchiert«, stellte sie zaghaft lächelnd fest. »Die Spur in Richtung Hamburg ist also doch nicht so unbedeutend.«
»Wer weiß das schon«, erwiderte Florian Forster leise und starrte sie weiterhin an. Er wollte jetzt nicht über die Arbeit sprechen. Viel lieber wollte er, dass sie weiterredete. Ihre Stimme war einfach großartig, melodisch mit einem leicht erotischen Unterton, der ihn faszinierte und fesselte zugleich. Warum war ihm ihre Stimme beim letzten Gespräch nicht aufgefallen? Außerdem liebte er, wie ihre Lippen sich bewegten, wenn sie sprach. »Ich jedenfalls muss mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte er schließlich, als von ihr nichts kam.
»Wofür?«
Viel zu kurze Frage.
»Für meine beweismangelnde Einschätzung«, gab er zu und überlegte fieberhaft, wie er sie zum Reden bringen konnte, denn sie schwieg. Zurzeit sah es fast so aus, als würde das Gespräch gleich zu Ende sein.
Die Bedienung brachte die Getränke.
»Wieso haben Sie Ihren Beruf aufgegeben?«, fragte er und sah im gleichen Moment in ihrem Gesicht, dass genau das die falsche Frage war. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und sie kniff fest ihren Mund zusammen. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und schaute jetzt ihrerseits aus dem Fenster.
»Ich hatte meine Gründe und das ist privat«, erklärte sie nüchtern, dann griff sie nach dem Wasserglas und trank es in einem einzigen Zug leer. »Ich geh dann jetzt mal …«
Noch bevor sie sich erheben konnte, griff Florian Forster nach ihrem Arm und schüttelte den Kopf.
»Bitte bleiben Sie«, flüsterte er, ließ sie aber schnell wieder los und legte seine Hand zurück auf den Tisch. »Ich …«
Jessica entspannte sich etwas, lehnte sich langsam in ihrem Stuhl zurück, überschlug ihre Beine, legte beide Hände auf ihr Knie und wartete geduldig.
Florian Forster starrte sie an und suchte nach den richtigen Worten.
»Ich …«, begann er erneut und rieb sich dann beruhigend mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand über seinen Nasenrücken. »Um ehrlich zu sein«, gab er schließlich zu und konnte nicht umhin, wieder breit zu grinsen, allerdings schwang dieses Mal ein Hauch von Schüchternheit in dieser Geste mit, »ich wollte Sie eigentlich einfach nur wiedersehen.«
Sein Geständnis verschlug Jessica die Sprache. Mit leicht geöffnetem Mund starrte sie den Kommissar verwundert an, fing sich schließlich und schüttelte zaghaft den Kopf.
»Also«, sagte sie schließlich verblüfft, »das hätte ich jetzt nicht erwartet.«
»Und? Wo ist er?« Neugierig schaute Susanne links und rechts an ihrer Schwester vorbei, als diese am Morgen aus ihrem Zimmer im Keller kam und müde die Treppe hinaufschlurfte. Sie hatte sehr lange wach gelegen und ihr Kopf schmerzte höllisch aufgrund des Schlafmangels und der unermüdlichen Gedanken über den gestrigen Abend.
»Oh Mann, Susanne! Du verbreitest eine Hektik«, stöhnte Jessica, schob ihre Schwester mit einem Arm beiseite und ging durch den kleinen Flur in die Küche. »Wo sind die Aspirin?«
Susanne tanzte aufgeregt um sie herum.
»Hast du Kopfweh?«, fragte sie eher belustigt als bedauernd und zeigte dann auf den Hängeschrank über der Küchenzeile.
Jessica öffnete den Schrank, kramte in den diversen Medizinverpackungen herum und fand schließlich die Schmerztabletten. Sie drückte gleich zwei aus der Verpackung und wollte gerade ein Glas aus dem Schrank daneben holen, als ihre Schwester ihr schon eine mit Wasser gefüllte Tasse unter die Nase hielt.
»Und jetzt erzähl«, bestimmte sie aufgeregt. »Ist er noch da?«
»Wer ist noch da?« Genervt schluckte Jessica die Pillen und verzog angewidert das Gesicht. »Was ist denn mit dir los?«
Triumphierend lächelnd lehnte sich Susanne an den Rand der Spüle, presste ihre Handflächen vor ihrer Brust zusammen und tippte beschwörend die Zeigefinger aneinander, eine Eigenart, die sie immer hatte, wenn sie besonders aufgeregt war.
»Ich war gestern noch wach, als du nach Hause gekommen bist. Übrigens viel früher als erwartet, aber das ist jetzt egal«, plapperte sie wild drauflos und Jessica war es in diesem Moment ein Rätsel, wie ihre Schwester als Anwältin jemals ein vernünftiges Plädoyer zustande brachte. »Und ich habe dich reden und lachen gehört.« Jetzt nickte sie bestimmend und wartete auf eine Erklärung.
»Ach so«, sagte Jessica müde, rieb sich mit der Faust über ihr Auge und gähnte herzhaft. »Das meinst du. Ich habe telefoniert«, erklärte sie und wollte die Küche wieder verlassen, doch Susanne versperrte ihr den Weg.
»Nee, so leicht kommst du nicht davon. Mit wem hast du denn telefoniert? Gib’s zu, es war ein Mann!«
»Oh Mann, Susanne!«, stöhnte Jessica erneut. »Ja, es war ein Mann. Ich habe mit Martin aus Hamburg gesprochen, nur mal so. Seit er vor kurzem hier in Kempten war, ruft er ab und zu mal an. War ja auch schade, dass er sich davor so lange nicht gemeldet hat. Er gehörte schließlich fast schon zur Familie.«
Enttäuscht trat Susanne beiseite und ließ ihre Schwester endlich aus der Küche und aus ihren Fängen. »Und ich dachte, du hättest endlich mal jemanden abgeschleppt«, brummte sie fast tonlos vor sich hin. »Da arbeitest du schon in einer Kneipe und lernst trotzdem keinen Mann kennen.«
Doch dann änderte sich urplötzlich ihre Stimmung und sie strahlte übers ganze Gesicht.
»Wie geht’s denn Martin? Was hat er erzählt? Kommt er mal wieder nach Kempten?«
Jessica berichtete ausführlich über ihr Telefonat mit Martin und erwähnte ganz kurz, dass die Polizei in Hamburg im Mordfall Wolfgang Reuter immer noch im Dunkeln tappte. Sie wollte ihre Schwester nicht beunruhigen oder gar traurig machen, weil man den Mörder ihres Ehemannes nun vermutlich gar nicht mehr überführen würde. Der Mord war jetzt beinahe ein Jahr her und war von Anfang an undurchsichtig und mehr als rätselhaft gewesen. Es gab von Beginn an wenig Hoffnung auf eine Klärung, deshalb lohnte es kaum, sich weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Jessica selbst allerdings dachte fast täglich über diesen Fall nach, obwohl sie bereits seit Monaten nicht mehr auf dem Laufenden gewesen war. Immer und immer wieder überlegte sie, ob sie etwas vergessen oder etwas übersehen hatte, doch sie konnte keinen Fehler finden.
»Hier in Kempten kommen sie scheinbar mit dem Baumarktmörder auch nicht voran«, sagte Jessica schließlich, mehr, um vom Thema Wolfgang abzulenken, als das Gespräch weiter aufrechtzuerhalten. Am liebsten hätte sie sich jetzt verabschiedet und die nächsten Minuten unter der heißen Dusche verbracht, um ihren Kopf frei zu bekommen und endlich richtig wach zu werden. »Florian hat erzählt, dass der Fall sehr zäh ist und wenig Hinweise aufwirft. Sie tappen scheinbar auch im Dunkeln.«
Susanne, die neues Futter für ihr heutiges Lieblingsthema witterte, lächelte zufrieden.
»Florian?«, fragte sie amüsiert. »Du hast den Hauptkommissar noch einmal gesprochen? Interessant.«
»Was soll das denn nun schon wieder«, polterte Jessica und überspielte so ihre aufsteigende Unsicherheit. Sie hatte sich verplappert, fühlte sich ertappt und genötigt, sich zu rechtfertigen. »Herr Forster war gestern im ›Feuertempel‹ und ich habe mich kurz mit ihm unterhalten.«
»Klar«, lachte ihre Schwester und knuffte ihr liebevoll mit der Faust in den Bauch. »Du machst mir nichts vor, Schwesterherz.« Dann nickte sie anerkennend und zwinkerte. »Gute Wahl, Jess. Der Kerl sieht verdammt gut aus und ist dazu genau dein Kaliber.«
»Mein Kaliber? Blödsinn«, erklärte Jessica bestimmt. »Wir duzen uns, ja gut. Das war’s aber auch. Und so schnell sehen wir uns bestimmt nicht wieder.«
Mit dieser Aussage hatte Jessica tatsächlich recht. In den nächsten Tagen und Wochen kam nicht das kleinste Lebenszeichen von Florian. Anfangs hatte Jessica auch nicht damit gerechnet, doch jetzt ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie verstohlen zur Eingangstür des »Feuertempels« spähte, sobald diese sich öffnete und Gäste in die Kneipe strömten. Mindestens fünfmal täglich zog sie ihr Handy aus der Tasche, nur um kurz zu schauen, ob es einen eventuell verpassten Anruf anzeigte, und zweimal war sie bereits am Gebäude der Kemptener Kriminalpolizei vorbeigefahren, um zu überprüfen, ob der Hauptkommissar vor dem Gebäude geparkt hatte. Dabei wusste sie nur, dass er einen dunklen VW Kombi fuhr und in Kempten wohnte, also das Auto auch hier gemeldet war, mehr leider nicht. Gut, Florian Forster hatte ihr seine Karte mit der Dienstnummer gegeben und hinten drauf seine private Handynummer aufgeschrieben, doch so nötig hatte Jessica es nicht. Niemals würde sie einem Mann hinterherlaufen. Wenn der Hauptkommissar das Interesse an ihr verloren hatte, dann war es eben so. Sie jedenfalls würde sich nicht melden.
So richtig viel Beziehungserfahrung hatte Jessica sowieso nicht vorzuweisen. Ihre einzig länger dauernde Beziehung war die mit Kai gewesen, Student der Wirtschaftswissenschaften, groß, schlaksig und unsportlich. Über drei Jahre teilten sie die Wohnung und das Bett und alles schien in Ordnung zu sein, bis Kai schließlich urplötzlich eines Abends beschloss, seine Koffer zu packen und sie zu verlassen. Jessica wusste bis heute nicht, was sie damals falsch gemacht hatte. Für sie war Kai die große Liebe gewesen, der Mann, den sie heiraten und mit dem sie eine Familie gründen wollte. Sie hatten sich eigentlich immer gut verstanden, die wenige Freizeit, die sie aus beruflichen Gründen hatten, immer miteinander verbracht und sich stets aufeinander verlassen können. Und dann plötzlich zog er aus.
Kai hatte sich danach nie wieder gemeldet.
Nach diesem Desaster waren Jessicas folgende Beziehungen kaum der Rede wert gewesen. Mit ein paar wenigen Männern hatte sie es probiert, doch keiner hatte sie mehr als ein paar Wochen interessiert. Leider gehörte Jessica zu den Frauen, die sehr wählerisch waren und Fehler, eigene genau wie die anderer, nur schwer akzeptieren konnten.