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Kapitel 2

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Wieder und wieder stieß die kleine Handschaufel in die kalte, schwarze Erde und grub kleine Löcher von etwa 15 Zentimeter Tiefe. Eins neben dem anderen.

Jessica Grothe kniete im viel zu hohen Gras vor dem noch recht kargen Beet am Grundstücksrand, hob die Hand, in der sie die Schaufel hielt, und wischte sich mit dem Ärmel ihrer Jacke den Schweiß von der Stirn. Dunkler Sand rieselte auf ihre Jeans.

Es war Oktober, ein sonniger Tag, doch der kalte Wind ließ einen frösteln, wenn man sich nicht einhüllte in warme Klamotten oder sich ausreichend bewegte. Wenn man beides tat, dann kam man ganz schön ins Schwitzen.

»Tante Jessi?« Das kleine, blonde Mädchen neben ihr sah sie fragend an. »Warum pflanzen wir die Blumen jetzt, wo doch schon bald der Winter kommt? Blumen mögen doch den Winter nicht, oder?« Auf allen vieren kroch die Kleine näher zu Jessica und setzte sich neben sie ins Gras, dann zog sie den Korb mit den Tulpenzwiebeln zu sich heran, griff hinein und versenkte eine der Zwiebeln in einem der noch freien Löcher.

»Das stimmt, Svenja«, gab ihre Tante zu. »Doch die Tulpen bleiben im Winter unter der Erde und sobald es im Frühjahr warm wird, kommen sie heraus und blühen in den schönsten Farben. Tulpen und Krokusse sind die ersten bunten Blumen zu Beginn der warmen Jahreszeit«, erklärte sie, nahm dann ebenfalls eine Tulpenzwiebel aus dem Korb und hielt sie ihrer Nichte vors Gesicht. »Hast du daran gedacht, dass du die Zwiebeln immer mit dem Popo nach unten in die Erde legst?«

Svenja kicherte: »Klar, sonst wachsen sie ja in die falsche Richtung und kommen in Australien heraus.« Dann nahm sie Jessica die Zwiebel aus der Hand und stopfte sie in ein Erdloch. »Gute Nacht, kleine Blume«, sagte sie und füllte das Loch mit Erde auf. »Bis zum Frühling, dann sehen wir uns wieder.«

Jessica schmunzelte. Die Tochter ihrer Schwester Susanne war ein so fröhliches, liebreizendes Mädchen, überhaupt nicht schüchtern, doch höflich und stets darauf bedacht, anderen zu helfen. Und dabei war sie gerade erst sechs Jahre alt. Vor ein paar Wochen wurde sie eingeschult und ging seit diesem Tag jeden Morgen stolz und erhobenen Hauptes in die nahe liegende Grundschule, erledigte sorgfältig die Hausaufgaben und war dann stets mit Kindern aus der Nachbarschaft oder aus ihrer Klasse zum Spielen verabredet. Susanne konnte wirklich stolz auf sie sein. Auf ihre beiden Kinder, denn auch ihr kleiner Sohn Tobias entwickelte sich prächtig. Tobias war noch nicht ganz drei Jahre alt und besuchte einen Kindergarten am Stadtrand. Trotz anfänglicher Befürchtungen, er würde nicht dort bleiben wollen, hatte auch bei ihm alles wunderbar geklappt und er hatte sich ohne Probleme gut in die neue Gruppe integriert.

»Meinst du, Oma und Opa kommen nicht doch schon heute?« Svenja drückte die letzte kleine Blumenzwiebel in die Erde und rieb dann ihre schwarzen Hände an ihrer Cordhose ab. »Wenn der Zug ganz schnell fährt, dann kommen sie vielleicht früher«, sagte sie hoffnungsvoll.

Gespielt entsetzt schlug Jessica die Hände über dem Kopf zusammen: »Himmel, nein. Ich hoffe, die beiden lassen sich noch ein bisschen Zeit. Wir haben doch noch nicht einmal den Kuchen gebacken.«

Svenja nahm die Hand ihrer Tante und ließ sich von ihr hochziehen. »Ja«, nickte sie zustimmend. »Gut, wenn Oma und Opa erst morgen kommen. Falls der Kuchen anbrennt, können wir morgen immer noch einen kaufen.«

Das heiße Wasser lief in breiten Rinnsalen über ihren schlanken Körper und wärmte und belebte sie gleichermaßen. Jessica liebte es, richtig heiß zu duschen. So heiß, dass es beinahe schon wehtat. So heiß, dass dicke Nebelschwaden die Luft im ganzen Badezimmer in eine trübe milchig-matte Soße verwandelte, warmer Sauerstoff beim Atmen in ihre Lungen strömte und sie auch von innen wärmte. Nachdem das Wasser auch die letzten Reste Seifenschaum aus ihrem schulterlangen Haar gespült hatte, griff sie nach der Mischbatterie und drehte den Hebel von links ganz nach rechts, sodass die eben noch brühheißen Tropfen schlagartig um gute 30 Grad kälter auf ihren Körper prasselten. Wie immer biss sie fest die Zähne zusammen und unterdrückte den Schmerzensschrei, der ihrer Kehle entrinnen wollte. Scharf sog sie die Luft durch die Nase, zählte rückwärts von zehn bis null und schaltete dann die Dusche aus. Sie stieg aus der schmalen Duschkabine. Ihre Haut war aufgrund der angeregten Durchblutung schön gerötet und schimmerte von unzähligen Wassertropfen, ihre Haare klebten dunkel und schwer an ihrem Kopf. Eigentlich waren sie blond und wellten sich recht wild um ihr Gesicht, fielen ihr über die Augen und waren kaum zu bändigen. Also wurden sie meist morgens mit einem Zopfband auf dem Hinterkopf zusammengebunden und erst am Abend wieder befreit. Ein Pferdeschwanz war praktisch, unkonventionell und pflegeleicht. Er ersparte ihr viele Stunden Haarpflege wie Kämmen, Föhnen oder womöglich häufige Friseurbesuche und machte das Leben um einiges leichter.

Sie ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt, um die Raumluft in dem winzigen Badezimmer wieder klar zu bekommen. Das viel zu kleine Fenster reichte in den Garten hinaus. Es war von außen nicht einsehbar, da es unter der Erde lag und lediglich ein kleiner Schacht Licht von der Erdoberfläche zu ihr in den Keller leitete.

Schon beim Einzug vor vier Monaten war sofort klar, dass sie mit ihrer Habe in den Kellerraum des Reihenhauses ziehen würde, damit ihre Schwester mit ihren zwei Kindern im ersten Stock jeder ein Zimmer bewohnen konnte und die ganze kleine Familie zusammenlebte. Die drei brauchten sich gerade jetzt sehr.

Gut, im Gegensatz zu ihrem Leben früher hatten sie sich mit diesem Vorstadtreihenhaus um einiges verschlechtert, doch es erfüllte seinen Zweck, war immerhin bezahlbar und weit genug weg, um vom alten Leben Abstand zu bekommen und wieder Ruhe zu finden.

Auch Jessicas Leben hatte sich verschlechtert. Von einer Dreizimmer-Einliegerwohnung mit eigener Küche und großem Badezimmer in einer geräumigen Altbauvilla in Hamburg-Winterhude war sie in dieses Kellerzimmer mit winzigem Fenster im schönen Allgäu geraten. Immerhin hatte sie ein eigenes Badezimmer und einen eigenen Zugang über eine Kelleraußentreppe. Auch der Ort, in dem sie jetzt wohnten, war schön, bot alle Annehmlichkeiten einer mittelgroßen Stadt und, was besonders wichtig war, hatte eine direkte Bahnverbindung in die alte Heimat. Der Hauptbahnhof Kempten im Allgäu war nur zirka acht Zugstunden vom Hauptbahnhof Hamburg entfernt.

Doch eines war gleich geblieben. Wie bereits in Hamburg teilte sie sich ein gemeinsames Haus mit ihrer Schwester und den beiden Kindern.

Jessica griff nach dem großen Badehandtuch und trocknete sich sorgfältig ab, dann öffnete sie den Spiegelschrank über dem kleinen Waschbecken und holte ihre Schminktasche mit dem Lidschatten und dem Eyeliner heraus, lehnte sich dichter an den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht.

Sie hasste es, sich für die Arbeit zu schminken. Es war irgendwie nicht richtig und sie kam sich verkleidet vor. Eigentlich hatte sie immer gedacht, sie wäre schön genug ohne diese Maskerade, doch ihr neuer Chef bestand darauf.

»Wenn ich Sie einstellen soll, dann müssen Sie schon etwas mehr auf jugendlich machen«, hatte er gesagt und süffisant gelächelt. »Immerhin sind sie schon über 30!«

Ihr 30. Geburtstag war am Tag des Vorstellungsgespräches gerade zwei Tage her und bis zu diesem Tag hatte es ihr gar nichts ausgemacht zu »nullen«. Doch nach diesem Gespräch hatte sie sich alt gefühlt.

Sie trug Lidschatten und Wimperntusche auf, wickelte sich in ihr Handtuch und lief hinüber in ihr Schlafzimmer. Dort angekommen, zog sie Unterwäsche, Nylonstrumpfhose und den kurzen schwarzen Rock über, der ebenfalls Voraussetzung für den neuen Job war, ging zum Kleiderschrank und suchte eine Bluse. Natürlich war wieder keine frische im Schrank. Sie würde eine bügeln müssen, bevor sie um 19 Uhr das Haus verließ. Jetzt musste erst einmal ein alter Pullover ausreichen. Fertig angezogen trat sie aus ihrem Zimmer, lief durch den kahlen, betongrauen Kellergang zur Innentreppe und ging hinauf in den Wohnbereich.

»Hallo, Jess.« Ihre Schwester Susanne schloss die Haustür hinter sich, schlüpfte aus ihrer Jacke und hängte sie ordentlich an den Garderobenständer im kleinen Flur. »Bist du schon startklar?«

Jessica rollte genervt mit den Augen. »Fast, habe noch eine gute Stunde, bis ich losmuss. Leider muss ich auch noch bügeln.« Sie zog genervt an ihrem dunkelbraunen Pullover, um zu demonstrieren, dass sie so sicher nicht gern gesehen wurde. »Und der Kuchen ist auch noch nicht gebacken.«

Susanne trat auf sie zu, stellte sich auf ihre Zehenspitzen und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie war gut einen halben Kopf kleiner als ihre Schwester. Ihre Haare waren ebenfalls blond, allerdings glatt und um einiges länger, doch trug sie sie im Gegensatz zu Jessica immer offen.

»Du backst den Kuchen«, bestimmte sie und zwinkerte ihr gleichzeitig zu. »Und ich bügle für dich. Dann tut jede das, was sie viel besser kann als die andere. Okay?«

Natürlich war Jessica einverstanden und natürlich hatte Susanne recht. Bügeln war nicht eine von Jessicas Stärken, doch Kuchen backen und Kochen konnte sie prima. Das war das einzige Talent, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, all die anderen Vorzüge und positiven Eigenschaften hatte ihr Vater mit in den Topf ihrer Erbmasse geworfen. Susanne war da anders. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester kam sie beinahe ausschließlich nach ihrer Mutter. Sie war ordentlich, still, aber bestimmt, führte ihren Haushalt gut, schaffte es, Arbeit, Kinder und das Bügeln unter einen Hut zu bekommen, und war nahezu immer gut gelaunt. Gut, in letzter Zeit fiel ihr das Glücklichsein natürlich etwas schwerer und wie ihre beiden Kinder besuchte auch Susanne seit ein paar Monaten regelmäßig einen Therapeuten, doch wer mochte ihr das verdenken. In so jungen Jahren den Ehepartner und den Vater ihrer Kinder auf so tragische Weise zu verlieren, das war kein Pappenstiel, damit wurde keiner so leicht fertig.

Jetzt arbeitete Susanne vormittags im Büro einer Anwaltskanzlei und war mittags immer pünktlich zu Hause, um Tobi aus dem Kindergarten abzuholen und Svenja nach der Schule bei den Hausaufgaben zu helfen. Es war ein großes Glück für Susanne gewesen, als angehende Junganwältin diesen Halbtagsjob zu bekommen, nachdem ihr Mann gestorben war. Ab und zu standen natürlich Überstunden an oder ein Gerichtstermin, der nicht in die Vormittagsstunden fiel. Doch das war relativ selten. Am Nachmittag schmiss sie dann den Haushalt, fuhr die Kinder zu Spielkameraden oder zum Blockflötenunterricht und saß abends gemütlich, aber allein auf dem Sofa und las oder schaute irgendeinen Krimi im Fernsehen. Manchmal weinte sie und schlief nach Stunden auf dem Sofa ein. Jessica fand sie dann immer dort, wenn sie nachts um 1 Uhr von ihrer Schicht nach Hause kam, legte liebevoll eine Wolldecke über ihre Schwester und strich ihr zärtlich über das samtweiche Haar.

Für Jessica war es selbstverständlich gewesen, ihre Schwester ins Allgäu zu begleiten, als diese nach dem Tod ihres Mannes in Hamburg nichts mehr hielt. Wolfgang war ermordet worden. Jemand hatte ihn mit seiner eigenen Dienstwaffe erschossen, im Badezimmer der Wache, an der er seit vielen Jahren als Streifenpolizist gearbeitet hatte. Das ganze Unglück passierte auf der letztjährigen Weihnachtsfeier und wirklich niemand hatte etwas bemerkt. Auch die Spurensicherung hatte keine Finger- oder Fußabdrücke gefunden, keine anderen Rückstände wie Haare oder Stofffasern, absolut nichts, das einen Hinweis auf den Täter gegeben hätte. Auch Wolfgangs privater Hintergrund wurde durchleuchtet. Susanne musste in diesen Tagen viel ertragen. Musste berichten, ob ihre Ehe auch gut war, ob sie immer wusste, wo ihr Mann sich aufhielt oder ob Wolfgang irgendwelche verdächtigen Telefonate geführt hatte. Susanne wurde das alles zu viel. Sie war fest davon überzeugt, dass ihr Mann weder korrupt noch in irgendwelche kriminellen Geschichten verwickelt gewesen war. Auch Jessica war genau ihrer Meinung. Ihr Schwager war ein verlässlicher Polizist, der seinen Job beinahe genauso sehr liebte wie seine kleine Familie. Als leitende Kriminalhauptkommissarin fiel Jessica damals in Hamburg die Aufgabe zu, den Mord an ihrem Schwager aufzuklären. Doch obwohl ihre Erfolgsquote normalerweise erstaunlich hoch war und ihr Gespür sie bisher immer auf den richtigen Weg zum Mörder geführt hatte, kam sie bei diesem speziellen Fall keinen Millimeter voran. Noch nie hatte sie so sehr gewollt, dass ein Fall aufgeklärt wurde, und noch nie hatte sie so kläglich versagt. Vor allem die traurigen Augen ihrer Schwester waren ihr Vorhaltung genug. Obwohl Susanne ihr niemals einen Vorwurf gemacht hatte und immer wieder beteuerte, dass es nicht Jessicas Schuld war, dass der Mörder noch frei herumlief, gönnte sie sich keine Ruhe und arbeitete verbissen weiter an dem Fall, obwohl keine neuen Erkenntnisse zutage kamen. Sie trat auf der Stelle, ganze fünf Monate lang. Dann hängte sie ihren Job an den Nagel und zog mit ihrer Schwester ins Allgäu.

»Tante Jessi?« Eine kleine Kinderhand schob sich in ihre und zwei große dunkelblaue Augen schauten zu ihr hinauf. »Wollen wir jetzt backen?«

»Hey, Kleines. Hast du auch eine Telefonnummer?« Ein großer, breitschultriger Mann mit viel zu langem, rotblondem Haar stellte sich Jessica in den Weg, sodass sie erschrocken ins Straucheln geriet und beinahe das Tablett mit dem Bier und den Tortillas für Tisch 16 fallen ließ. Sie schob die verrutschten Gläser wieder zurecht, atmete einmal tief durch und setzte dann ein breites Grinsen auf.

Jessica wurde bereits beim Vorstellungsgespräch erklärt, was ihr Chef und Besitzer der Kneipe, Markus Mertens, für sein Geld erwartete. Offenheit, Schlagfertigkeit und hier und da ein wenig flirten waren Pflicht. Auch durfte die Hand eines Gastes auf dem eigenen Hintern kein Problem darstellen und wäre sogar erwünscht. »Der Gast ist bei uns König, Kleines«, hatte Herr Mertens frivol grinsend bestimmt, »und zwar in jeder Beziehung. Ich hoffe, wir verstehen uns.«

Nach bis dahin mindestens zehn Absagen hatte Jessica diese Arbeit schließlich dankend angenommen. Und die Gäste der Kneipe waren in Wahrheit erstaunlich umgänglich, nett und sehr gesittet. Wären da nicht diese ungewohnten und vor allem unbequemen Klamotten, würde ihr der Job sicher auch noch Spaß machen.

»Bitte sehr, die Herren. Zwei Pils, ein Radler und die Tortillas. Zum Wohl!« Jessica griff nach den leeren Gläsern der letzten Bierrunde und platzierte sie auf ihrem Tablett.

»Wie heißt du? Du bist neu hier, oder?« Ein junger Mann beugte sich über den Tisch, um wegen der lauten Musik und dem Stimmengewirr von den Nachbartischen nicht allzu laut schreien zu müssen.

»Ja, ich bin neu. Sozusagen noch ganz frisch«, gab Jessica spontan zur Antwort, erinnerte sich dann wieder an die Ermahnungen ihres Chefs und zwinkerte dem Mann zusätzlich noch zu.

»Und wie heißt du?«, fragte der Mann erneut und grinste jetzt breit.

»Frag sie, ob sie einen Freund hat«, kam die Anweisung von links neben ihm. Ein etwas untersetzter Mittzwanziger boxte seinem Nachbarn grob gegen die Schulter.

»Ich heiße Jessica und nein, immer wenn ich hier arbeite, habe ich keinen Freund.« Den zweiten Teil ihrer Antwort richtete Jessica direkt an den dickeren Mann. »Und du?«

»Ich bin solo. Steh nicht so auf diesen Beziehungsquatsch«, verkündete er, lehnte sich lässig in seinem Stuhl zurück und fuhr sich arrogant mit der Zunge über die Vorderzähne. »Aber gegen ein wenig Spaß habe ich nichts.« Jetzt zwinkerte er Jessica zu.

Jessica lachte. »So viel geballter Manneskraft, wie du ausstrahlst, bin ich gar nicht gewachsen«, hauchte sie und versuchte ihrer Stimme gleichzeitig Bewunderung und eine leise Spur von Schüchternheit zu verleihen. Mit einer einzigen fließenden Bewegung griff sie nach dem letzten leeren Glas, drehte sich auf dem Absatz um und ließ diesen eingebildeten Schnösel einfach stehen.

Ein wenig wunderte sie sich immer noch darüber, wie leicht es ihr fiel, Situationen wie diese zu meistern, ohne vor Scham im Erdboden zu versinken oder vor Peinlichkeit kein Wort herauszubekommen. Schlagfertig war sie schon immer gewesen, doch mit derben Anmachsprüchen hatte sie als Kriminalbeamtin selten zu tun gehabt. Mit ihrer Uniform, ihrem Polizeiausweis und ihrer Dienstwaffe bekleidet, hatten Männer entweder genug Respekt vor ihr gehabt oder hielten sie für eine Furie, ein keifendes, abartiges Miststück, mit der man absolut keinen Spaß haben konnte. Jetzt hielten sie alle für ein dummes Blondchen ohne eigene Meinung, die nur darauf wartete, von heißen Verehrern erobert und genommen zu werden. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie sich wirklich hineinversetzen in all diese Frauen, die auf der Hamburger Reeperbahn aus den unterschiedlichsten Gründen anschaffen gingen. Trotz der Demütigungen, denen sie täglich ausgesetzt waren, trotz der Abhängigkeit von Freiern und dem eigenen Zuhälter gab ihnen das abartige und unterwürfige Begehren in den Augen der notgeilen Männer eine gewisse Art von Macht, eine Überheblichkeit und Stärke, die sie durchhalten ließ und die sie für ihren eigenen Selbstwert nur zu gut gebrauchen konnten. Wenn man die Sache aus ihrer Sicht betrachtete, waren sie diejenigen, die Macht ausübten und viel stärker waren als all die kleinen Schwächlinge, denen die herrschsüchtige Ehefrau zu Hause oder eigene solide Handarbeit einfach nicht ausreichte.

Zufrieden lächelnd schlenderte Jessica mit ihrem Tablett hinter den Tresen und stellte die leeren Gläser auf die Ablage neben dem Spülbecken. Sie verschaffte sich einen kurzen Überblick über den Gastraum und stellte fest, dass alle ihre Tische gut versorgt waren und nirgends auch nur ein annähernd leeres Glas zu sehen war. Jetzt, um kurz vor Mitternacht wurde es ruhiger in der Kneipe. Ruhig allerdings nicht im eigentlichen Sinne, denn der Geräuschpegel nahm im Laufe des Abends stetig zu, doch die Anzahl der Gäste war jetzt überschaubar, ab 23 Uhr konnte auch kein warmes Essen mehr bestellt werden und die Bedienungen hatten deutlich weniger zu tun. Um diese Uhrzeit saßen die meisten der Gäste auch nicht mehr an den Tischen, sondern direkt an der Theke. Die Arbeit im Thekenbereich erledigte fast ausschließlich Paula, eine junge, vollbusige und rothaarige Frau, die genau wegen dieser körperlichen Attribute vom Chef hier platziert worden war und bei den Kneipengästen hervorragend ankam. Sie plauderte und flirtete mit den Männern am Tresen und Jessica war sich sicher, dass der eine oder andere Gast auch mal mehr Service von ihr geboten bekam als nur einen tiefen Einblick in ihr allzu üppiges Dekolleté. Dennoch hatte sich Jessica von Beginn an ausgezeichnet mit Paula verstanden.

»Hi, Jess. Läuft alles gut?«, fragte die rothaarige Kollegin und begann, die mitgebrachten Gläser zu spülen.

»Alles prima, Paula. Jetzt wird’s ja auch etwas ruhiger.« Jessica ließ sich auf den kleinen Hocker plumpsen, der hinter der Theke stand. Sie wusste, dass Markus Mertens diese offensichtlichen Pausen nicht guthieß, doch da er heute nicht in der Kneipe war, nutzte Jessica die Gelegenheit, kurz ihre Beine auszustrecken und aus ihren Schuhen zu schlüpfen.

»Du, Jess?« Paula drehte sich zu ihr um, setzte ein beinahe sorgenvolles Gesicht auf und hob gleichzeitig fragend ihre Augenbrauen. Sie hatte eine ganz eigene theatralische Art, Dingen, und seien sie noch so unwichtig, durch einen dramatischen Gesichtsausdruck mehr Präsenz zu verleihen.

»Was denn?«

»Kannst du mich nachher mitnehmen? Mein Auto streikt schon wieder. Ich muss die olle Karre morgen wohl wirklich in die Werkstatt bringen.« Ein heftiges Kopfschütteln und ein Griff mit der Hand an ihre Schläfe unterstrichen auch dieses Mal die Dramatik eines Werkstattbesuches und das tragische Schicksal eines autolosen und damit verlorenen Mädchens.

»Klar.« Jessica schlüpfte in ihre Schuhe und stand auf. Es war nicht das erste Mal, dass sie Paula nach Hause brachte, und es war auch nicht gerade auf dem Weg, somit auch kein »Mitnehmen«, sondern eher ein unglaublicher Umweg, doch Jessica machte es gern. Sie liebte das Autofahren, besonders in der Nacht. Es gab ihr die Gelegenheit zum Nachdenken und Ruhe finden. Im Auto konnte Jessica prima entspannen.

Eine Stunde später saß Paula neben Jessica auf dem Beifahrersitz und plapperte fast ununterbrochen. Jessica konnte nach einem Abend in der Kneipe gar nicht verstehen, dass ihre Kollegin immer noch so ein Mitteilungsbedürfnis hatte. Man konnte doch annehmen, sie hätte seit Stunden nichts anderes getan, als zu reden, zu lächeln und zu flirten. Um 1 Uhr Nachts sollte man ruhig sein, die Dunkelheit genießen und nur noch das leise Brummen des Motors hören müssen. Auch das Radio blieb bei Jessica in der Nacht immer aus, obwohl sie sonst geradezu ein Musik-Junkie war, alte und neue Rocksongs liebte und auch in einer Lautstärke hörte, die für ihre Ohren nicht mehr gesund war. Genau aus diesem Grund brauchten ihre Ohren nachts ihre Ruhe.

Genervt schaltete sie in den dritten Gang runter und gab richtig Gas, als sie auf die B 12 fuhr, um nach Wildpoldsried zu kommen. Ihr BMW heulte zufrieden auf und beschleunigte beinahe ohne jeden Widerstand. Jessica lehnte sich entspannt in ihrem Sitz zurück und lächelte selig.

»Guck mal, Jess. Was blinkt denn da?« Verwundert deutete Paula mit dem Zeigefinger in die Dunkelheit vor ihnen, tippte sogar von innen gegen die Windschutzscheibe und schaute dann zu Jessica hinüber.

»Scheiße. Verdammter Mist. Ausgerechnet …!« Jessica trat auf die Bremse und reduzierte ihr Tempo auf ein angemessenes Maß. Die rot leuchtende Polizeikelle etwa 100 Meter vor ihr wies sie trotzdem an, in die Parkbucht einzubiegen und direkt hinter dem dort parkenden Streifenwagen, einem dunklen VW-Bus, anzuhalten.

»Was wollen die denn von uns?«, fragte Paula vorwurfsvoll und starrte wütend auf das Auto der Polizisten, obwohl das nun wirklich nichts für Jessicas überhöhte Geschwindigkeit konnte.

Jessica schaltete den Motor aus und ließ durch einen Knopfdruck die Scheibe auf der Fahrerseite hinunter. Kalte Nachtluft strömte in den warmen Innenraum und Paula schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper.

»Einen schönen guten Abend, junge Frau. Sie wissen, warum wir Sie angehalten haben?« Eine ältlich aussehende Polizistin mit einem kantigen Gesicht und tiefen Falten auf der Stirn blickte streng und unerbittlich in den Wagen, schnüffelte dann, verzog angewidert das Gesicht und legte ihre rechte Hand auf ihre Dienstwaffe, die in einem Halfter an ihrem Gürtel hing. »Steigen Sie bitte aus. Haben Sie etwas getrunken?«, fragte sie. Es klang allerdings nicht so, als würde sie eine Antwort erwarten. Es war mehr eine Feststellung. Sie trat einen Schritt zurück und Jessica stieg tief seufzend aus dem Wagen.

»Nerve ich Sie?«, fragte diese Polizistin überheblich lächelnd, ohne ihre Hand von ihrer Dienstwaffe zu nehmen, und Jessica beschloss, sie nicht zu mögen. Eine wirklich unangenehme Person, die glaubte, sie sei etwas Besseres, nur weil sie eine Uniform trug. Solche Menschen waren Jessica zuwider.

»Selbstverständlich nicht, Frau …?« Fragend sah Jessica zu der Polizistin hinüber, die sich jetzt erhobenen Hauptes vor ihr aufbaute.

»Oberwachtmeisterin Schneible«, half sie ihrem Opfer auf die Sprünge und grinste dann wieder breit.

»Oh Mann, entschuldigen Sie«, trällerte Jessica fröhlich. »Da hätte ich Sie doch beinahe falsch angeredet. Ich hatte vermutet, dass Beamte in Ihrem Alter und mit Ihrer Kompetenz bereits Hauptwachtmeister wären. Sie legen sicher großen Wert auf eine korrekte Anrede, Frau Schneible.« Hatte ihre Aussage bis dahin noch nicht Frau Oberwachtmeisterins Nerv getroffen, ließ nun das komplette Weglassen ihres Titels sie beinahe explodieren. Wäre es nicht so dunkel gewesen, dann, da war Jessica sich sicher, hätte sie in ein purpurfarbenes, wütend verzerrtes Polizistinnengesicht geblickt.

»Haben Sie etwas getrunken?«, presste Frau Schneible zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Zuallererst gebe ich Ihnen einmal meinen Führerschein. Sie haben vergessen, danach zu fragen«, belehrte Jessica die Beamtin und konnte nicht umhin, selbst breit zu lächeln, kramte in ihrer Handtasche und zog ihre Geldbörse heraus. »Und nein«, fügte sie hinzu, »ich habe nichts getrunken.«

Sie reichte Frau Oberwachtmeisterin Schneible ihren Führerschein.

»Jetzt belügen Sie mich aber.« Polizistin Schneible war sichtlich um Fassung bemüht. Ihre Stimme bebte leicht, doch sie strengte sich an, ruhig und überheblich zu klingen, und nahm Jessica den Führerschein ab. »Sie riechen bestialisch nach Alkohol. Sie sind voll wie eine Haubitze …«, verkündete sie triumphierend, leuchtete mit der Taschenlampe erst auf die Papiere in ihrer Hand und dann direkt in Jessicas Gesicht. »… Frau Grothe.«

Jessica hob abwehrend die rechte Hand vor ihre Augen, um sich vor der plötzlichen Helligkeit zu schützen, und wollte gerade etwas auf die unberechtigten Vorwürfe erwidern, als Paulas glockenhelle Stimme aus dem Innenraum ihres BMWs nach draußen wehte.

»Liebe Frau Wachtmeisterin«, sang sie fröhlich, »meine gute Freundin Jessica riecht nur so komisch, weil sie sich ein komplett volles Bierglas über ihren Rock geschüttet hat. Und da wir im Anschluss sowieso die Kneipe verlassen haben, hätte sich das Auswaschen auf dem Klo gar nicht mehr gelohnt.«

Frau Oberwachtmeisterin Schneible beugte sich hinunter und blickte durch die geöffnete Fahrertür in den Wageninnenraum und direkt in Paulas tiefen Ausschnitt, die sich weit hinübergebeugt hatte, um von dem Geschehen draußen nichts zu verpassen. Jessica schüttelte seufzend ihren Kopf, verdrehte ihre Augen und flüsterte ein »Na, herzlichen Dank« in die kalte Nachtluft.

Als Polizistin Schneible sich wieder aufrichtete und sich nach einigen Sekunden scheinbar von Paulas Anblick erholt hatte, setzte sie erneut ihr überheblich grinsendes Gesicht auf.

»So, liebe Frau Grothe. Würden Sie mir bitte zum Wagen folgen. Schauen wir doch einmal, ob ich Ihren Führerschein gleich behalten darf.« Sie packte Jessica an der linken Schulter und schob sie vorweg zum Kleinbus und durch die geöffnete Seitentür. Dort wartete ein großer, schlaksiger Polizist an einem kleinen Schreibtisch, nahm den Führerschein an sich und lächelte Jessica freundlich entgegen.

»Frau Grothe, wie ich sehe«, sagte er nach einem Blick auf ihre Papiere. »Nehmen Sie Platz. Wenn Ihnen kalt ist, dann schließen wir die Tür.« Er strich sich beinahe schüchtern eine Haarsträhne seines haselnussbraunen Haares aus der Stirn und griff nach einem Kugelschreiber. »Nehmen wir erst einmal Ihre …«

»Halt«, unterbrach ihn seine resolute Kollegin. »Zuerst einen Alkoholtest. Die hat getrunken«, befahl sie, drehte sich um, ließ den jungen Mann mit Jessica allein und die Seitentür weit offen.

»Ist Ihnen kalt?«, fragte der Polizist erneut und machte Anstalten, sich zu erheben.

»Nein, nein. Kein Problem«, hielt ihn Jessica zurück. »Machen Sie bitte nur schnell diesen Test. Ich bin wirklich froh, wenn ich weiterfahren kann. Es ist schon so schrecklich spät.« Sie schob sich in die Bank ihm gegenüber, legte ihre Hände flach auf den Tisch vor sich und wartete.

Kurze Zeit später, nach Aufnahme ihrer Personalien und der Ermahnung für zu schnelles Fahren, las der junge Polizist das Alkoholkontrollgerät ab, lachte triumphierend und verkündete: »Nullkommanull. Ha, das wird ihr gar nicht gefallen.« Er überreichte ihr den Führerschein und wünschte ihr noch eine gute Heimfahrt, dann entließ er Jessica aus dem Polizeibus, nicht ohne seiner Kollegin mit Handzeichen und fröhlichem Lächeln verständlich zu machen, dass alles in Ordnung sei.

Nur sehr widerwillig ließ Frau Schneible Jessica schließlich weiterfahren.

»So eine blöde Kuh«, schimpfte Paula vom Beifahrersitz und kicherte dann plötzlich hinter vorgehaltener Hand. »Hihi, das passt ja. Scheißbullen …«, betonte sie jede einzelne Silbe des Wortes und wippte dabei langsam mit dem Kopf nach links und rechts. Ihr erhobener Zeigefinger tippte im gleichen Takt in die Luft. »… blöde Kuh. Haha, verstehst du, Jess? Weibliche Polizisten sind natürlich Kühe und keine Bullen. Komisch, oder?« Paula hielt sich den Bauch vor Lachen und krümmte sich in ihrem Sitz nach vorn.

Jessica gab Gas.

Zweimal am gleichen Abend wurde man bestimmt nicht angehalten.

Schattenklamm

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