Читать книгу Einführung in die Naturphilosophie - Michael-Andreas Esfeld - Страница 17

1. Newton und der Atomismus

Оглавление

Grundpositionen

Die Frage nach dem Verhältnis von Raum, Zeit und Materie kann als das wichtigste naturphilosophische Thema angesehen werden. In diesem Kapitel sollen drei Grundtypen, dieses Verhältnis zu denken, vorgestellt werden. Es sind, kurz gefasst, diese:

1. Raum und Zeit auf der einen und Materie auf der anderen Seite sind verschiedenes Seiendes;

2. Raum und Zeit können in irgendeiner Weise auf Materie zurückgeführt werden;

3. Materie kann in irgendeiner Weise auf Raum und Zeit zurückgeführt werden.

Diese Grundtypen werden in diesem Kapitel anhand von Philosophen aus dem 17. Jahrhundert vorgestellt. Im nächsten Kapitel erfolgt die Bezugnahme auf die heutige Naturwissenschaft.

Raum und Zeit verschieden von Materie

Die vom Alltagsverständnis her am nächsten liegende Konzeption ist wohl diejenige, welche Raum und Zeit auf der einen und Materielles auf der anderen Seite als verschiedenes Seiendes ansieht. Man stellt sich Raum und Zeit häufig als etwas vor, welches das Materielle umfasst. Bildlich gesprochen: Der Raum und die Zeit sind so etwas wie Behälter, in denen sich das Materielle befindet. Philosophisch wird eine solche Konzeption von Isaac Newton (1642–1727) in den Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie ausgearbeitet [3–1]. Nach Newton sind der Raum und die Zeit absolut im Sinne dessen, dass sie für sich bestehendes, eigenständiges Seiendes sind. Raum und Zeit könnte es auch dann geben, wenn es nichts Materielles in Raum und Zeit gäbe. Newton kann als Atomist angesehen werden, obwohl nicht alle Textstellen eindeutig sind (siehe zu Newtons Atomismus [3–2], S. 29–51, besonders S. 50, sowie S. 119–120). Das Materielle ist nicht beliebig teilbar. Das grundlegende Materielle in Raum und Zeit sind punktartige Teilchen, die unteilbar sind, Atome im wörtlichen Sinne. Alle Körper sind aus Atomen aufgebaut. Am Ende der Optik schreibt Newton:

„Nach allen diesen Betrachtungen ist es mir wahrscheinlich, daß Gott im Anfange der Dinge die Materie in massiven, festen, harten, undurchdringlichen und beweglichen Partikeln erschuf … keine Macht von gewöhnlicher Art würde im Stande sein, das zu zerteilen, was Gott selbst bei der ersten Schöpfung als Ganzes erschuf. … Damit also die Natur von beständiger Dauer sei, ist der Wandel der körperlichen Dinge ausschließlich in die verschiedenen Trennungen, neuen Vereinigungen und Bewegungen dieser permanenten Teilchen zu verlegen …“ ([3–3], Band 2, S. 143).

Die Atome füllen den Raum nicht aus. Leerer Raum ist erforderlich, damit die Atome sich bewegen können. Die Bewegung der Atome erfolgt gemäß deterministischen Gesetzen. Sie ist mathematisch berechenbar. Die Bewegung eines Körpers findet im absoluten Raum statt. Bewegung ist nach Newton absolut im Sinne dessen, dass die Bewegung eines Körpers nicht relativ zu dem Bewegungszustand anderer Körper ist. Das impliziert jedoch nicht, dass es möglich ist, die Bewegung eines Körpers ohne Bezugnahme auf den Bewegungszustand anderer Körper zu beschreiben.

Allerdings denkt sich Newton Versuche aus, mit denen er absolute Bewegung und auf diese Weise den absoluten Raum empirisch nachweisen möchte. Berühmt ist insbesondere das Gedankenexperiment des Eimerversuchs. Mit diesem Gedankenexperiment möchte Newton zeigen, dass es möglich ist, Rotationsbewegungen allein aufgrund der mit diesen verbundenen Trägheitskräfte und somit unabhängig von der Bezugnahme auf den Bewegungszustand anderer Körper empirisch nachzuweisen. Trägheitskräfte sind gemäß diesem Gedankenexperiment keine Folge von Relativbewegungen; sie sind vielmehr auf Bewegungen in Bezug auf den absoluten Raum zurückzuführen ([3–1], Scholium zu den Definitionen).

Newtons Physik impliziert, dass Gravitation eine Fernwirkung zwischen den Atomen ist; Newton selbst hält eine Fernwirkung jedoch für eine große Absurdität (Brief 406 an Bentley, 25. Feb. 1692/3, in [3–4], S. 254). Eine Fernwirkung ist eine Wirkung, die sich instantan über beliebige Gebiete des Raumes hinweg ausbreitet. Wenn beispielsweise die Sonne vernichtet werden würde, dann hätte das nach der Newton’schen Physik unmittelbar eine Auswirkung auf den Bewegungszustand der Erde, obgleich zwischen der Erde und der Sonne eine beachtliche räumliche Distanz besteht.

Die Konzeption, Raum und Zeit auf der einen und Materielles auf der anderen Seite als verschiedenes Seiendes anzusehen, ist nicht an den Atomismus gebunden. Die Materie in Raum und Zeit brauchen nicht Atome zu sein, die sich im leeren Raum bewegen. Man kann auch annehmen, dass alle Körper immer weiter teilbar sind und sogar dass der Raum voll ist. Descartes zum Beispiel entwickelt eine Konzeption dessen, wie Bewegung möglich ist, auch wenn es keinen leeren Raum gibt. Bewegung im vollen Raum ist möglich, wenn sie letztlich kreisförmig ist ([2–9], Buch 2, § 33). Ferner ist eine Feldkonzeption von Materie mit dieser Sicht von Raum, Zeit und Materie vereinbar. Feldtheorien sind der Physik Newtons allerdings noch fremd. Sie werden erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt. Ein Feld ist etwas, das sich im Prinzip über den gesamten Raum und die gesamte Zeit erstreckt. Felder sind durch physikalische Eigenschaften bestimmt, die sie an Punkten oder punktartigen Gebieten des Raumes und der Zeit haben. Ein Raum, der mit Feldern gefüllt ist, ist kein leerer Raum, weil es an allen Punkten irgendwelche Feldeigenschaften gibt (siehe [3–5] zu Feldtheorien in der Naturphilosophie). Für die hier zur Debatte stehende Sicht des Verhältnisses von Raum, Zeit und Materie kommt es nicht darauf an, wie die Materie gedacht wird. Diese Konzeption ist mit allen bekannten physikalischen Analysen dessen, worin die Materie besteht, vereinbar. Es kommt lediglich darauf an, dass Raum und Zeit auf der einen und Materie auf der anderen Seite für verschiedenes Seiendes gehalten werden.

Status von Raum und Zeit

Ein zentrales Problem für diese Konzeption ist die Frage nach dem ontologischen Status von Raum und Zeit als einem Seienden, das von dem Materiellen unabhängig ist. Materielles ist von Raum und Zeit ontologisch abhängig, weil es Materielles nur in Raum und Zeit geben kann. Raum und Zeit sind hingegen von Materiellem nicht ontologisch abhängig; Raum und Zeit könnte es auch geben, wenn es nichts Materielles gäbe. Gemäß dem Vorsokratiker Demokrit, auf den die Naturphilosophie von Atomen in einem leeren, absoluten Raum zurückgeht, gehört der Raum nicht zu den Dingen, die existieren: Er ist Nicht-Sein (Fragmente 68 A6, A37, in [2–3], Band 2). Das Sein – die Atome – kann aber nur auf der Grundlage des Raumes existieren, nämlich im Raum. Demokrit kommt daher zu dem paradoxen Schluss, dass das Nicht-Sein ebenso existiert wie das Sein (Fragment 68 A 6). Newton vergleicht den Raum an einer Stelle der Optik mit einem unbegrenzten, gleichförmigen Empfindungsorgan Gottes ([3–3], Band 2, S. 145; siehe auch Clarke, Brief 1 an Leibniz, § 3; Brief 2 an Leibniz, § 3 in [3–6]). Als Newtons Vertreter Samuel Clarke (1675–1729) an dieser Stelle in seiner Korrespondenz mit Leibniz unter Druck gesetzt wird, schreibt er, dass der Raum eine Eigenschaft Gottes ist, die eine unmittelbare und notwendige Folge von Gottes Existenz ist (Brief 3 an Leibniz, § 3; Brief 4 an Leibniz, §§ 8–10, 15, 41; Brief 5 an Leibniz, §§ 36–48, 79–82 in [3–6]). Trotz dieser Beschreibung – oder vielleicht gerade wegen dieser Beschreibung – ist der Einwand von Immanuel Kant (1724–1804) plausibel: Der Raum als etwas, das es zusätzlich zu Materiellem gibt, ist ein Unding – etwas, das da ist, ohne dass es etwas Wirkliches gibt Kritik der reinen Vernunft A 39/B 56, B 70–71 [3–7]).

Das Problem wäre selbst dann nicht beseitigt, wenn man plausibel machen könnte, dass Raum und Zeit ebenso ontologisch abhängig von Materiellem sind, wie Materielles von Raum und Zeit ontologisch abhängig ist – also wenn es Raum und Zeit nur zusammen mit Materiellem in Raum und Zeit geben könnte. Das Problem ist dieses: In philosophischer Reflexion lässt sich nicht klären, was Raum und Zeit als Seiendes, das es zusätzlich zu Materiellem gibt, sein könnten. Wenn es Schwierigkeiten bereitet, hier zwei verschiedene Seiende zu denken – Raum und Zeit auf der einen, Materielles auf der anderen Seite –, dann liegt der Gedanke nahe, dass es sich gar nicht um verschiedenes Seiendes handelt. Es gibt zwei prinzipielle Möglichkeiten, diesen Gedanken auszuführen: Entweder führt man Raum und Zeit in irgendeiner Weise auf Materielles zurück, oder man führt das Materielle in irgendeiner Weise auf Raum und Zeit zurück.

Einführung in die Naturphilosophie

Подняться наверх