Читать книгу Einführung in die Naturphilosophie - Michael-Andreas Esfeld - Страница 9
ОглавлениеI. Einleitung
Dieses Kapitel bestimmt das Thema dieser Einführung. Es enthält einen Vorschlag, wie man die Naturphilosophie von anderen philosophischen Disziplinen abgrenzen kann. Ferner wird ein Überblick über den Inhalt des Buches gegeben.
1. Was ist Naturphilosophie?
Gegenstand der Naturphilosophie
Dieses Buch soll einen Überblick über die Grundzüge der heutigen Naturphilosophie geben. Das Hauptthema der Naturphilosophie ist die Frage danach, was die Natur ist. Ausschließlich dieses Hauptthema wird in diesem Buch behandelt. Eine zeitgemäße Antwort auf diese Frage muss sich am Stand der Naturwissenschaften orientieren. Die Naturphilosophie ist aber keine populäre Darstellung von Ergebnissen der Naturwissenschaften. Das Ziel dieses Buches ist das Folgende: Es sollen die begrifflichen Werkzeuge der Philosophie eingesetzt werden, um die grundlegenden Züge des heutigen Erkenntnisstandes in den Naturwissenschaften in Hinblick auf eine Gesamtsicht der Natur auszuwerten und die philosophischen Konsequenzen einer solchen Gesamtsicht auszuloten. Dabei wird eine Reihe von Positionen zur Sprache kommen. Die eigene Akzentsetzung des Autors wird jedoch auch deutlich werden, insbesondere am Ende der Kapitel VI und VIII. Diese Akzentsetzung ist, wie in jedem Philosophiebuch, als Anregung zum kritischen Mitdenken über die behandelten Fragestellungen zu verstehen. Dasselbe gilt für die Fragen und Übungen am Ende eines jeden Kapitels: Sie sollen nicht in erster Linie Hilfestellung zum Lernen eines Stoffes, sondern Aufforderung zum eigenen Nachdenken über das Thema sein.
Naturphilosophie im philosophischen Kontext
Die Naturphilosophie als Frage danach, was die Natur ist, ist in der Nachbarschaft zu drei anderen philosophischen Disziplinen angesiedelt: der Wissenschaftstheorie, der Ontologie und der Philosophie der Technik. Man kann die Naturphilosophie auf folgende Weise von der Wissenschaftstheorie unterscheiden: Der Blick der Naturphilosophie ist nicht in erster Linie auf die wissenschaftlichen Theorien gerichtet im Sinne von deren logischer Analyse und deren Vergleich. Der Blick der Naturphilosophie ist auf den Gegenstand der naturwissenschaftlichen Theorien, die Natur, gerichtet. Wissenschaftliche Theorien werden in der Naturphilosophie in erster Linie unter dem Aspekt dessen betrachtet, was sie über die Natur aussagen. So verstanden behandelt die Naturphilosophie nicht die Frage danach, ob wissenschaftliche Theorien überhaupt so aufgenommen werden sollen, dass sie etwas über die Natur aussagen. Die Frage nach Realismus, Relativismus und Instrumentalismus in der Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien wird daher in diesem Buch nicht thematisiert.
Die Naturphilosophie gehört gemäß dieser Bestimmung zu der philosophischen Disziplin der Ontologie, der Lehre vom Sein. Statt von „Ontologie“ kann man auch von „Metaphysik“ sprechen. Die Naturphilosophie ist die Ontologie oder Metaphysik eines bestimmten Bereichs, der Natur. Sie unterscheidet sich dadurch von der Ontologie oder der Metaphysik im Allgemeinen, dass es in ihr nicht um generelle Kategorien des Seins geht (vergleiche Aristoteles’ Bestimmung des Gegenstands dessen, was später „Metaphysik“ genannt wird, in Metaphysik Buch IV, Kapitel 1 bis 3 [1–1]). Das Thema sind diejenigen Begriffe, die auf dem heutigen Stand des Wissens erforderlich sind, um zu verstehen, was die Naturwissenschaften über die Natur aussagen. Insofern es um Erkenntnis als etwas, das sich argumentativ ausweisen lässt, geht, setzt die heutige Naturphilosophie voraus, dass Erkenntnis über die Natur nur mit Hilfe der Naturwissenschaften gewonnen werden kann. Hierin unterscheidet sich die zeitgenössische Naturphilosophie insbesondere von der Naturphilosophie der Romantik. Die heutige Naturphilosophie ist somit das Feld, auf dem sich die Philosophie und die Naturwissenschaften im Hinblick auf das Ziel begegnen, Erkenntnis von der Natur zu gewinnen.
2. Überblick über das Buch
Aufbau des Buches
Das Buch gliedert sich grob in drei Teile: das philosophische Naturverständnis (Kapitel II und III), die Philosophie der Physik als der grundlegenden Naturwissenschaft (Kapitel IV und V) und die Reflexion über generelle Themen der Naturphilosophie wie Naturgesetze, Kausalität und die Einheit der Natur (Kapitel VI bis VIII). Dieses Buch setzt den Akzent auf eine Einführung in die generelle Naturphilosophie. Das heißt, der Schwerpunkt liegt auf Fragen nach den großen Zusammenhängen, wie der Frage nach dem Zusammenhang von Raum, Zeit und Materie (Kapitel IV), der Frage nach der Beschaffenheit der Materie (Kapitel V), der Frage nach Kausalität und Naturgesetzen (Kapitel VI) und der Frage nach der Einheit der Natur (Kapitel VIII). Fragen nach naturphilosophischen Problemen in speziellen Bereichen, wie zum Beispiel der Biologie, werden hingegen nur relativ kurz angesprochen (Kapitel VII).
Der Überblick über den philosophischen Naturbegriff beginnt mit Aristoteles’ Abhandlung zur Physik. Die Bezugnahme auf die Antike ist als Hintergrund hilfreich, um die zentrale Problemstellung der neuzeitlichen Naturphilosophie zu verstehen. Erläutert wird diese Problemstellung anhand von Descartes’ Verständnis der Natur als Zusammenhang der Dinge, in die wir einerseits integriert sind und die uns andererseits als Objekte des Erkennens und der technischen Nutzbarmachung gegenüberstehen (Kapitel II).
Die Naturphilosophie von Descartes bis Leibniz und Newton wird dann benutzt, um die drei wesentlichen Konzeptionen des Verhältnisses von Raum, Zeit und Materie einzuführen: Raum und Zeit als selbständige Seiende, in denen sich materielle Gegenstände befinden (Atomismus, Newton); die Rückführbarkeit von Raum und Zeit auf Relationen zwischen materiellen Gegenständen (Leibniz); die Identität von Materie und Raum in dem Sinne, dass die materiellen Eigenschaften als Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes verstanden werden (Descartes, Spinoza) (Kapitel III).
Methodisch soll die Bezugnahme auf die Naturphilosophie von Descartes bis Leibniz und Newton zeigen, wie philosophische Konzeptionen – vorgestellt im Ausgang von historischen Texten – zum Verständnis der heutigen Physik eingesetzt werden können: Die Vereinigung von Raum und Zeit in der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie kann im Sinne von jeder der genannten drei Konzeptionen interpretiert werden. Die Relativitätstheorien legen uns mithin nicht ohne Weiteres auf eine bestimmte Sicht des Verhältnisses von Raum, Zeit und Materie fest (Kapitel IV).
Die größte Herausforderung für die heutige Naturphilosophie ist die Quantenphysik. Die Darstellung in diesem Buch setzt drei Schwerpunkte: zum einen die Weise, wie die Quantenphysik uns von einer Ontologie voneinander unabhängiger Einzeldinge zu einer Naturphilosophie führt, die den Akzent auf bestimmte Relationen setzt, des Weiteren die Frage nach dem Zusammenhang von mikro- und makrophysikalischem Bereich anhand des Messproblems und schließlich die besondere Rolle der Zeit in der Quantenphysik (Kapitel V).
Die folgenden drei Kapitel befassen sich mit dem Verhältnis von Physik und Einzelwissenschaften und damit mit der Frage nach der Einheit der Natur: Kapitel VI geht der Frage nach, was Naturgesetze und Kausalität sind, Kapitel VII ist philosophischen Problemen der Biologie gewidmet, und Kapitel VIII beschäftigt sich mit dem Übergang von der Physik als universeller Naturwissenschaft, deren Gesetze für alles in der Natur gelten, zu speziellen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie. Dieses Kapitel geht sowohl auf das Thema der Einheit und Vielfalt der Natur ein als auch auf das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen zueinander.
3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
Zusammenfassung
Dieses Kapitel hat das Thema der Naturphilosophie eingegrenzt: Die Naturphilosophie ist im Kontext von Wissenschaftstheorie und Ontologie beziehungsweise Metaphysik angesiedelt. Im Ausgang von der begrifflichen Analyse und der Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien kann man die Naturphilosophie als den Versuch ansehen, zu einer Ontologie oder Metaphysik der Natur zu gelangen. Es wurde ein Überblick über den Aufbau dieser Einführung in die Naturphilosophie gegeben.
Lektürehinweise
– Siehe zu Bestimmungen des Gegenstandes einer heutigen Naturphilosophie [1–2], [1–3], [1–4], [1–5] und [1–6] sowie für eine auf den Informationsbegriff fokussierte Einführung [1–7]; für einen Gesamtüberblick ist der Lexikonartikel [1–8] empfehlenswert; speziell zur Philosophie der Physik siehe [1–9], [1–10] und [1–11].
Fragen und Übungen
– Wie kann das Verhältnis der Naturphilosophie zur Wissenschaftstheorie einerseits und zur Ontologie und Metaphysik andererseits bestimmt werden?
– Was für argumentativ ausweisbare Möglichkeiten, Erkenntnis über die Natur zu gewinnen, gibt es und was folgt daraus für die Beziehung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft?