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3. Descartes, Spinoza und die Identität von Raum, Zeit und Materie

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Materie auf Raum und Zeit zurückführen

Die dritte Möglichkeit, das Verhältnis von Raum, Zeit und Materie zu denken, geht davon aus, dass räumliche und zeitliche Relationen nicht auf etwas anderes, Grundlegenderes zurückgeführt werden können. Statt räumliche und zeitliche Relationen auf eine Charakterisierung von Materiellem zurückführen zu wollen, die dieses nicht als räumlich und zeitlich Ausgedehntes bestimmt, wird umgekehrt versucht, das Materielle auf das System der räumlichen und der zeitlichen Ausdehnung zurückzuführen. Wie in der Theorie von Newton ergibt sich dann ebenfalls die Konzeption eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit: Bei dem System der räumlichen und der zeitlichen Relationen handelt es sich um eine Substanz im Sinne eines Seienden, das von allem anderen unabhängig für sich besteht. Aber diese Substanz ist mit der Materie identisch. Raum und Zeit auf der einen und Materie auf der anderen Seite sind also nicht verschiedenes Seiendes. Es gibt nur eine Substanz, den Raum beziehungsweise die Raum-Zeit, und alle physikalischen Eigenschaften sind Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes beziehungsweise der Raum-Zeit. Diese Konzeption ist bei Descartes angelegt. Der holländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677) kann so verstanden werden, dass er diese Konzeption ausführt. Man findet eine Andeutung dieser Konzeption sogar bei Newton in dessen Schrift Über die Gravitation (in [3–11], S. 56–57). Ich beschränke mich im Folgenden auf den Raum, da die Zeit von Descartes und Spinoza in dieser Hinsicht vernachlässigt wird.

Descartes

Descartes zufolge ist allein das Attribut der Ausdehnung kennzeichnend für alle physikalischen Dinge. Mit Ausdehnung meint Descartes in erster Linie räumliche Ausdehnung, das heißt, Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe, wobei der Raum euklidisch und somit flach (nicht gekrümmt) ist. Descartes kann so gelesen werden, dass die Begriffe „körperlich“, „materiell“ und „ausgedehnt“ sich nicht nur auf dasselbe beziehen, sondern dass ihre Bedeutung auch dieselbe ist (insbesondere [2–9], Teil II, § 4). Ferner behauptet er, dass die ausgedehnte Substanz und der physikalische Raum miteinander identisch sind ([2–9], Teil II, §§ 10–12). In Kapitel II.2 wurde schon darauf hingewiesen, dass nach Descartes letztlich nur der körperliche Bereich insgesamt genommen eine Substanz im Sinne desjenigen ist, was bei aller Veränderung erhalten bleibt. Wenn wir diesen Sachverhalt berücksichtigen, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die körperliche Substanz dasselbe wie der Raum ist. Zahlreiche Gelehrte verstehen Descartes in diesem Sinne (zum Beispiel [3–5], S. 103; [3–12], S. 23–24; dagegen vor allem [3–13], S. 30–33).

Descartes’ Position ist jedoch doppeldeutig: Auf der einen Seite führt das Argument, dass keine Substanz aufhören kann zu existieren, dazu, nur eine Substanz anzuerkennen, nämlich den körperlichen Bereich als Ganzes. Auf der anderen Seite nimmt Descartes im ersten Teil der Prinzipien an, dass die Teile der körperlichen Substanz selbst Substanzen sind: Er vertritt die Position, dass es einen realen Unterschied zwischen den Teilen der körperlichen Substanz gibt ([2–9], Teil I, § 60). Ein realer Unterschied ist diejenige Art von Unterschied, die zwischen Substanzen besteht. Deshalb lässt sich nicht mehr sagen, als dass die Position, das Körperliche mit dem Raum zu identifizieren, bei Descartes angelegt ist.

Spinoza

Die Ethik von Spinoza ist in dieser Hinsicht ergiebiger. Spinoza geht davon aus, dass es nur genau eine Substanz gibt. Wie Descartes hält er die Begriffe „körperlich“, „materiell“ und „ausgedehnt“ ihrer Bedeutung und Referenz nach für identisch. Er lehnt ebenfalls den Atomismus ab. Er entwickelt seine Theorie des körperlichen Bereichs im Wesentlichen in der Anmerkung zu Lehrsatz 15 von Teil 1 der Ethik [3–14]. Descartes’ Terminologie übernehmend spricht er dort von der körperlichen oder der ausgedehnten Substanz. Er behauptet, dass diese Substanz nur als unendlich, einzigartig und unteilbar verstanden werden kann. Damit bestreitet er jedoch nicht, dass jeder Körper teilbar ist. Spinoza schreibt:

„So wissen auch andere, welche sich einbilden, eine Linie sei aus Punkten zusammengesetzt, viele Beweise dafür beizubringen, daß eine Linie nicht ins Unendliche teilbar sei. Und in der Tat ist es nicht minder widersinnig zu behaupten, daß die körperliche Substanz aus Körpern oder Teilen zusammengesetzt sei, als zu behaupten, ein Körper sei aus Flächen, die Flächen seien aus Linien, die Linien endlich aus Punkten zusammengesetzt“ ([3–14], Teil 1, Anmerkung zu Lehrsatz 15, Übersetzung gemäß der Ausgabe von Rauthe-Welsch).

Die körperliche Substanz ist gemäß diesem Zitat ein Kontinuum. Jede Teilung führt zu etwas, das weiter geteilt werden kann. Die Unteilbarkeit der körperlichen Substanz, die mit der Teilbarkeit von allem bestimmten Körperlichen einhergeht, kann auf dieselbe Weise wie die Unteilbarkeit des dreidimensionalen räumlichen Kontinuums verstanden werden: Von dem Kontinuum aus betrachtet sind Teilungen lediglich Abgrenzungen innerhalb des Kontinuums. Mit der Behauptung, dass die körperliche Substanz unteilbar ist, beabsichtigt Spinoza nur herauszustellen, dass sie nicht aus Teilen zusammengesetzt ist, die eine eigene Existenz haben. Nichtsdestoweniger können Teile innerhalb der Substanz unterschieden werden.

Bennetts Interpretation

Der Philosoph Jonathan Bennett arbeitet die Interpretation, gemäß der Spinoza die körperliche Substanz mit dem Raum gleichsetzt, ausführlich aus ([3–15], Kapitel 4; zu einer anderen Interpretation siehe vor allem [3–16], Kapitel 1). Bennett führt unsere Rede über Körper im Raum auf Eigenschaften zurück, die Gebieten des Raumes zugesprochen werden. Er fasst die Position, die er Spinoza zuschreibt, so zusammen:

„… es gibt lediglich eine Substanz – nämlich das Ganze des Raumes – dessen Gebiete verschiedene Qualitäten wie Undurchdringlichkeit, Masse und so weiter annehmen, so dass jede Aussage, welche die Existenz eines Körpers behauptet, sich auf eine Aussage reduziert, welche etwas über ein Gebiet des Raumes sagt“ ([3–15], § 22.1, eigene Übersetzung).

Alle Aussagen, die auf Dinge im Raum Bezug nehmen, werden mithin auf Aussagen zurückgeführt, die auf Gebiete des Raumes referieren und die diesen Gebieten physikalische Eigenschaften zuschreiben. Bennett versieht die Begriffe für Eigenschaften von Gebieten des Raumes mit einem Stern (*). Er schreibt:

„Zu sagen, dass die Pfütze glitschig ist, heißt, zu sagen, dass ein bestimmtes Gebiet des Raumes glitschig* ist – das heißt, es hat diejenigen Eigenschaften von Gebieten, die wir so auf den Begriff bringen, dass wir sagen, es gäbe glitschige Dinge in ihnen“ ([3–15], § 23.5, eigene Übersetzung).

Materielles auf Raum und Zeit zurückzuführen heißt somit, die Eigenschaften, die wir Körpern im Raum zuschreiben, auf der Basis von Eigenschaften zu rekonstruieren, die Punkten oder Gebieten des Raumes zukommen.

Allgemeine Formulierung der Position

Gemäß dieser Konzeption ist das Körperliche oder die Materie mit dem Raum oder der Raumzeit identisch (siehe auch [3–17]). Das läuft nicht darauf hinaus, die Materie zu eliminieren. Die Behauptung ist nur, dass es keine physikalischen Systeme wie Teilchen oder Felder zusätzlich zum Raum gibt. Die Materie und der Raum sind dasselbe. Die Punkte oder Gebiete des Raumes sind die Teile der Materie. Diese sind nicht nur die grundlegenden Systeme, sondern auch die einzigen Systeme im physikalischen Bereich. Sie haben physikalische Eigenschaften, und alle physikalischen Eigenschaften treten als Eigenschaften der Punkte oder Gebiete des Raumes auf. Körper sind Gebiete des Raumes, die bestimmte physikalische Eigenschaften haben.

Die Identifikation mit der Materie lässt den Raum nicht unberührt. Sobald der Raum als dasselbe wie die Materie angesehen wird und verschiedene physikalische Eigenschaften seinen Punkten oder Gebieten zukommen, hat er eine interne Struktur. Diese Struktur besteht in den verschiedenen physikalischen Eigenschaften (oder den verschiedenen Werten dieser Eigenschaften), welcher der Raum in den verschiedenen Gebieten hat. Die Gebiete können relativ scharfe Grenzen haben; in jedem Fall gibt es vage Grenzen, die Gebiete voneinander abscheiden. Der Einwand von Leibniz gegen ein Kontinuum trifft diese Konzeption mithin nicht. Man kann diese Konzeption nicht so rekonstruieren, dass man sich zunächst einen leeren Raum vorstellt und dann Materielles als in diesen Raum hineingesetzt denkt – in dem Sinne, dass der Raum physikalische Eigenschaften erwirbt. Raum und Materielles sind nach dieser Konzeption in der Weise miteinander identisch, dass man nicht einmal begrifflich zwischen beiden unterscheiden kann. Es gibt dementsprechend auch keinen leeren Raum. Irgendwelche physikalischen Eigenschaften kommen jedem Punkt und jedem Gebiet des Raumes zu.

Bewegung

Das augenfälligste Problem für diese Konzeption ist, eine Erklärung von Bewegung zu geben. Descartes’ Physik basiert auf einem Erhaltungsgesetz der Bewegung (siehe Kapitel II.2), und Ähnliches gilt für die Physik von Spinoza (siehe insbesondere [3–14], Teil 2, die Einschübe zwischen Lehrsatz 13 und Lehrsatz 14). Punkte und Gebiete des Raumes mögen physikalische Eigenschaften haben. Aber sie können sich nicht bewegen. Bennett [3–15] arbeitet im Rahmen seiner Interpretation von Spinoza die folgende Erklärung von Bewegung aus (siehe schon [3–17]): Er beginnt mit einer kontinuierlichen Menge von Raumpunkten in der Zeit, die in ihren physikalischen Eigenschaften ähnlich sind und die aufgrund dieser Ähnlichkeit von ihrer Umgebung abgehoben sind. Bennett nennt eine solche Menge einen String. Er reduziert die Beschreibung der Bewegung eines Körpers auf die Beschreibung der physikalischen Eigenschaften von einem solchen String ([3–15], §22.2). Was die Bewegung eines Körpers durch den Raum zu sein scheint, das ist tatsächlich ein Wechsel grundlegender physikalischer Eigenschaften von Gebieten des Raumes: Ein Gebiet verliert bestimmte physikalische Eigenschaften, und ein benachbartes anderes Gebiet erhält diese oder ähnliche Eigenschaften unmittelbar.

Was sind die physikalischen Eigenschaften des Raumes?

Diese Konzeption vermeidet das Problem, welches der ontologische Status von Raum und Zeit für eine Theorie darstellt, gemäß der Raum und Zeit auf der einen und die Materie auf der anderen Seite verschiedenes Seiendes sind. Wenn überhaupt irgendetwas, dann sind nur Raum und Zeit zusammen mit Materie etwas Absolutes oder eine Substanz. Es gibt keinen absoluten Raum im Sinne eines Raumes, der von der Materie losgelöst ist. Der Raum hat kein Sein unabhängig von Materie im Raum. Gemäß dieser Konzeption liegt es zwar nahe, den Raum oder Raum und Zeit als ein Kontinuum zu denken, wie Descartes und Spinoza es tun. Diese Konzeption ist aber nicht darauf festgelegt, Raum und Zeit als ein Kontinuum anzusehen. Raum und Zeit könnten auch aus diskreten Raum- und Zeitstücken bestehen. Worauf es ankommt, ist lediglich, alles Materielle auf physikalische Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes und der Zeit zurückzuführen. Damit ist diese Konzeption an eine Physik von Feldern im Unterschied zu einer Physik von Teilchen gebunden: Die gesamte Materie ist ein Feld, das in den physikalischen Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes und der Zeit besteht. Das Materie-Feld ist also nicht etwas, das es in Raum und Zeit gibt, sondern es ist identisch mit Raum und Zeit. Das Hauptproblem für diese Konzeption ist, verständlich zu machen, welches die physikalischen Eigenschaften von Punkten oder Gebieten von Raum und Zeit sein sollen, auf welche die herkömmlichen physikalischen Eigenschaften, die wir Seiendem im Raum und der Zeit zuschreiben, zurückgeführt werden können (vgl. [3–18], S. 166–167, S. 222–223). Die Weise, wie diese Konzeption oben anhand von Bennetts Spinoza-Interpretation eingeführt wurde, lässt offen, was diese physikalischen Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes und der Zeit sein könnten.

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