Читать книгу Psychotherapie und Coaching mit PEP - Michael Bohne - Страница 9
1.Es war einmal im alten China, oder: Once upon a time in America … Historische Wurzeln der Klopftechniken
ОглавлениеDa die bislang bekannten Klopftechniken alle das sogenannte Meridiansystem zur Stimulation des Körpers genutzt haben, haben sie somit natürlich ihre ältesten Wurzeln im alten China. Die Beobachtung, dass sich über die Stimulation von Akupunkturpunkten auch Emotionen therapeutisch verändern lassen, ist im Grunde so alt wie die Akupunktur selbst, also ca. 5000 bis 6000 Jahre. Emotionen werden in der TCM (Traditionellen Chinesischen Medizin) als »Bewegungen des Qi der Organe« bezeichnet (siehe Kubny 2002, S. 127) und waren immer nur ein Teil einer Gesamtdiagnose und -behandlung der TCM. Die Psychotherapie westlicher Prägung gab und gibt es weder im alten noch im neuen China (abgesehen von ersten Kontakten mit westlichen Therapiemethoden seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts).
Wenngleich viele Menschen in Deutschland denken, Fred Gallo habe die Energetische Psychologie entwickelt, war es doch der amerikanische Chiropraktiker George Goodheart, der das Klopfen von Akupunkturpunkten zur Auflösung von Stress als Erster beschrieben hat. Goodheart, der in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts das alte Wissen der TCM mit verschiedenen manualtherapeutischen Methoden und dem aus der Physiotherapie kommenden Muskeltest zusammenbrachte, war einer der Hauptvertreter der Applied Kinesiology (AK), jener ganzheitlichen ärztlich-physiotherapeutischenen Behandlungsmethode, bei der körperliche Störfelder mittels Muskeltest aufgesucht und mit verschiedensten manualtherapeutischen Techniken behandelt werden. Goodheart formulierte die Hypothese, dass die »somatische Verarbeitung psychischer Reize« vor allem durch die Behandlung der sogenannten Anfangs- und Endpunkte der Meridiane günstig beeinflusst würde (Burtscher, Eppler-Tschieder, Gerz u. Suntinger 2001, S. 174). Die meisten Klopftechniken nutzen auch heute noch für die Klopfbehandlung diese Anfangs- und Endpunkte der Meridiane. Im Folgenden waren es dann zwei ungewöhnliche und innovative Psychotherapeuten, die diese Beobachtungen und Hypothesen Goodhearts (vielleicht etwas zu) konsequent auf die Psychotherapie anwandten. Zum einen war es der australische Arzt, Psychiater und jungsche Psychoanalytiker John Diamond, zum anderen der amerikanische Psychologe Roger Callahan, die eine Fortbildung in Applied Kinesiology absolvierten (Diamond 2001, S. 16; Callahan 2001, S. 8 f.). Ferner soll Callahan entscheidende Impulse zur Behandlung von Emotionen wiederum von John Diamond erhalten haben (Gallo 2002, S. 10). Callahan betrachtete laut Gallo den Großteil seiner Arbeit als »Betriebsgeheimnis«. Er entwickelte ein System, in dem je nach Diagnose ganz konkrete Akupunkturpunkte in einer ganz genauen Reihenfolge beklopft werden mussten, damit sich die Symptome auflösen konnten (Thought Field Therapy = TFT). Zur teilweise abenteuerlichen Geschichte der Energetischen Psychologie siehe unter Gallo (2000, 2002). Gallo hat sich mit den unterschiedlichsten energetischen und kinesiologischen Techniken beschäftigt, später noch bei Callahan gelernt und dann sein eigenes System (EDxTM = Energy Diagnostic and Treatment Methods) entwickelt. In seinem System werden die betroffenen Meridiane, die Behandlungspunkte, die dysfunktionalen Kognitionen und aus psychodynamischer Sicht die unbewusste Abwehr (in der Energetischen Psychologie psychische Umkehrung genannt) vor allem mittels Muskeltest ermittelt.
Ein weiterer sehr wichtiger Vorreiter der Klopftechniken ist der Ingenieur und Coach Gary Craig, dem die unterschiedlichen Behandlungsabfolgen von Callahan nicht plausibel erschienen und der die Idee entwickelte, einfach alle Meridiane durchklopfen zu lassen, in der Annahme, dass ja die betroffenen Meridiane und Akupunkturpunkte so in jedem Fall dabei sein würden. Seine Technik, die Emotional Freedom Techniques (EFT), ist im Selbsthilfebereich sicherlich bislang die populärste. Dies liegt außer am professionellen Marketing nicht zuletzt daran, dass EFT stark vereinfacht ist und so auch ohne große Vorerfahrungen angewandt werden kann. Es mag auch daran liegen, dass im EFT gewisse omnipotente Heilsversprechungen (nicht nur unter dem Namen emotionale Befreiung bzw. Freiheit) gemacht werden, die bei Hilfe Suchenden natürlich gut ankommen. Dies wiederum ist verständlich, da Gary Craig und wohl immer noch viele EFT-Anwender eben keine ausgebildeten Psychotherapeuten sind, sie somit nicht die Differenziertheit und Komplexität vieler Störungsbilder berücksichtigen und berücksichtigen können. Da die Klopftechniken in einigen Bereichen, wie z. B. bei Ängsten und bei posttraumatischem Stress, enorme Wirksamkeit zeigen, propagieren viele EFT-Anwender diese Wirksamkeit auch bei anderen, weit komplexeren Störungsbildern. Trotz alledem stellt EFT einen wichtigen, hilfreichen und wesentlichen Zweig der Klopftechniken dar. Erfahrene und gut ausgebildete Psychotherapeuten berichten jedoch immer wieder, dass ihnen die Fortbildungskurse bei EFT-Ausbildern zu oberflächlich seien und die Ausbilder die Klopftechniken nicht gut aus psychotherapeutischer Sicht erklären könnten und auch nicht gut erklären könnten, wie die Klopftechniken in die unterschiedlichsten Psychotherapiemethoden integriert werden können, da sie selbst oft gar nicht oder kaum psychotherapeutisch ausgebildet sind. Leider hört man auch immer wieder, dass einzelne EFT-Ausbilder die anerkannte Psychotherapie bzw. Psychotherapeuten entwerten, ohne sie wirklich differenziert zu kennen oder beurteilen zu können. Auch eine kritische Distanz zu den energetischen Wirkhypothesen und eine Reflexion anderer, vor allem neurobiologischer Wirkhypothesen fand man eher selten im Bereich der EFT. Dies scheint sich nun aber zumindest im Bereich der Forschung mehr und mehr zu ändern.
Viele gute Studien zu den Klopftechniken kommen von Ärzten und Psychotherapeuten, die EFT anwenden. Allerdings führen EFT-Autoren und -Anwender immer wieder die wohl von Craig oder Callahan stammende Behauptung an, dass allen negativen Emotionen eine Störung innerhalb des körpereigenen Energiesystems zugrunde liege (siehe z. B. Hartmann 2002, S. 19; Benesch 2005, S. 23; Wells a. Lake 2006, S. 13; Keller 2005, S. 13). Es findet sich kaum ein EFT-Buch, in dem diese Behauptung nicht vertreten wird, und kaum eine Homepage von EFT-Anwendern, die nicht durch dieses Zitat geziert wird. Häufig finden sich auch in den Namen der Klopftechniken diese energetischen Hinweise, wie etwa bei Meridianfeld-Therapie, Meridian-Energie-Technik oder Healing-Energy-Light-Process.
Wenn man Publikationen zur Energetischen Psychologie liest, bekommt man schnell das Gefühl, dass die Autoren die energetischen Wirkhypothesen als Wahrheiten verstehen, und es fällt auf, dass der Anschluss an andere, nicht energetisch orientierte Wissensquellen kaum bzw. wenig vorhanden zu sein scheint. Auch Gallo nennt sein 2009 erschienenes Buch Energetische Selbstbehandlung. Durch Meridianklopfen traumatische Erfahrungen heilen. Aus wissenssoziologischer Sicht haben wir es also mit einem selbstreferenziellen System zu tun, das Wissen nur aus sich selbst heraus generiert und nicht aus anderen Wissensquellen. Dies beinhaltet natürlich die Gefahr der methodisch-theoretischen Inzucht. Es sei jedoch an dieser Stelle auch nochmals auf die freudige Entwicklung der Kopftechniken, vor allem des EFT, in der Forschung hingewiesen. In den letzten Jahren sind einige sehr inspirierende und beeindruckende Forschungsarbeiten auch in qualitativ hochwertigen Journals erschienen. Also auch im Bereich EFT tut sich etwas. Hierzu mehr in Kapitel 15.
Damit man die Unterschiede zwischen der Energetischen Psychologie und den meisten psychotherapeutischen Schulen versteht, ist es aus wissenssoziologischer Sicht wichtig zu bedenken, dass die Grundhaltung in der Applied Kinesiology und somit auch bei ihrem Ableger, der Energetischen Psychologie, eine vollkommen andere ist als in der abendländischen Psychotherapie. Während in der Psychotherapie großer Wert auf die Beziehungsgestaltung gelegt wird (nicht zuletzt, da ja die Güte der Beziehung nach wie vor ein wesentlicher Wirkfaktor ist), findet man in der meist am Körper orientierten Applied Kinesiology, aber auch in der sich primär auf die Psyche beziehenden Energetischen Psychologie immer wieder eine eher mechanistische bzw. an körperlichen Strukturen und Befunden orientierte Grundhaltung, in der ein Behandler Dutzende, ja teils Hunderte von Muskeltests am Patienten durchführt. Der Behandler kennt Mittel und Wege in Form von geeigneten Techniken und Tools, um die körperlichen, energetischen oder psychischen Blockaden des Klienten zu lösen, quasi wieder einzurenken. Es herrscht eher die Grundhaltung vor: Therapeut behandelt aktiv den Klienten (was ja in der Behandlung körperlicher Leiden absolut normal ist), während bei der Psychotherapie und noch mehr beim Coaching die Rolle des Behandlers eher die des anregenden, hinterfragenden oder unterstützenden Gegenübers ist.
Die Hauptarbeit muss bei Psychotherapie und Coaching der Klient selbst machen, während er bei der Applied Kinesiology und nicht selten bei der Energetischen Psychologie aktiv behandelt oder getestet wird. Auch die Steuerung des Prozesses wird bei Psychotherapie und Coaching viel stärker vom Klienten bestimmt. Ferner wird mittlerweile bei den meisten Psychotherapiemethoden und beim Coaching sowieso großer Wert auf Methoden- und Prozesstransparenz gelegt, während der Behandler bei der Applied Kinesiology und häufig bei der Energetischen Psychologie die einzelnen therapeutischen Schritte nicht unbedingt transparent macht. Bei der Arbeit am Körper ist dies ja in der Medizin ohnehin nicht üblich, und es wird auch von Patienten meist nicht erwartet, dass jeder diagnostische Teilschritt sofort erklärt wird. Da es aber in der Psychotherapie immer wieder um Themen wie Autonomie, Kontrolle und Identität geht, ist es unabdingbar, dass zumindest größere Teilschritte und Hypothesen transparent gemacht werden.
Meine Kritik am Muskeltest bezieht sich also keineswegs auf seine Anwendung innerhalb einer am Körper orientierten medizinischen Behandlung, auch halte ich größte Stücke auf die differenzierte Behandlungsweise der Manualtherapie und der Applied Kinesiology (auch aus eigener Patientenerfahrung). Der Unterschied liegt jedoch darin, dass bei der Applied Kinesiology mittels eines am Körper orientierten Tests, des Muskeltests, im Körper befindliche Störungen aufgespürt werden, während die Anwender des Muskeltests in der Psychotherapie mittels dieses am Körper orientierten Tests Diagnostik auf der Ebene von Emotionen, Kognitionen und Erinnerungen machen, und die sind nicht primär körperlich, auch wenn sie körperliche Auswirkungen haben mögen. Man testet quasi auf einer anderen Ebene als der, auf der das Problem liegt. Aufgrund dieser aufgezeigten historischen Entwicklungslinie muten manche Klopftechniken eben noch heute sehr technisch an, vor allem wenn der Muskeltest, wie im Falle der Gallo-Technik (EDxTM), einen großen Raum einnimmt.