Читать книгу Was in Krisen zählt - Michael Bordt - Страница 5
Krisen und Neuanfang
ОглавлениеEine der beeindruckendsten Silvesterfeiern war die Silvesternacht der Wende zum dritten Jahrtausend. Trotz aller Unsicherheit darüber, was die Zukunft bringen würde: Man konnte eine Hoffnung mit Händen greifen. Die Hoffnung, dass mit dem Kalenderwechsel ins neue Millennium auch ein neues Zeitalter anbricht. Eine friedlichere, freiere und glücklichere Zeit. Von jetzt an, so dachten viele, würde alles irgendwie besser werden.
Nichts ist besser geworden. Nur selten hat es in der Geschichte der Menschheit knappe zehn Jahre gegeben, in denen so deutlich geworden ist, wie bedroht wir Menschen sind – oder besser gesagt, in welchem Maße wir selbst die Grundlagen unseres eigenen Lebens bedrohen. Vor allem drei Krisen erschüttern uns: Der internationale Terrorismus, die mögliche Klimakatastrophe und der immer weiter um sich greifende Zusammenbruch der Finanzmärkte mit seinen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Die drei Krisen stellen die Grundfeste unserer Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur infrage.
Krisen fallen nicht vom Himmel. Auch diese drei Krisen haben ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Sie lassen uns einiges, was in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, in einem neuen und anderen Licht sehen. Der internationale Terrorismus macht deutlich, wie Amerika und die restliche westliche Zivilisation in anderen Teilen der Welt wahrgenommen werden: als machtversessen und rücksichtslos. Sind wir so? Stimmt diese Wahrnehmung? Hat die »westliche Welt« tatsächlich imperialistische, politisch und wirtschaftlich ungerechte Strukturen geschaffen, die nun ihrerseits zu einer Brutstätte für den Terrorismus und ein terroristisches Umfeld geworden sind?
Der Klimawandel, soweit er von uns Menschen verursacht wurde, zeigt, dass der ungeheure Wirtschaftsaufschwung vor allem in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts einen hohen Preis gekostet hat und weiter kosten wird. Können wir den Klimawandel, der Teile unseres gesamten Planeten bedroht, noch stoppen? Viele Experten sagen Ja! Die entscheidende Frage ist aber doch, ob wir tatsächlich den politischen und ökonomischen Willen haben, ihn aufzuhalten.
Auf was werden wir künftig verzichten müssen, wenn wir eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen wollen? Und wird der industrialisierten Welt, die den Klimawandel maßgeblich verursacht, dieser Preis vielleicht zunächst zu hoch sein? Und wie würde es dann weitergehen?
Die Krise der Finanzmärkte macht erschreckend deutlich, dass die Möglichkeit zu schnellem und immer höherem Gewinn, der ja nicht nur von vereinzelten besonders gierigen Managern, sondern auch von allen Aktionären freudig begrüßt wurde, nicht ohne einen grässlichen Kater am Morgen danach zu haben gewesen ist. Wie soll es jetzt weitergehen? Was werden die nächsten Jahre bringen?
Natürlich mangelt es in Krisenzeiten nicht an gut gemeinten Appellen von den verschiedensten Seiten: Man müsse den Gürtel enger schnallen, besondere Anstrengungen seien jetzt vonnöten, man müsse sich endlich wieder auf die Moral und die soziale Verantwortung besinnen, ein Ruck müsse durch das Land gehen. Es ist immer dasselbe: In Krisenzeiten haben Mahner, Moralisten und diejenigen, die es immer schon besser gewusst und kommen sehen haben, Oberwasser. Ich glaube nicht an Moralisten und ihre Appelle. Moralisten rütteln bestenfalls auf, aber ihr Pathos verhallt nur allzu oft in den Kolumnen großer Tageszeitungen. Moralisten motivieren nicht. Natürlich fordern uns Krisen zu einer Reaktion heraus, aber mit einem pathetischen oder verzweifelten Hinweis auf Verantwortung und Moral oder mit mahnenden Appellen ist es nicht getan. Doch welche Reaktion ist sinnvoll, wenn wir einsehen, dass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher?
Ein erster, mittlerweile schon populärer Hinweis auf eine mögliche Reaktion darauf kann aus der chinesischen Sprache kommen. Das chinesische Wort für »Krise« ist mit dem Wort für »Chance« eng verwandt. Beide Begriffe bestehen nämlich aus zwei Schriftzeichen, von denen sie eines gemeinsam haben. Dahinter steckt wohl die Einsicht, dass Krisen und Chancen zusammengehören. Krisen sind zugleich auch Chancen, die uns herausfordern. Krisen wollen gestaltet werden. Jede Krise, sei sie nun privater, politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Natur, bietet deswegen auch immer eine Chance zu einem Neuanfang.
Auch ein Blick auf das klassische Griechisch hilft weiter. Das Wort Krise lässt sich vom griechischen »krisis« ableiten, das »Unterscheidung« bedeutet. Eine Krise ist demnach also eine Zeit für eine Unterscheidung, die zum Ziel hat, auf das, was schlecht ist und sich nicht bewährt hat, zu verzichten und stattdessen das Gute aufzugreifen und die Krise als Chance zur Veränderung zu nutzen. Aber, so möchte man doch fragen, wofür sind die drei globalen Krisen denn eine Chance? Wohin sollen wir uns verändern?