Читать книгу Christine Bernard. Der unsichtbare Feind - Michael E. Vieten - Страница 7
ОглавлениеBewegung 11. Januar
Lange bevor Torben sich das erste Mal bewegte, lag Christine schon wach. Seine regelmäßigen Atemzüge waren das einzige Geräusch so früh im Haus.
Etwas beunruhigte sie, sie hatte es bei ihrer Heimkehr in der Nacht schon bemerkt, war aber zu müde, um ihrem Verdacht nachzugehen.
Jemand musste während ihres Urlaubs in ihrer Wohnung gewesen sein. Es war nichts kaputt, schmutzig oder in Unordnung. Es fehlte auch anscheinend nichts, aber einzelne Gegenstände befanden sich nicht an ihrem üblichen Platz. So stand zum Beispiel ihr Wecker auf der falschen Bettseite und ihr Nachthemd hing plötzlich im Schrank. Üblicherweise lag es aber auf dem Bett. Sogar ihr Bademantel hing nicht an dem dafür vorgesehenen Haken.
Vorsichtig und leise schälte sie sich aus ihrer Bettdecke und schlich aus dem Zimmer. Geräuschlos zog sie die Schlafzimmertür hinter sich zu.
Im Badezimmer nahm sie ihren Bademantel vom falschen Haken und zog in an. Dann untersuchte sie die Eingangstür ihrer Wohnung auf Einbruchsspuren. Doch sie fand keine.
Geschickte Einbrecher verwendeten mittlerweile Werkzeuge, mit denen man auch scheinbar sichere Türschlösser öffnen konnte. Spuren dieser feinen Werkzeuge fand man nur innerhalb des Schließzylinders. Von außen blieb das Schloss unversehrt.
Sie schloss die Tür lautlos und ging in die Küche. Vielleicht irrte sie sich oder Torben hatte die Gegenstände benutzt und nicht wieder an ihren üblichen Platz gestellt. Oder sie war es selbst gewesen, in der Aufregung vor ihrem ersten gemeinsamen Urlaub.
‚Mach dich nicht verrückt, Chris‘, sprach sie leise zu sich selbst und schüttelte ihren Kopf. Dann zog sie die Kühlschranktür auf und erschrak.
Alle Lebensmittel hatten mit anderen ihre Plätze getauscht. Milchprodukte und Eier standen oben, beides gehörte aber nach unten. Wurst und Käse lagen im Gemüsefach. Getränkeflaschen standen nicht in der Tür, sondern lagen im obersten Fach. An deren Stelle standen Gläser mit Konfitüre und die Butter lag in den Fächern der Tür. Der ganze Kühlschrank war völlig falsch eingeräumt. Das hätte selbst Torben so nicht getan.
Christine war nun noch mehr beunruhigt, warf die Kühlschranktür zu, schlich zurück in ihr Schlafzimmer und griff nach ihrem Mobiltelefon auf dem Nachttisch.
Sie wollte Melissa anrufen. Die hatte einen Ersatzschlüssel zu ihrer Wohnung. Für Notfälle. Vielleicht hatte ihre Freundin während ihrer Abwesenheit nur nachgesehen, ob alles in Ordnung war.
Sie nahm das Gerät mit hinaus in die Küche und schaute auf das Display. „Update Installation 99%“ stand da.
„Verdammt. Immer wenn man das Ding braucht“, fluchte sie und wusste zugleich, dass es gar nicht stimmte, und ihre Unsachlichkeit nur ihrer Beunruhigung zuzuschreiben war, weil sie nicht wusste, wer sich während ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung aufgehalten hatte.
Sie ließ das Gerät auf dem Küchentisch liegen und ging ins Wohnzimmer. Dort stand ihr Telefon mit Anrufbeantworter. Das Mobilteil zeigte die Uhrzeit an. 5:15 Uhr. Zu früh, um Melissa hysterisch aus dem Bett zu schmeißen.
Der Knopf für eingegangene Anrufe blinkte rot. Jemand hatte eine Nachricht hinterlassen. Kommissarin Bernard ließ die Nachricht abspielen und erschrak. Eine elektronisch verstellte Stimme klang drohend aus dem Lautsprecher.
„Du wirst leiden, du verdammtes Miststück. Ganz langsam. Und am Ende bist du tot. Bewegung 11. Januar.“
Die Nachricht war zu Ende. Das Gerät nannte Uhrzeit und Datum der Aufnahme. 14. Januar, 4:30 Uhr morgens.
Der 14. Januar war Christine Bernards erster Tag am Strand. Der 11. Januar war ihr erster Urlaubstag. Da hatte sie sich den neuen Bikini gekauft. Am 12. Januar hatten Torben und sie ihre Koffer gepackt, und am 13. Januar waren sie von Luxemburg nach Mauritius geflogen.
Die Erinnerung an diesen wunderbaren Urlaub am Indischen Ozean kam ihr vor, als läge er bereits Monate zurück. So groß war der Kontrast dieser schönen Tage mit Torben zu dem, was gerade geschah.
‚Beruhige dich und denke nach‘, befahl sie sich und unterdrückte damit die aufziehende Panik. ‚Es gibt eine Menge Spinner auf der Welt. Aber woher haben die meine Telefonnummer? Sie steht nicht in einem Telefonbuch. Okay, es ist keine Geheimnummer, aber so einfach ist es auch nicht, an meine Telefonnummer zu gelangen. Natürlich könnte jemand, der mir nahesteht, die Nummer weitergegeben haben. In gutem Glauben. Ohne böse Absicht. Alles möglich. Aber was, verdammt, will diese ‚Bewegung 11. Januar‘ von mir? Was ist am 11. Januar geschehen, und wer, zum Teufel, sind diese Leute?‘
Plötzlich fiel ihr ihre Dienstwaffe ein. Heiß durchfuhr sie der Schreck, als sie ihr leeres Schulterholster an der Garderobe hängen sah.
„Jetzt beruhige dich endlich, du dumme Gans“, schimpfte sie leise mit sich selbst und war doch sogleich erleichtert. ‚Du selbst hast die Waffe und die Munition doch am letzten Arbeitstag in der Kriminaldirektion gelassen‘, erinnerte sie sich. Trotzdem schlug ihr Herz bis zum Hals hinauf. Sie beschloss, erst zu duschen und dann das Frühstück für sich und Torben vorzubereiten.
„Morgen, mein Schatz“, murmelte Torben und taumelte noch schlaftrunken ins Bad, während sie Wasser in die Kaffeemaschine goss. Die heiß-kalte Dusche hatte ihr gut getan und sie etwas abgelenkt.
‚Es ist noch nichts passiert‘, rief sie sich in Gedanken immer wieder zur Ruhe.
Dann fiel ihr Blick auf ihr Handy auf dem Küchentisch.
„Update Installation 99%“ stand immer noch auf dem Display. Sie verlor die Geduld und schaltete das Gerät aus und wieder ein. Sie wollte jetzt endlich wissen, ob Melissa in ihrer Wohnung gewesen war oder jemanden hinein gelassen hatte, und sie hatte keine Nerven dafür übrig, sich mit einem zickenden Mobiltelefon herumzuärgern. Das Gerät gehorchte und verlangte zu ihrer Überraschung auch nicht mehr nach einem Update.
Sie warf einen schnellen Blick auf die Küchenuhr, während ihr Telefon die Verbindung aufbaute. 6:20 Uhr.
‚Zeit zum Aufstehen, Melissa‘, dachte sie egoistisch und hörte das Freizeichen.
Ihre Freundin ließ sich Zeit.
„Ich habe heute frei, was wollt ihr?“, murmelte es schlaftrunken aus dem Lautsprecher.
„Melissa, ich bin’s. Chris. Warst du in meiner Wohnung?“
„Christine?“, fragte Melissa ungläubig. „Ich dachte, es wäre meine Firma. Bist du schon wieder da?“
„Ja. Und es war jemand in meiner Wohnung.“
„Habe ich nichts mit zu tun“, gähnte Melissa durch das Telefon. „Wie spät ist es überhaupt?“
„Gleich sieben“, log Christine Bernard.
„Okay, ich drehe mich trotzdem noch mal rum. Hab’ heute frei.“
„Ja, mach das. Tut mir leid.“
„Ist schon okay“, murmelte Melissa, aber ihre Freundin hörte es nicht mehr. Kommissarin Bernard hatte das Gespräch bereits beendet und legte das Telefon zurück auf den Tisch. Sie würde mit ihren Kollegen sprechen müssen. Drohungen gegen das Leben von Polizeibeamten waren meldepflichtig. Sie kleidete sich an, während Torben duschte.
Das Frühstück fiel etwas kurz aus, und ihr Gespräch blieb einsilbig. Torben spürte, dass seine Christine etwas beschäftigte, aber er fragte sie nicht danach. Für gewöhnlich rückte sie selbst damit heraus, wenn sie bereit dazu war. Vielleicht lag es auch an dem ihr bevorstehenden ersten Arbeitstag nach ihrem Urlaub. Ihm ging es dann ebenso, und er dachte an das Orchester und die geplanten Auftritte und welche Stücke er noch üben musste. Warum sollte es seiner Christine anders gehen? Morgen war sie sicher wieder die Alte.
Christine Bernard stand auf, ohne ihren Becher Kaffee leer getrunken zu haben.
„Ich muss los.“
Dann küsste sie Torben mit geschlossenen Lippen auf den Mund und stürmte los. Im Treppenhaus verzichtete sie wie üblich auf den Aufzug und nahm auf ihrem Weg nach unten immer zwei Stufen auf einmal.
Ihr zugeschneiter Renault vor dem Haus begrüßte sie nach einem Druck auf die Fernbedienung mit fröhlichem Blinken, doch er sprang nicht an.
Immer wieder drehte Kommissarin Bernard den Zündschlüssel, und der Anlasser des Mégane drehte eifrig. Aber der Motor startete nicht.
Fluchend sprang sie aus dem Wagen und riss ihr Mobiltelefon aus der Jackentasche. Schnell tippte sie die Telefonnummer ihres Partners Hauptkommissar Torsten Kluge.
„Morgen Torsten. Kannst du mich abholen? Mein Wagen springt nicht an.“
„Ja, kein Problem. Bin schon unterwegs.“
Dann telefonierte sie mit ihrer Werkstatt und bat darum, den Wagen abzuholen und zu reparieren.
Es begann wieder zu schneien. Dicke Flocken legten sich auf ihr Haar und ihre Schultern. Hübsch sah es aus, aber dafür hatte sie im Moment keinen Blick. Sie stellte sich in den Hauseingang. Die weißen Flocken tauten und das kalte Wasser sickerte in ihr Haar und in ihre Kleidung.
Torsten Kluge stoppte den Wagen direkt vor ihrem Haus. Christine stieg zu, und der schwere Wagen rollte sofort an.
„Schön, dass du wieder da bist.“
„Hmm“, gab sie zurück und wählte die Nummer ihrer Bank.
Hauptkommissar Kluge runzelte seine Stirn, sagte aber nichts.
„Ja, guten Morgen. Christine Bernard hier. Würden Sie bitte mal schauen, was mit meiner Kreditkarte los ist? Ich stand gestern im Hotel und konnte nicht bezahlen. Ein Bekannter musste mir aushelfen. Sehr peinlich. Ich hoffe, dafür gibt es eine überzeugende Erklärung.“
Torsten Kluge wunderte sich über den scharfen Ton seiner Kollegin. Irgendetwas schien sie verärgert zu haben. Für gewöhnlich gab sie sich nicht so unverträglich.
Ungeduldig presste seine Kollegin sich das Mobiltelefon an ihr Ohr und wartete auf eine Antwort. Dann erhielt sie sie und war alles andere als zufrieden damit.
„Was? Das kann nicht sein! Schauen Sie noch einmal nach und überprüfen Sie es.“
Wieder lauschte sie. Dann lief sie rot an.
„Das ist unmöglich. Völlig unmöglich“, schnaufte sie. „Wie bitte? Ja, wir waren im Urlaub …“
Sie wurde vom Bankangestellten unterbrochen.
„Was? Nein! Was heißt hier unkontrollierte Ausgaben? Ich will, dass Sie das überprüfen! Ich melde mich später noch einmal.“
Hauptkommissar Kluge hatte genug gehört.
„Probleme? Kann ich helfen?“
„Nein“, schnaubte seine Kollegin aufgebracht. „Meine Bank hat mir die Kreditkarte gesperrt, weil ich den vereinbarten Rahmen überzogen habe.“
„Das kann doch mal passieren. Was regst du dich so auf?“
„Weil ich hundertprozentig weiß, dass ich es nicht war.“
„Vielleicht hast du ein paar Einkäufe vergessen oder einige Belege übersehen.“
„Für 15.000 Euro?“
Torsten Kluge machte ein erstauntes Gesicht und hätte beinahe die noch nicht geräumte Einfahrt auf das Gelände der Trierer Kriminaldirektion verpasst. Viel zu schnell bog er ab und vergaß sogar zu blinken. Der Audi schob ein wenig über die Vorderräder und untersteuerte. Torsten Kluge nahm den Fuß vom Gas und fing den Wagen mit einer schnellen Lenkbewegung wieder ein.
„Sprich mal mit den Kollegen vom K14“, empfahl er und parkte den Dienstwagen auf seinem Stellplatz.
Sie stiegen aus, und der Himmel bewarf sie auf ihrem Weg ins Gebäude mit dicken Schneeflocken.
Nicht nur Staatsanwalt Lorscheider zeigte sich erfreut darüber, seine junge Kollegin wieder im Dienst zu sehen. Jeder, der ihr begegnete, zeigte aufrichtige Freude und begrüßte sie freundlich. Es hätte noch ein schöner Tag werden können. Christine Bernard zeigte sich versöhnlich mit den Unannehmlichkeiten an diesem Morgen und scherzte.
„Tja, Jörg. Tut mir ja leid, aber du wirst dir eine neue Kollegin suchen müssen. Ich werde den Dienst quittieren. Torben und ich machen eine Strandbar auf Mauritius auf. Es ist herrlich warm dort. Sonne, Strand und Meer den ganzen Tag. Und erst die Nächte. Nicht so kalt und nass wie hier. Schau doch nur mal aus dem Fenster.“
Ihr Bluff wurde schnell enttarnt und Hauptkommissar Jörg Rottmann winkte grinsend ab.
„Und ich dachte schon, es wäre wegen der Internen.“
Die Gesichtszüge seiner Kollegin verdunkelten sich augenblicklich.
„Wegen der Internen? Was meinst du?“
Jörg Rottmann holte tief Luft.
„Du weißt es noch nicht?“
Dann wandte er sich an seinen Kollegen Hauptkommissar Kluge.
„Hast du es ihr noch nicht gesagt, Torsten?“
„Nein. Sie hat die ganze Zeit telefoniert.“
Jetzt war Kommissarin Bernard besorgt.
„Was hat er mir noch nicht gesagt?“
Torsten Kluge räusperte sich verlegen.
„Die Kollegen von der Internen ermitteln im Fall dieses Thomas Hayden.“
„Thomas Hayden?“
Kommissarin Bernard dachte kurz nach.
„Das ist doch dieser Drogendealer mit der Guy Fawkes Maske.“
Hauptkommissar Kluge nickte stumm.
„Ja, Torsten. Was ist mit ihm?“
„Er ist tot.“
Christine Bernard wurde blass. Sagte aber nichts.
„Thomas Hayden verstarb am Tag nach seiner Festnahme im Krankenhaus an seinen schweren Verletzungen.“
„Oh, das tut mir leid. Und wieso ermittelt die Interne nun?“
„Weil ein Simon Nader, einer der Mittäter, behauptet, du hättest Thomas Hayden auf die Straße hinaus vor das Auto gehetzt.“
„Das ist doch Quatsch!“, entfuhr es ihr lauter, als sie beabsichtigt hatte.
„Reg dich nicht auf. Das glauben wir auch. Sogar Lorscheider ist auf deiner Seite.“
„Was heißt glauben? Ich weiß es. Schweinchen turnte in Parcour-Manier über die Mauer und war weg, und dieser Hayden rannte über den Hof auf die Toreinfahrt zu, während ich im Schneematsch lag, weil ich mir meinen Fußknöchel beim Sprung vom Garagendach verstaucht hatte. Steht alles in meinem Bericht.“
„Simon Nader, der Typ mit der Schweinsmaske, behauptet, du hättest Hayden weiter verfolgt.“
„Das stimmt nicht!“, protestierte Christine lautstark.
Torsten Kluge hob beschwichtigend seine Hand.
„Christine, es wird sich alles aufklären.“
Doch sie schnaubte nur und hatte Mühe damit, sich zusammenzureißen und sachlich zu bleiben. Und sie erinnerte sich wieder daran, wie sehr sie Einsätze im Drogenmilieu hasste.
Erwartungsvoll schaute sie ihren Kollegen an.
„Ja, und, wie geht es jetzt weiter?“
„Hauptkommissar Welfen vom Landeskriminalamt ist schon in Trier. Er besichtigt gerade den Innenhof und die Straße, auf der dieser Hayden angefahren wurde.“
Torsten Kluge schaute auf seine Armbanduhr.
„Er müsste gleich wieder im Haus sein. Er wird wohl dann mit dir sprechen wollen.“
Kommissarin Bernard nickte ergeben und las in Torsten Kluges Gesicht, dass das wohl noch nicht alle schlechten Nachrichten waren, die er an diesem Morgen zu überbringen hatte. Er räusperte sich, wie er es oft tat, bevor er sprach.
„Lorscheider möchte dich sprechen, bevor du mit Welfen sprichst. Am besten jetzt gleich.“
Christine Bernard wollte sich sofort auf dem Absatz umdrehen und aus dem Büro stürmen, doch ihr Mobiltelefon klingelte.
„Da muss ich dran gehen“, entschuldigte sie sich und nahm das Gespräch an.
Torsten Kluge nahm an seinem Schreibtisch Platz. Jörg Rottmann blieb stehen und schob eine Hand in seine Hosentasche.
Christine hörte aufmerksam zu, was der Anrufer zu sagen hatte.
„Was?“, reagierte sie plötzlich aufgebracht. „Das können Sie nicht machen! Ich werde mich beschweren!“
Noch einmal lauschte sie aufmerksam. Dann brach es wieder aus ihr heraus.
„So ein Quatsch! Das stimmt nicht! Meine letzte Verfügung war am Tag vor meiner Abreise. Ich habe in Luxemburg meinen Wagen betankt und mit der Kreditkarte bezahlt. Die Karte hatte ich im Urlaub ständig dabei, habe sie aber bis zum Abreisetag nicht benutzt. Ich kann ja nicht gleichzeitig in Belgien und auf Mauritius gewesen sein.“
Wieder entstand eine Pause, in der sie aufmerksam zuhörte.
„Nein! Verliehen habe ich die Karte auch nicht. Also, sagen Sie mal …“
Empört schnaufte Kommissarin Bernard in das Telefon. Auch ihre beiden Kollegen spürten deutlich, wie aufgebracht sie war.
Wütend beendete sie das Gespräch.
„Meine Bank sperrt mir mein Konto und meine Karten. Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, rief sie resigniert.
„Ja, was ist denn passiert?“, fragte Jörg Rottmann irritiert.
„Mit meiner Kreditkarte wurden in Belgien angeblich Waren im Wert von 15.000 Euro bezahlt und mit meiner EC-Karte zusätzlich noch einmal 7.000 Euro. Ich bin jetzt pleite. Beide Karten wurden gesperrt und die Bank verlangt, dass ich mein Konto ausgleiche. Aber das kann alles unmöglich sein. Ich habe beide Karten mit nach Mauritius genommen.“
„Dann sprich mal mit den Kollegen vom K14, Wirtschaftskriminalität. Das klärt sich sicher alles schnell auf.“
„Ja, danke. Den Tipp gab mir Torsten auch schon“, kam es bedrückt aus ihrem Mund. Dann klingelte ihr Handy wieder.
Noch einmal bat sie ihre beiden Kollegen um Entschuldigung und nahm auch dieses Gespräch an.
Es war nicht ihr Morgen, das bestätigte sich nach nur wenigen Sätzen des Anrufers.
„Dann lassen Sie ihn erst mal stehen“, wies sie den Anrufer an. „Ich melde mich später.“
Den Tränen nahe beendete sie das Gespräch und ließ das Telefon in ihre Jackentasche fallen.
„Mein Wagen hat ein Loch im Boden des Tanks. Er ist nicht angesprungen, weil kein Benzin mehr drin war. Die Reparatur kostet 1.500 Euro, die ich leider gerade nicht habe.“
Sie hatte ihren letzten Satz mit Verzweiflung in der Stimme begonnen, aber mit ansteigender Wut beendet. Welcher der beiden Gefühlsregungen die einzelne Träne entsprang, die sie sich mit einer schnellen Handbewegung aus dem Augenwinkel wischte, blieb ihr Geheimnis. Kämpferisch schob sie ihr Kinn nach vorn und ballte unauffällig beide Fäuste.
Jörg Rottmann war gerührt und wollte seiner Kollegin beistehen und presste hervor: „Rumänische Banden, mal wieder.“
Torsten Kluge ging dazwischen.
„Das weißt du doch gar nicht. Jetzt beruhigt ihr beiden euch erst mal.“
Um seiner nächsten Anweisung Nachdruck zu verleihen, stand er auf.
„Christine, du gehst jetzt zu Lorscheider. Ich spreche mit den Kollegen vom K5, Eigentumsdelikte. Vielleicht wissen die was über organisierte Benzindiebstähle in der letzten Zeit.“
„Da ist noch etwas“, rückte Christine nun damit heraus. „Jemand war in meiner Wohnung, und ich habe einen Drohanruf auf meinem Anrufbeantworter.“
Torsten Kluge runzelte seine Stirn.
„Das klingt jetzt aber weniger harmlos. Hast du einen AB mit Fernabfrage?“
Christine Bernard nickte.
„Dann kann Jörg deinen AB abfragen und den Anruf sichern. Und du gehst jetzt bitte zu Lorscheider.“
Sie verriet Jörg Rottmann den Zahlencode zur Fernabfrage ihres Anrufbeantworters und verließ das Büro. Dabei stieß sie beinahe mit einem Mann zusammen, der direkt vor der Tür stand und wohl gerade in das Büro wollte. Sie drängelte sich ungeduldig an ihm vorbei und lief über den Gang in Richtung Treppenhaus.
„Frau Bernard“, hörte sie hinter sich jemanden rufen.
„Keine Zeit“, rief sie, ohne sich umzusehen und stieß schon die Tür zum Treppenhaus auf. Mit langen Sätzen stürmte sie die Stufen hinauf.
Die kleine sportliche Einlage die Treppe hoch in den obersten Stock hatte etwas von ihrer Anspannung verpuffen lassen. Schwer atmend stand sie vor dem Büro der Staatsanwaltschaft und klopfte an.
Walter Lorscheider bemühte sich vom ersten Moment an, seine junge Kollegin zu beruhigen. Er war zu erfahren, um zu übersehen, welche Aufregung in der jungen Frau tobte. Sie wollte sich nicht einmal setzen. Doch er bestand darauf.
„Frau Bernard, Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze“, begann er.
‚Oh, Gott‘, dachte Christine Bernard. ‚Das fängt ja toll an. Gleich wird er mir sagen, wie schwer es ihm fallen würde, auf meine Mitarbeit zu verzichten, aber ab morgen würde er es aus gegebenem Anlass ausprobieren müssen.‘
Nervös wischte sie mit ihren kalten, schweißnassen Handflächen über den Stoff ihrer Jeans. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor und ihre Haut fühlte sich an wie roher Teig. Ihr Blut sammelte sich wohl gerade in ihrem Kopf. Denn der war heiß und sie fühlte sich fiebrig. Während sie alle Möglichkeiten durchging, was jetzt alles auf sie zukommen könnte, sprach Walter Lorscheider ruhig weiter.
„Es gibt eine interne Ermittlung im Fall Thomas Hayden. Hauptkommissar Welfen vom LKA in Mainz ist deswegen bereits im Haus und wird sie befragen wollen.“
„Ich weiß“, bestätigte Christine mit dünner Stimme.
„Dann sollten Sie auch wissen, dass es sich um eine Routineermittlung handelt. Ein flüchtender Verdächtiger ist kurz vor seiner Festnahme schwer verletzt worden und später seinen Verletzungen erlegen. Das muss untersucht werden, weil es einen weiteren Verdächtigen gibt, der behauptet, wir hätten einen Fehler gemacht.“
Kommissarin Bernard nickte und schluckte trocken. Und das „wir“ im letzten Satz von Walter Lorscheider tat ihr gut.
Der Staatsanwalt sprach weiter.
„Ich möchte, dass Sie wissen, dass wir hinter Ihnen stehen. Ich habe Ihren Bericht gelesen und glaube Ihnen. Die ärztliche Untersuchung Ihrer Verletzung am Unfallort und im Krankenhaus bekräftigen Ihre Angaben.“
Christine Bernard atmete ein und wieder aus und versuchte, sich etwas zu entspannen. Walter Lorscheider erhob wieder seine Stimme.
„Sie werden für die Zeit der Untersuchung an das Kommissariat 2 ausgeliehen und arbeiten der Kollegin Hübner zu. Ich möchte vermeiden, dass Sie mit den Ermittlungen der Kommissariate 1 und 3 im Fall Thomas Hayden in Berührung kommen. Verstehen Sie das? Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, vorübergehend, um jeglichen Verdacht auf Einflussnahme auf die laufenden Ermittlungen gegen Sie auszuräumen. Nach Abschluss der Ermittlungen nehmen Sie Ihre Arbeit im K1 wieder auf.“
Die junge Kommissarin nickte wieder und hörte weiter zu.
„Oberkommissarin Henriette Hübner erwartet Sie. Ich habe sie bereits informiert. Und jetzt gehen Sie und machen einen guten Job, so, wie wir alle es von Ihnen gewohnt sind.“
Walter Lorscheider erhob sich und gab seiner Kommissarin zum Abschied die Hand. Seine andere Hand legte er auf ihre Schulter, und mit dieser väterlichen Geste hatte er seine Kommissarin wieder aufgerichtet. Sie lächelte ihn an und verließ sein Büro.