Читать книгу Christine Bernard. Der unsichtbare Feind - Michael E. Vieten - Страница 9

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Die heilige Inquisition

Jette parkte den Wagen auf dem Gelände der Kriminaldirektion. Bevor sich ihre Wege trennten, bot sie ihrer jungen Kollegin an, sie zu dem Gespräch mit Hauptkommissar Richard Welfen von der Abteilung für interne Ermittlungen zu begleiten. Doch sie lehnte ab. Das musste sie schon alleine schaffen.

Jette fasste ihr freundschaftlich an den Oberarm und drückte sanft zu.

„Ich warte auf dich im Büro und gebe inzwischen die Fahndung nach Jacko raus.“

Christine nickte dankbar und machte sich auf den Weg in den Besprechungsraum 3. Dort war sie mit Richard Welfen verabredet.

Hauptkommissar Richard Welfen. Hanseatischer Typ. Kühl, hoch aufgeschossen, hager. Blaue Augen. Schütteres hellblondes kurzes Haar. Sein grauer Anzug saß schlecht und wirkte, als sei er eine Nummer zu groß.

Sein Händedruck war knöchern, trocken und fest. Fast wie eine Kralle. Was dieser Mann sagte, tat er, und was er versprach, hielt er.

‚Distanziert, aber verbindlich‘, war Christine Bernards erster Eindruck.

Sie setzte sich ihm gegenüber. Er blieb stehen, bis sie bequem saß. Alte Schule.

„Möchten Sie etwas trinken?“

„Nein. Danke.“

„Aber ich nehme etwas. Es stört Sie doch nicht?“

„Nein.“

Richard Welfen nahm sich eine der bereitgestellten Getränkeflaschen und öffnete sie. Während er das stille Wasser in ein Glas goss, musterte er die junge Kommissarin. Dann lächelte er freundlich und stellte die Flasche beiseite.

„Frau Kriminalkommissarin Christine Madeleine Bernard“, begann er förmlich und verglich weitere persönliche Daten mit seinen Unterlagen. Zufrieden stellte er die vollständige Übereinstimmung fest und fuhr fort.

„Sie unterstützten die Kollegen bei der Festnahme des Verdächtigen Thomas Hayden und weiterer Personen am 10. Januar auf dem Parkplatz eines Supermarktes. Im Zuge des Zugriffs flüchteten Thomas Hyaden und eine weitere Person namens Simon Nader. Sie nahmen die Verfolgung auf. Im Verlauf dieser Verfolgung wurde Thomas Hayden von einem Kleintransporter angefahren und erlag am Tag darauf seinen Verletzungen im Krankenhaus.“

Christine nickte.

Richard Welfen nahm es zur Kenntnis und sprach weiter.

„Bitte schildern Sie diesen Einsatz aus Ihrer Sicht. Beginnen Sie bei der Einsatzbesprechung im Fahrzeug der Kollegen des K3.“

Christine Bernard hielt sich an ihre Aussagen in ihrem Einsatzbericht und wiederholte in Worten, was so auch in den Unterlagen stand, die Richard Welfen bereits vorlagen.

Er hörte aufmerksam zu und ergriff zum Schluss wieder das Wort.

„Ihre Schilderung Ihres Sturzes und die Einwirkung auf Ihr Fußgelenk decken sich mit der Aussage des behandelnden Arztes. Ihre Angaben in Ihrem Einsatzbericht zur Festnahme von Thomas Hayden werden von den Kollegen OK Forster, KK Haupt und KK Schwert vom K3 bestätigt. Ebenso von PM Rieger vom K1.“

Hauptkommissar Welfen stand plötzlich auf und reichte der jungen Kommissarin seine Hand.

„Vielen Dank. Die Befragung zur Sache ist damit beendet.“

„Oh“, stieß Christine überrascht aus. „Das war es schon?“

„Ja. Was haben Sie denn erwartet? Wir sind nicht die heilige Inquisition. Auch wenn wir von Kollegen schon mal als solche bezeichnet werden. Aber unser Souverän ist der Bürger und dem gegenüber sind wir zu korrektem Handeln nach Polizeidienstverordnung verpflichtet. Meine Aufgabe ist es, dies sicherzustellen. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“

Etwas verunsichert stand Kommissarin Bernard auf und ergriff die von Richard Welfen bereitgehaltene Hand.

„Und wie geht es jetzt weiter?“

„Der Herr Staatsanwalt erhält meinen Bericht und trifft basierend darauf seine Entscheidungen.“

Immer noch irritiert verließ Christine Bernard den Besprechungsraum und zog leise die Tür hinter sich zu.

Richard Welfen war stehen geblieben und schaute der Kommissarin nach, bis sie den Raum verlassen hatte.

„Heilige Inquisition, hat er gesagt“, murmelte sie. „Ja, der Job hätte gut zu diesem Mann gepasst.“

Dieser Hauptkommissar vom LKA blieb ihr unheimlich. Aber ein anderer Kollege aus dem Landeskriminalamt in Mainz genoss ihr Vertrauen. Hauptkommissar Matheo Andersson. Mit Schaudern dachte sie an ihren ersten Einsatz als Kommissarin in Trier zurück. Ein schießwütiges Verbrecherpärchen hatte sich in einer Bank verschanzt, und sie selbst befand sich unter den Geiseln. Matheo Andersson war damals der Einsatzleiter draußen vor der Bank und verhandelte stundenlang mit den Verbrechern.

Sie angelte in ihrer Jackentasche nach ihrem Mobiltelefon. Nach dem dritten Freizeichen nahm er das Gespräch an.

„Frau Bernard. Liebe Kollegin. Schön, mal wieder von Ihnen zu hören“, flötete er gut gelaunt. „Was kann ich für Sie tun?“

„Kennen Sie den Kollegen Welfen?“

„Richard Welfen? Aber ja. Von der Internen. Was haben Sie denn mit ihm zu tun?“

„Er hat mich gerade zu einem Einsatz befragt.“

„Oha. Haben Sie Ärger?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, aber Ihr Kollege ist mir unheimlich.“

„Richard ist ganz in Ordnung. Steif wie ein Stock, aber korrekt und fair. Machen Sie sich keine Gedanken. Wenn Sie sich nichts vorzuwerfen haben, wird er es ebenso sehen.“

Der Zuspruch tat ihr gut und Kommissarin Bernard versprach, sich beim nächsten Besuch von Matheo Andersson in Trier mit einem Bürokaffee zu revanchieren.

Jette saß an ihrem Schreibtisch und kaute auf einem Kaugummi herum, während sie wieder mit zwei Fingern auf ihrer Tastatur nach den benötigten Buchstaben suchte.

„Und?“, fragte sie. „Wie ist es gelaufen?“

„Weiß noch nicht“, zweifelte Christine.

„Wir fahren gleich mal zu Paul, ein Mädchen befragen. Das lenkt dich ab.“

„Paul Brenner? Dieser Bordellbesitzer?“

„Ja, aber das hört er nicht gerne. Sag lieber ‚Klub‘.“

„Nehmen wir auf die Befindlichkeiten eines Bordellbesitzers etwa Rücksicht?“, zeigte sie sich überrascht.

Wie im Milieu rund um den Drogenhandel ermittelte Christine Bernard nur ungern bei Prostitution. Ersteres war für sie mit der Furcht vor unzurechnungsfähigen Junkies verbunden, und Prostitution hatte sie aus unerfindlichen Gründen schon immer abgestoßen. Aber diesem irrationalen Vorurteil musste sie sich jetzt stellen. Bis auf Weiteres war sie nun mal Jettes Kollegin und sie wollte ihre Arbeit ebenso gewissenhaft und professionell machen, wie es die Kollegen aus ihrem eigentlichen Kommissariat gewohnt waren.

„Versuch mal, ein wenig lockerer zu sein“, forderte Jette sie auf. „Die Menschen sind nicht nur böse oder nur gut. Beides befindet sich je zur Hälfte in jedem von uns. Es kommt darauf an, mit welcher Hälfte wir unsere Entscheidungen treffen.“

Jette stand auf und zog ihre Jacke an. Dann verließen sie das Büro und warteten im Gang auf den Fahrstuhl.

„Paul Brenner ist also ein Guter?“

Jette lächelte geheimnisvoll.

„Ja, das ist er.“

Die Aufzugskabine öffnete sich und die beiden Kommissarinnen fuhren hinunter ins Erdgeschoss.

Christine erschloss sich Jettes Sympathie für Paul Brenner nicht. Sie selbst hatte ihn im Zusammenhang mit einem anderen Fall zu Beginn ihrer Dienstzeit in Trier einmal kurz befragt. Einen besonderen Eindruck hatte er jedoch nicht bei ihr hinterlassen. Vielleicht änderte sich das bei ihrem zweiten Zusammentreffen. Bis dahin zügelte sie ihre Voreingenommenheit und handelte nach einem Grundsatz, an den ihre Mutter sie immer wieder erinnert hatte.

„Bevor du über jemanden dein Urteil fällst, laufe drei Tage in seinen Schuhen.“

Jette schmunzelte und sah ihrer jungen Kollegin deutlich an, dass es in ihr arbeitete, und sie beschloss, sie besser auf die bevorstehende Befragung vorzubereiten.

Nachdem sie ihren Dienstwagen bestiegen hatten, fuhren sie vom Hof der Kriminaldirektion, und Jette begann, zu erzählen.

„Paul vermietet Zimmer zu einem vernünftigen Preis an Mädchen, die nicht auf der Straße arbeiten wollen. Ansehnlich eingerichtet. Immer saubere Bettwäsche. Frische Handtücher. Jedes Zimmer hat ein eigenes Bad. Gibt es Ärger, ist er oder einer seiner Jungs zur Stelle. Wer nicht bleiben will, kann jederzeit gehen. Das alles wollte Romy auch. Kein ungeschützter Sex mehr bei jedem Wetter in irgendeinem Hinterhof oder in den Autos der Freier. Immer dem Risiko ausgesetzt, geprellt, vergewaltigt oder verprügelt zu werden. Und immer in einer Atmosphäre der Angst vor Jacko, der kassieren will, auch wenn das Geschäft gerade nicht so gut läuft.“

Christine blieb stumm. Jette versicherte sich mit einem Seitenblick, ob ihre Kollegin überhaupt zugehört hatte.

„Ja? Ich höre zu.“

Jette grinste.

„Bin fertig. Paul ist kein Heiliger, aber wenn ich ein Problem hätte, würde ich zu ihm gehen und ihn um Hilfe bitten.“

„Und wen befragen wir da jetzt?“

„Janina. Sie hatte auch schon Probleme mit Jacko und kann ihn nicht leiden. Sie könnte uns einen Tipp geben, wo wir ihn finden können.“

„Warum rufen wir sie nicht einfach an?“

„Schätzchen, das funktioniert in dieser Szene nicht.“

Christine nickte und schaute aus ihrem Seitenfenster auf die vorbeiziehenden Fassaden der Häuser.

„Was diese Frauen wohl dazu bringt, ihren Körper zu verkaufen?“, sprach sie gegen das Glas.

„Da hat jede ihre eigene Geschichte. Am häufigsten lockt das Geld. Janina stammt aus einer kinderreichen Familie. Anstatt für die Schule zu lernen, musste sie auf ihre Geschwister aufpassen. Wenn die abends im Bett lagen, traf sie sich mit ihrem Freund und hing mit ihm bis in die Nacht ab. Morgens war sie natürlich müde und bekam in der Schule nur die Hälfte mit. Sie blieb zwei Mal sitzen und ging in der achten Klasse ab. Natürlich fand sie keinen Ausbildungsplatz. Aber ihre Eltern schickten sie Geld verdienen. Und sie selbst wollte nicht ständig ihren Freund anbetteln, sondern sich auch mal was leisten. Sie landete schließlich an der Kasse in einem Supermarkt. 900 Euro brutto. Unbezahlte Überstunden. Reine Ausbeutung, wenn du mich fragst. Ab und zu grabbelte der Filialleiter an ihr herum und sie musste vor ihm auf die Knie. Das Handy, was du da hast, kostet so viel, dass sie dafür bei ihrem lächerlichen Lohn einen ganzen Monat hätte arbeiten müssen.“

„Wieso hat sie nicht gekündigt?“

„Brauchte sie gar nicht. Sie flog raus, nachdem sie sich geweigert hatte, künftig weiter als Gespielin zur Verfügung zu stehen.

Sie lebte ein paar Monate mit ihrem Freund zusammen und bekam wegen seines Einkommens kein Hartz4. Und er gab ihr kaum Geld, weil er seinen neuen Wagen abbezahlen musste.“

„Ist das dann noch ein Freund?“

„Das hat sie sich wohl auch gefragt. Also traf sie eine ökonomische Entscheidung.

Ihr ehemaliger Filialleiter geht heute zu ihrer Kollegin ins Zimmer nebenan und zahlt 150 Euro pro Besuch. Ihre Arbeitszeiten sind jetzt okay. Die meisten Freier sind lieb. Manche wollen nur quatschen oder kuscheln. Es gibt mehr einsame Menschen, als man denkt.“

„Und? Hat sie einen neuen Freund?“

„Natürlich nicht. Finde du mal einen Mann, der nicht sofort die Flucht ergreift, wenn er erfährt, als was du arbeitest. Da bleiben nur Perverse oder Zuhälter.“

Jette setzte den Blinker, ignorierte den abgesenkten Bordstein und parkte den Dienstwagen in der einzigen freien Lücke vor einem fliederfarben gestrichenen Haus. Sie blockierte nun einen schwarzen 7er BMW, der in der Einfahrt zu einem Hinterhof stand.

Christine Bernard. Der unsichtbare Feind

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