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2.2 Historischer Hintergrund
ОглавлениеDie heutige Psychotherapie als wissenschaftlich begründete Behandlungsform hat sich erst schrittweise aus jahrhundertealten Vorläufern entwickelt. So hat es in allen Zeiten und vermutlich auch in allen Kulturen Wege gegeben, um mit Beratung, Anleitung, Magie, Kult oder Ritualen körperliche und geistige Zustände zu verändern und Gesundheit herzustellen und zu bewahren.
Abb. 0.2: Systematik der psychogenen Störungen. Wenn mehrere Arten der Störung zusammenkommen, spricht man von komorbiden Störungen.
Als Beginn der modernen Psychotherapie gilt der Messmerismus, der auf Anton Messmers Lehre vom »tierischen Magnetismus« um 1800 zurückgeht. Sie fand im »Handauflegen« als Heilpraxis Anwendung. Daraus entwickelte sich um 1850 die Hypnose ( Kap. 20.3.1) als erstes wissenschaftlich begründetes Psychotherapieverfahren. Aus ihr ging am Ende des 19. Jahrhunderts die Psychoanalyse als erste umfassende Theorie und Behandlungspraxis für psychogene Störungen hervor. In ihrem Zentrum steht die Theorie und Lehre vom Unbewussten. Sie wurde um 1900 von Sigmund Freud entwickelt und von seinen Schülern, von denen viele sich von ihm lösten, in verschiedene Richtungen weiterentwickelt ( Kap. 15).
Ein Markstein waren dabei die Hypnosebehandlungen von Konversionsstörungen, welche die damalige Zeit als »Hysterie« stark beschäftigten. Sie führten zu den Experimenten von Sigmund Freud und Joseph Breuer in Wien, welche die Grundlage für die Entwicklung der Psychoanalyse bildeten. Freud überwand mit seinem Konzept eines »seelischen Apparates«, der sich im Verlauf der Kindheit in der Auseinandersetzung zwischen individuellem Trieb und gesellschaftlicher Norm entwickelt, das einseitig mechanistisch-physikalistische medizinische Denken und betrachtete neurotische Symptome seelischer und körperlicher Art als Folge einer biografisch bedingten Entwicklungsstörung. Aus dem Zusammentreffen dieser Entwicklungslinien entstand die Psychosomatische Medizin zwischen der Psychotherapie und den biologischen medizinischen Fächern.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war neben der Hypnose die Psychoanalyse unbestritten das führende Konzept der Psychotherapie. Nach und nach entstanden zahlreiche weitere psychotherapeutische Methoden und Verfahren. Als erste gewann die klientenzentrierte Gesprächstherapie Verbreitung, die in den 1940er Jahren von Carl Rogers in den USA eingeführt wurde ( Kap. 21).
Neuere Geschichte der Psychotherapie und Psychosomatik
• Nach 1945: Neuorganisation der psychotherapeutischen (zumeist psychoanalytischen) Institutionen und Gesellschaften in der BRD und in Österreich, die während der Zeit des Nationalsozialismus »gleichgeschaltet« waren. In der Schweiz war die Psychotherapie als Teil der Psychiatrie etabliert.
• Um 1950: In Heidelberg und München entstehen erste psychosomatische Einrichtungen an deutschen Universitäten.
• 1952: Entdeckung der Neuroleptika mit der Folge, dass das Interesse für Psychotherapie in der Psychiatrie über längere Zeit verblasst.
• 1957: »Psychotherapie« wird in der BRD als Zusatzbezeichnung in die ärztliche Weiterbildungsordnung eingeführt.
• Ab dem Ende der 1950er Jahre verbreiten sich vielfältige psychotherapeutische Ansätze. 1958 wird in den USA die Verhaltenstherapie unter dem Begriff Behaviour Therapy eingeführt.
• 1964: Durch das »Neurosen-Urteil« des Bundessozialgerichts werden in der BRD seelische Störungen als Krankheit anerkannt.
• 1967: Die psychoanalytischen Psychotherapieverfahren werden in der BRD Kassenleistung.
• 1991: Mit der internationalen Klassifikation krankhafter Störungen nach ICD-10-F setzt sich in der Psychiatrie eine deskriptive Systematik durch, die das psychodynamische Denken zurückdrängt.
• 1965–1985: »Psychoboom« vor dem Hintergrund der Emanzipationsbewegungen in den USA und in Europa; Gruppentherapie verbreitet sich
• 1970: Die »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« wird Pflichtfach im Medizinstudium an den bundesdeutschen Universitäten.
• In der DDR ist die Psychotherapie in den Nachkriegsjahren von sowjetischen Einflüssen beherrscht. Hypnose und Entspannung sind maßgebliche Verfahren. Psychotherapie kann ab 1978 von Ärzten als »zweiter Facharzt« erworben werden.
• 1980: Der Titel »Fachpsychologe in der Medizin« wird für psychologische Psychotherapeuten in der DDR vergeben.
• Ab 1985: Die psychotherapeutische Weiterbildung formalisiert sich in der DDR. In den Folgejahren entwickelt sich als psychodynamisches Konzept die »intendierten Psychotherapie«. Sie findet überwiegend als Gruppentherapie Anwendung.
• 1980: Verhaltenstherapie wird Leistung der Ersatzkassen, 1986 auch der übrigen gesetzlichen Krankenkassen.
• 1982: Die »Psychosoziale Medizin« wird medizinisches Lehrfach in der Schweiz.
• 1990: Ein Psychotherapiegesetz macht die Psychotherapie in Österreich zu einem eigenständigen Heilberuf und regelt die psychotherapeutische Ausbildung. Eine Vielzahl therapeutischer Verfahren wird anerkannt.
• 1992: Aufnahme des »Facharztes für Psychotherapeutische Medizin« in die ärztliche Weiterbildungsordnung in Deutschland.10 Das Fachgebiet erhält 2003 den Namen »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie«.
• 1999: In Deutschland tritt das Psychotherapeutengesetz in Kraft, mit dem der Beruf des psychologischen Psychotherapeuten geregelt und die Berufsbezeichnung »Psychotherapeut« geschützt wird.
• 2014: In der Schweiz steht die Etablierung der psychologischen Psychotherapie als staatlich durch ein Gesetz geregelter eigenständiger Heilberuf bevor.
• 2019: In Deutschland wird die Ausbildung von psychologischen Psychotherapeuten als »Direktausbildung« im Rahmen eines eigenen Studienganges an Universitäten unter Beteiligung der anerkannten privaten Ausbildungsstätten eingeführt.
Daneben entwickelte sich in den 1950er Jahren die Verhaltenstherapie. Sie ist neben den psychoanalytischen Verfahren am bedeutendsten in der Versorgung. Ihre Wurzeln reichen bis zur Jahrhundertwende zurück, als der russische Arzt und Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlow in St. Petersburg seine berühmten Konditionierungsexperimente mit Hunden durchführte. Von Verhaltenstherapie spricht man, seit Burrhus F. Skinner in Harvard und Hans Jürgen Eysenck in London begonnen hatten, mit der systematischen Anwendung experimentell begründeter Verfahren Verhaltensmodifikationen zu erzielen. Schließlich gewann ab etwa 1970 als weitere Behandlungsform die systemische Psychotherapie ( Kap. 19) auch in Europa Einfluss.
Der Begriff Psychosomatik entstand im 19. Jahrhundert und wurde wahrscheinlich von Johann Christian August Heinroth eingeführt, der in Leipzig die erste bekundete Professur für »Psychische Therapie« innehatte. Er propagierte, dass sich jedes Krankheitsgeschehen in seinen psychischen, somatischen und biografischen Gesamtzusammenhängen verstehen lassen müsse. Darüber trat die Psychosomatik den mühsamen Weg an, sich in der Medizin einen festen Platz zu verschaffen und auch akademisch Akzeptanz zu erlangen. Das gelang zuerst in der inneren Medizin und Neurologie, die damals eine Einheit bildeten. Als Reaktion auf die einseitig naturwissenschaftliche Orientierung ihres Faches in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertraten bedeutende Kliniker wie Gustav von Bergmann, Ludolf von Krehl, Richard Siebeck und vor allem Viktor von Weizsäcker das Programm, »den Patienten als Subjekt in die Medizin zurückzuholen«.
Heute ist die Psychosomatik Teil der Medizin und wird dort als Psychosomatische Medizin bezeichnet. Diese hat sich seit den 1920er Jahren im Überschneidungsfeld vor allem zwischen Psychotherapie und Innerer Medizin und dort als »ärztliche Psychotherapie« etabliert. In der Psychologie ist sie als klinische bzw. medizinische Psychologie angesiedelt. Wenn eine verhaltenstherapeutische Orientierung betont werden soll, wird statt von Psychosomatik auch von Verhaltensmedizin gesprochen.
Inzwischen sind spezifische Arbeitsfelder der Psychosomatik entstanden, z. B. die Psychoonkologie, die Psychodermatologie oder die Psychoimmunologie, um spezielle Forschungsansätze zu nennen, oder die Palliativmedizin und die Reproduktionsmedizin als Beispiele für integrierte psycho-somatische Versorgungsgebiete.
Die Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist als Spezialdisziplin mit dem umschriebenen Aufgabenfeld der psychotherapeutischen Behandlung psychogener Störungen ein relativ junges medizinisches Fach. Sie ist in Deutschland seit 1970 an den Universitäten im Pflichtunterricht vertreten, während sie in Österreich und der Schweiz als Teil der Psychiatrie gelehrt wird. Dabei hat es sich an der Universität eingebürgert, das Fach kurz als »Psychosomatik« zu bezeichnen, was dazu führt, dass viele Studenten überrascht sind, in diesem Gebiet überwiegend Patienten mit psychischen und Verhaltensstörungen (ohne körperliche Symptomatik) anzutreffen.
1992 wurde das Fach in Deutschland zunächst unter dem Namen »Psychotherapeutische Medizin« in der ärztlichen Weiterbildungsordnung etabliert. Im Jahre 2003 wurde die Bezeichnung in »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« geändert. In der Schweiz deckt es den klinischen Aspekt der ebenfalls relativ neuen »Psychosozialen Medizin« ab. In Österreich gibt es ein Diplom für Psychotherapeutische Medizin, die jedoch kein eigenes Fachgebiet darstellt.