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Von kleinen Brüdern und großen Nummern

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Eine Stunde später hatte ich schon 19 Mal auf mein Handy geschaut: beim Einparken, beim Über-die-Straße-Gehen, beim Aufschließen und sogar während mich meine Vermieterin im Treppenhaus über die neue, teure Briefkastenschließanlage aufklärte, mit der zukünftig alles anders, alles besser werde. Weil man hier einfach nur aufschließen, Post herausangeln und zuschließen brauche. Also wenn ich richtig aufgepasst hatte, war es genau das Gleiche, was ich die ganzen letzten Jahre mit jeder Briefkastenschließanlage gemacht hatte. Nur dass diese hier anstatt Beige den unaussprechlichen Farbton Chauxmoire trugen, wie sie mir nahezu akzentfrei immer wieder versicherte.

Ich saß auf der Bettkante und starrte das Handy in meiner Hand an. Es gab jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder ich blieb den ganzen Tag auf, um weiterhin alle drei Minuten panisch auf die Handybeleuchtung zu drücken, oder ich machte es wie ein Mann, der seit 24 Stunden auf den Beinen war: Hinlegen, Augen zu und durch. Unglücklicherweise gehöre ich zu den Menschen, die in einen totenähnlichen Schlaf fallen, wenn sie einmal schlafen. Und da ich ja seit Wochen höchstens vier Stunden pro Nacht geschlafen hatte, konnte mich kein Orchester mehr wecken, wenn sich meine Augen erst einmal dazu entschlossen hatten, der Welt gute Nacht zu sagen. Ich würde es also noch nicht mal hören, wenn Sara mich anrief. Was ja durchaus sein hätte sein können, wenn man bedenkt, dass wir schon seit einer Stunde nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Ich entschied mich für Variante zwei, mit einer kleinen strategischen Änderung. Ich würde meinen Bruder einschalten. Mit dem Studentenprivileg gesegnet, würde der zwar vor zwölf nicht aufstehen, aber ich kannte niemanden, der so einen leichten Schlaf hatte wie Martin. Ich wollte gerade an die Tür klopfen, als es von drinnen knurrte: „Komm rein oder hau ab.“ Na wer sagt’s denn! Sie können sich sicher vorstellen, dass Martin nicht gerade begeistert von meinem Auftritt war. Zumal in seinem Arm gerade seine Freundin kuschelte. Das änderte sich auch nicht, als ich ihm fünf Mal hintereinander erklärte, was er zu tun hatte: „Sobald es klingelt, rennst du in mein Zimmer und machst mich wach. Von mir aus hau mich mit der Fernbedienung. Hauptsache, ich werde wach. Wenn ich absolut nicht wach werden sollte, dann gehst du ans Handy und sagst, ich wäre einkaufen gegangen ... nee, warte, das ist irgendwie uncool …“ „Joggen?“ „Jau, joggen ist gut! Und dann sagst du ihr, dass ich zurückrufen werde. Sie heißt Sara. SARA.“

Ich blinzelte. Und sah im ersten Moment nur weiß. Wo war ich? Warum schwebte die Zimmerdecke drei Millimeter über meinem Auge? Ich riss die Augen auf. Was war hier los? Oh Gott, ich war bei lebendigem Leib begraben. Ich würde elendig hier sterben. Verhungern. Verdursten. Jetzt bloß nicht rühren, sonst kracht alles auf dich drauf. Ruhig bleiben. Atmen, ein und aus, ein und aus. Komisch nur, dass sich mit jedem angsterfülltem Atemzug die weiße Zimmerdecke über meinem Auge hob und senkte. Ich riss meine Arme hoch und griff nach meinem Gesicht. Super Aktion, Martin. In der Hand hielt ich ein großes Blatt Papier, auf das mir mein Bruder eine Nachricht geschrieben hatte. Hab dich nicht wach gekriegt. Sara hat angerufen. Du sollst zurückrufen: 65183 / 376455. T. „Hm, wann hat sie wohl angerufen?“ Mein Blick suchte das Zimmer nach meinem Handy ab. Wo hatte Martin das Ding hingetan? Ich beschloss, mich vom Festnetz aus selber anzurufen, sonst würde ich noch ewig suchen. Schwerfällig rappelte ich mich aus dem Bett. Was für ein Tag. Ich hatte keine Ahnung, wie lang ich geschlafen hatte. Ich linste auf meinen Radiowecker – schon vier Uhr. Wenn ich mich beeilte, würde ich noch ein paar Türen abklappern können, bevor es dunkel würde. Hoffentlich sah ich nicht so fertig aus, wie ich mich fühlte. Nullrunden, ohne dass jemand unterschrieb, brachten weder der Natur noch mir was. Mittlerweile konnte ich ganz gut einschätzen, wann es sich lohnte, an die Türen zu gehen und wann nicht. Ich hatte vor ein paar Monaten mal einen ordentlichen Satz beim Mountainbiken gemacht und sah danach dementsprechend auch aus. Nach zehn Türen und zehn entsetzten Gesichtern gab ich es irgendwann auf. Als das Schlimmste verheilt war, besorgte mir Nicola eine Art Bühnenschminke, da konnte ich wenigstens das blaue Auge überschminken und sah nicht mehr ganz so gefährlich aus. Natürlich hängt es nicht nur von mir allein ab, ob die Leute die Tür aufmachen oder nicht. Zum Beispiel, wenn es dämmert und dazu noch regnet oder schneit: Das ist gar keine gute Zeit. Oder generell bei richtig schlechtem Wetter. Da werden viele misstrauisch und machen erst gar nicht auf. Deshalb habe ich von November bis Februar Saure-Gurken-Zeit. Aus diesem Grund habe ich mir die letzten drei Jahre in den kalten Monaten einen Zweitjob zugelegt. Das wäre finanziell gesehen jetzt nicht unbedingt nötig gewesen, aber Geld schadet schließlich nie und ich bin auch nicht der Typ, der wochenlang zu Hause sitzen kann. Viele denken, dass wir Werber arme Schlucker sind, mit einem leichten Hang zur Kriminalität. Dass sich das Meiste unseres sauer verdienten Geldes irgendwelche grobschlächtigen Drücker-Bosse unter den Nagel reißen. Und dass der klägliche Rest für Drogen, Zigaretten und Ja!-Pfirsicheistee draufgeht. Aber ich muss Ihnen sagen, dass es da zwischen den einzelnen Werbern und deren Auftraggebern große Unterschiede gibt. Als Werber einer großen Umwelt- und Hilfsorganisation ist man zwar im Namen der Organisation unterwegs, aber dennoch Freiberufler und somit seines Glückes Schmied. In den warmen Monaten konnte ich finanziell gewiss nicht klagen. Ich schnappte mir also das Festnetztelefon und rief die Nummer meines Handys an. Das Klingeln kam aus der Küche, genauer gesagt oben vom Kühlschrank, von da, wo Martin auch den Likör in Reih und Glied hingestellt hatte. Am Abruzzen hing ein gelber Zettel: P.S. Hab Sara gesagt, du wärst mit Mama Bettwäsche kaufen. Gut, dass sie mich jetzt für ein Weichei hielt, das nichts Besseres zu tun hat, als mit seiner Mutter Biberbettwäsche zu kaufen. Wo ich schon mal in der Küche neben dem Likör stand, schraubte ich den verklebten Deckel des Abruzzen auf und nahm einen Schluck aus der Flasche. Martin hasste es, wenn jemand aus der Flasche trank, deshalb nahm ich zur Vorsicht – und zur Beruhigung – direkt noch einen Schluck hinterher. Mit einem Zwischending aus Übelkeit und Vorfreude wählte ich Saras Nummer. Und wartete. Gespannt. Als ich fast schon wieder auflegen wollte, sprang plötzlich die Mailbox an. Ich hatte die Wahl zwischen schnell wieder auflegen oder dummes Zeug auf die Mailbox sprechen. Ich entschied mich für den telefonischen Frontalangriff. Ich war schließlich 32, ein gestandener Mann. Da konnte ich wohl noch eine lapidare Nachricht hinterlassen. Der Anfang begann noch recht flüssig, aber zum Ende geriet ich mächtig ins Trudeln. “… also dann meld dich doch einfach, wenn du Zeit hast. Meine Festnetznummer ist 65183 – 4234 … oh, nee, sorry, das ist die Nummer meiner Freundin, äh, ich meine Ex-Freundin, wir sind nicht mehr zusammen, haha, deshalb auch Ex, aber wir haben die gleiche Nummer, also jetzt nicht mehr, jetzt ist sie ja nicht mehr da, ich meine, nicht mehr bei mir, da ist sie ja noch, also auf der Welt, aber ich habe jetzt eine eigene Nummer, die lautet …“ Genau an dieser Stelle war die Sprechzeit zu Ende. Schnell wählte ich noch einmal die Nummer und ratterte herunter: „ … 65183 – 7798534.“ Ohne Tschüss zu sagen. Von einer Skala von null bis zehn im Blödanstellen war ich direkt ins Finale eingezogen. Aber der Anfang war gemacht. Und als Sara mich dann zurückrief, schaffte ich es, mich mit ihr für den nächsten Nachmittag zum Kaffeetrinken zu verabreden.

Zwischen Türen und Angel(n)

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