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Herb kam unter seiner Plastikplane langsam wieder zu sich. Er lehnte noch immer an der Sitzbadewanne und hielt den blutigen, dünnen Holzspieß in der Hand. Besorgt betastete er sein verletztes Ohr. Die Schmerzen waren nun stärker. Aber sie störten ihn nicht. Statt des Gekrächzes des Käfers war sein Kopf nun mit allerlei Pfeiftönen erfüllt. Als spielte jemand Toccata und Fuge von Bach auf seiner inneren Orgel. War das wirklich nötig?

Alles in allem fühlte er sich aber besser. Nein, eigentlich fühlte sich Herb erstaunlich gut. So gut wie man sich fühlt, wenn man nach einer in Schweiß getränkten Fiebernacht morgens aufwacht und erleichtert eine deutliche Besserung feststellt. Gleich meint man sich stark genug, Bäume auszureißen, springt aus dem Bett und wird, ehe man es bis zur Kaffeemaschine geschafft hat, von einem Schwächeanfall wieder zu Boden gestreckt.

Er schätzte, dass vielleicht etwa eine Stunde vergangen war, seit die Dinge diesen bedrohlichen Verlauf genommen hatten, vielleicht weniger. Herb rappelte sich langsam auf, ging hinüber zum Schrank und besah sein Gesicht im Spiegel. Grau kam es ihm heute vor und etwas unscharf, aber das lag vielleicht an dem Schwindelgefühl. Schließlich war er soeben aus einer Bewusstlosigkeit erwacht. Da war eine gewisse Unschärfe in der Wahrnehmung nichts, worüber man sich wundern musste. Er versuchte sich die letzten Ereignisse noch einmal in Erinnerung zu rufen. Vom Anruf der Mutter bis zur verzweifelt erfolglosen Verteidigung seiner Körperöffnung. Im ganzen Zimmer lagen die Spuren des ungleichen Kampfes verstreut.

»Keine gute Art, seinen Geburtstag zu beginnen. Aber noch ist ja etwas Zeit. Das Schlimmste habe ich schon hinter mir.« Den letzten Satz nahm er selbst nicht ganz ernst. Als ahnte er schon, dass er da irrte.

Logisch und vernünftig wäre es sicher gewesen, die Sache mit dem Trommelfell von einem Arzt begutachten zu lassen.

»Was soll ich dem erzählen?« Herb versuchte sein Spiegelbild von der Sinnlosigkeit eines Arztbesuches zu überzeugen. »Dass mir ein Käfer in das Ohr gekrabbelt ist und ich mir deswegen einen Spieß ins Trommelfell gerammt habe? Einweisen wird er mich, ins Irrenhaus.«

»Er wird mich fragen, was aus dem Tier geworden ist. Und ob ich noch andere Käfer gesehen habe. Er wird die Alkoholfahne der Nacht riechen und daraus seine Schlüsse ziehen. Ausnüchterung. Und danach ins Irrenhaus.«

»Was ist denn wirklich aus dem Tier geworden?«, warf das Spiegelbild eine wichtige Frage in die Unterhaltung ein.

»Vielleicht habe ich es doch abgestochen.«

»Dann wäre es aber auf dem Spieß stecken geblieben.«

»Guter Punkt.« Herb musste darüber nachdenken. Es könnte sich aus dem Staub gemacht haben, während er bewusstlos war. Klammheimlich aus dem Ohr gestohlen. Auf der Welle austretenden Blutes hinaus gesurft. »Wie und wo auch immer. Es ist nicht mehr da. Und das zählt. Nur das zählt. Basta.«

»Man sollte jedoch bedenken …!« Das Spiegelbild wollte noch ein kluges Argument einbringen, aber Herb hatte keine Lust mehr. Es gab nun Wichtigeres zu tun.

Dieses Jahr fiel sein Geburtstag – und das war an diesem Tag ausnahmsweise etwas Positives – auf den Auszahlungstermin des Arbeitsmarktservice. Fast hätte er es vergessen. Wegen des Parasiten hätte er fast auf seine Notstandshilfe vergessen! Die einzige Geldquelle, seit er 1985, also vor nun schon vier Jahren, von seinem damaligen Arbeitgeber, der Tabakfabrik Linz, auf die Straße gesetzt worden war, weil er aus Jux anzügliche Botschaften an Erich Honecker in die Kartonagen gekritzelt hatte, die zum Export in die DDR bestimmt waren. Das war noch bevor ihn das Schicksal nach Wien gespült hatte, weil die Mutter meinte, dass sie sich wegen der Schande nicht mehr in der Nachbarschaft sehen lassen könne.

Herb versuchte vergeblich, sich die Schuhe zu binden. Seine Finger gehorchten nicht. Oder die Schnürsenkel. Oder beide. Es musste an den Nachwirkungen der Bewusstlosigkeit liegen. Wie auch immer. Eine ordentliche Masche wollte nicht gelingen. Die Zeit wurde langsam knapp. Wegen der sich häufenden Überfälle auf Briefträger wurden Pensionen, Arbeitslosengeld und andere Geldsendungen nicht mehr an die Wohnungstür gebracht, sondern nur ein Abholschein im Briefkasten hinterlegt. Das Geld musste damit von der Postsparkasse geholt werden. Persönlich. Und bis Freitag mittags, Punkt 12 Uhr. Kam man auch nur eine Minute zu spät, hatte man Pech und kein Geld fürs Wochenende. Postler machen keine Überstunden für Freaks, die ihre Schuhe nicht binden können. Herb begnügte sich daher mit einem einfachen, unkomplizierten Knoten und verließ eilig die Wohnung.

Der Abstieg aus dem zweiten Stock des typischen Wiener Altbauhauses verlief vorerst ohne Zwischenfälle. Im ersten Stock hielt Herb kurz an, weil ihn die gekünstelt lustvollen Schreie der Dame ablenkten, die in der 6er-Wohnung ihr erotisches Dienstleistungsgewerbe trieb.

»Frühschicht«, meinte Herb kurz und machte sich daran, den nächsten Treppenabschnitt in Angriff zu nehmen.

Er musste sich plötzlich am Geländer festhalten, weil ihn das Gleichgewicht verließ. Der Boden unter ihm schien sich mit einem Mal zu verformen und zu bewegen, als wäre er gänzlich aus Gelee. Eine schwabbelnde Masse. Selbst mit der Hand am Geländer fiel es Herb unglaublich schwer, auch nur einen Schritt zu setzen. Dazu kam ein kaum zu kontrollierender Brechreiz. Beinahe hätte er eine hellbraune Pampe aus halbverdauter Pizza und billigem Pflaumenfusel auf direktem Wege in das Erdgeschoss befördert.

In diesem Moment kam seine betagte Nachbarin die Stiegen herauf. Frau Laner, die gute Seele des Hauses, rettete Herb gerade noch, ehe der Magen durch die Speiseröhre zurück ans Tageslicht katapultieren konnte, was besser im Dunkel blieb.

»Was ist mit Ihnen? Soll ich die Rettung rufen?« Sie befühlte besorgt Herbs Stirn, als könnte seine Körpertemperatur über seinen Zustand Aufschluss geben. »Sie haben Fieber und gehören ins Bett! Sofort!« Sie sagte das sehr bestimmt, aber ohne ihre Stimme zu erheben. Normalerweise hätte Herb sicher auf ihren Rat gehört, aber jetzt hatte er etwas Wichtiges zu erledigen. Außerdem war das Schwindelgefühl nach ein paar Minuten auf ebenso mysteriöse Weise wieder verschwunden, wie es gekommen war.

»Ist schon gut, Frau Laner. Es geht schon wieder. Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Unkraut vergeht nicht!«

»Wie Sie meinen.« Die Nachbarin gab nach. Sie wollte sich auch nicht einmischen. »Läuten Sie halt an meiner Tür, falls Sie etwas brauchen!«

»Danke, Frau Laner, danke vielmals. So werde ich es machen. Ich werde mich später bei Ihnen melden.« Langsam stieg Herb die restlichen Stiegen hinunter. Vielleicht wäre ein Arztbesuch doch nicht unvernünftig. Er beschloss, nach der Geldbehebung bei seiner Hausärztin vorbeizuschauen. Für alle Fälle. Fürs Gewissen. Zu ihr hatte er genug Vertrauen.

Aber erst einmal musste er zur Post. Er sah auf die Uhr und erschrak. Es blieb ihm noch etwa eine halbe Stunde, ehe der Auszahlungsschalter dichtmachen würde. Wie konnte das sein? Seine Mutter riss ihn um sechs aus dem Schlaf und der Kampf mit dem Käfer mochte vielleicht eine halbe Stunde gedauert haben. Jetzt war es 11.34 Uhr. Er musste stundenlang ohne Bewusstsein gewesen sein. Es blieb noch genug Zeit. Sein Geld wartete am Postamt Praterstern. So stand es auf der Benachrichtigung. Das war leicht zu schaffen, unter normalen Umständen.

Unter normalen Umständen.

Auf der Straße, die den Max-Winter-Platz umschloss, drehten wie jeden Tag Freier ihre Runden, als gäbe es bei den Huren einen Preisnachlass für besonders viele gefahrene Kilometer. Um zum Praterstern zu gelangen, benutzte Herb gewöhnlich die Wolfgang-Schmälzl-Gasse und danach die Ausstellungsstraße. Mit einem kleinen Extrabesuch in einer der Spielhallen des Wurstelpraters, wenn es die Zeit erlaubte.

Heute – obwohl es die Zeit überhaupt nicht erlaubte – kam Herb nicht einmal dazu, die Wolfgang-Schmälzl-Gasse sicher zu überqueren. An der Ecke seines Hauses stand er unsicher und wagte sich nicht vor und nicht zurück. Franzi, eine Prostituierte, die diese Ecke seit Monaten mit Zähnen und Klauen vor den, wegen des löchrig gewordenen Eisernen Vorhangs einsickernden sogenannten Osthuren verteidigte, und die Herb – vom Sehen – kannte, hatte gleich eine passende Theorie parat.

»Bist auf Acid?« Sie war ein Kind der Siebziger und kannte sich mit den Symptomen bestens aus. Herb drehte sich zu ihr und starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Er sagte nichts.

»Geht’s dir gut?«, fragte Franzi und im selben Moment machte sie schon einen Sprung zur Seite, weil Herbs Magen jetzt doch Schnaps und Pizza los geworden war.

»Hams dir ins Hirn geschissen, du Koffer? Kotzt mir fast auf die nagelneuen Schuhe! Schleich dich, du Arschloch!!! Geh weg! Vertreibst mir noch die Kundschaft, du Schwein! Des hat man davon, wenn man wem helfen will!« Es war ihre Ecke und nun würde ein Kunde erst einmal die Kotze überwinden müssen, wenn er mit ihr das Preis-Leistungs-Verhältnis ihrer Dienste diskutieren wollte. Herb war geschäftsschädigend. Franzi gab ihm einen Stoß und Herb stolperte, von diesem Impuls beschleunigt, doch noch auf die andere Seite der Straße. Dabei stieß er ängstliche Schreie aus. Er sollte ihr eigentlich dankbar sein.

»Was ist nur los mit mir?« Er konnte sich seine eigenartigen Ausfälle nicht erklären. Während Franzi von ihrem Standplatz aus noch heftig über ihn schimpfte, schien die Welt vor und um ihn förmlich zu zerfließen. Die fahrenden Freier versanken jammernd samt ihren Autos in einem zähflüssigen grauen Strom. Ein durchlöchertes Trommelfell mag ja schlimm sein, aber konnte es derartige Halluzinationen hervorrufen? Man weiß ja: Im Ohr liegt der Gleichgewichtssinn. Wo genau und ob er wirklich liegt, wusste Herb nicht, aber er war dort irgendwo und provozierte.

»Das erklärt vielleicht die Schwindelgefühle. Aber die Trugbilder?«

Als Herbs Welt für einen Moment wieder so war, wie sie sein sollte, nämlich stabil und begreifbar, begann er zu laufen. Wenigstens bis zur Ausstellungsstraße. Er war nicht eben ein Konditionswunder, bei seinem Lebenswandel.

Endlich an der Straßenbahnhaltestelle angekommen, dauerte es eine kleine Ewigkeit, ehe sich sein Puls so weit beruhigt hatte, dass gleichmäßiges Atmen wieder möglich war. Wertvolle Minuten schmolzen dahin. Und weit und breit keine Straßenbahn. Die große Uhr an der Kreuzung zeigte 11.53 Uhr. Es blieben also noch sieben Minuten, als Herb endlich in der Ferne die rote Tram ausmachen konnte. Er fluchte und bettelte und vielleicht fauchte er sogar ein Gebet in den Himmel. Er konnte heute wirklich jede Hilfe gebrauchen.

Als sich die Bahn schließlich langsam näherte, halluzinierte sie Herb als einen großen, roten chinesischen Neujahrsdrachen, der sich – dem Mondkalender folgend zwei Monate zu früh – mit weit aufgerissenem Maul an ihn heranschlängelte. Seine gelben Augen funkelten, aber er war gut gelaunt. Das chinesische Neujahr war ja kein Grund, traurig dreinzuschauen. Auch die vielen lustigen Menschen, die seinen schlangenartigen Körper trugen, lachten vergnügt und hießen Herb mit Gesten, sich ihnen anzuschließen. Der trat aber verwirrt zurück. Er hatte keine Zeit für chinesischen Neujahrsklamauk. Gleich würde ihn die Straßenbahn an sein Ziel bringen. Also winkte er den Drachen aufgeregt weiter.

»Haut ab hier!«, rief Herb wütend. »Ihr verstellt die Haltestelle! Hier fährt gleich meine Tram ein! «

Der Drache schüttelte den Kopf und setzte seine Reise fort. Herb blieb allein an der Station zurück und starrte in die Richtung, aus der er die Straßenbahn jeden Moment erwartete. Aber da kam nichts. Er drehte seinen Kopf in die entgegengesetzte Richtung und sah verwirrt zu, wie sich der vermeintliche Drache in eine der für Wien typischen roten Straßenbahnen zurückverwandelte und ihre Rücklichter hinter dem Nordbahnhof verschwanden.

Herb wollte etwas sagen. Etwas, das seine Niedergeschlagenheit adäquat ausdrücken würde. Aber er fand keine Worte. Ob ihm die Hausärztin überhaupt noch helfen konnte? Die Post hatte inzwischen sicher schon zu. Sein Geld konnte er frühestens am Montag abholen, wenn er es denn dann schaffte, rechtzeitig dort zu sein. Er saß einsam auf der kalten Bank der Haltestelle und beobachtete die vorbeifahrenden Autos dabei, wie sie mit ihren Rädern tiefe Furchen in den graubraunen Schneematsch pflügten.

Es vergingen wohl an die zwei Stunden, ehe sich für Herb wieder ein Fenster zur Realität öffnete. Alle fünf bis zehn Minuten hielt eine weitere Straßenbahn und die aussteigenden Menschen machten eine großen Bogen um diesen offenbar mit Drogen vollgepumpten, heruntergekommenen Typen. Jene, die sich an der Haltestelle einfanden, weil sie den nächsten Zug in Richtung Zentrum nehmen wollten, rümpften die verschnupfte Nase oder schüttelten aus sicherer Entfernung angewidert den Kopf. Herb bemerkte sie nicht. Ihre boshaften Kommentare konnte er wegen der Orgelmusik in seinem Kopf nicht hören. Bach spielte das Präludium nun schon zum hundertsten Mal. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts. Ab und zu riss er seine Arme vor das Gesicht, als wollte er sich vor einem Angriff schützen. Ein Verrückter war er, für alle, die sich für normal hielten. Nach Meinung der echten Wiener, derer es nach Meinung der echten Wiener schon viel zu wenige gab, sah man in jüngster Zeit viel zu viele Verrückte frei herumlaufen. Die jüngste Zeit war eben viel zu liberal. Das hätte es früher nicht gegeben. Das war schon mal anders.

Und sie fühlten sich schließlich wie kleine Sieger, als Herb mit einem Mal von der Bank aufsprang und die Wolfgang-Schmälzl-Gasse zurück in Richtung Max-Winter-Platz spazierte, als wäre nie etwas passiert.

Das Stück Realität, das sich gerade wie ein flüchtiges Hoch zwischen zwei mentale Schlechtwetterfronten schob, gestattete Herb, halbwegs schnell und ohne weitere Komplikationen die paar hundert Meter bis nach Hause zurückzulegen. Franzi war wohl gerade mit einem Freier unterwegs oder erholte sich in ihrem Stammcafé vom Ungemach, das ihr Herbs Auswurf bereitet hatte. Ihr Standplatz war verwaist. Nur die halb verdaute Pizza klebte noch auf dem Asphalt.

Den geplanten Arztbesuch hatte Herb schon vergessen, ebenso wie sein Versprechen, bei seiner Nachbarin, Frau Laner, anzuklopfen. Als er sicher in seiner Wohnung angekommen war, legte er nur noch ein vertrautes Video in seinen VHS-Player und sich selbst auf sein altes Sofabett. Der Tag hatte noch nichts Gutes für ihn zu bieten gehabt. Mit diesem Film wollte Herb sein Schicksal endlich in bessere Bahnen lenken.

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