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Molly Duvalle war schön wie immer. Knapp bekleidet mit dem unverwechselbaren roten Lackkostüm, das sie in all ihren Filmen für die kurze Sexualpartner-Kennenlern-Sequenz trug und das von ihrem Körper abfiel, sobald man einen versteckten Knopf drückte. Dieselben roten Lackschnürstiefel, die wasserstoffblonde Löwenmähne, hochgekämmt und mit Haarspray verklebt wie ein Punk, die Botoxlippen und die zwei herzförmigen Tattoos auf den beiden überdimensionalen Brüsten.

Dafür war Molly berühmt und beliebt. Sie hatte es geschafft, dem eintönigen Dasein, als sie noch als Brunhilde Gertlinger in diesem Provinzkaff im Mühlviertel lebte, zu entkommen. Nun war sie ein Star.

Sie galt schon in jungen Jahren als aufstrebendes Talent im darstellend-künstlerischen Umgang mit den Geschlechtsorganen. Niemand kann heute mehr genau sagen, wie viele Männer sich wohl an ihren anatomischen Besonderheiten und Vorzügen aufgeheizt und an ihren Stellungsvarianten und genussvollen Verrenkungen erleichtert hatten. Der Produzent, Kameramann und Regisseur der ersten Filme hieß Othmar Feiersinger und war Brunhildes Nachbar. Die Dreharbeiten erregten ihn aber derart, dass er regelmäßig, anstatt Molly bei der Arbeit zu filmen, selbst Hand an sich legte, weswegen wenigstens 30 Prozent der Aufnahmen nachher nicht zu gebrauchen waren. Kein Wunder, dass sich heute kaum jemand aus der Szene an ihn erinnern kann. Gerüchteweise soll Othmar Psychologie studiert haben und jetzt Psychiater sein. Oder er war auf der anderen Seite gelandet und war Patient in der Anstalt. Wer weiß das schon genau, die Grenzen sind da oft verschwommen.

Molly hingegen setzte sich, nicht zuletzt dank ihrer enormen Oberweite – immer ein Renner in dieser Branche – auf dem heißen Pornopflaster durch. Sie erreichte Spitzenverkaufszahlen an der Sexshop-Theke. Besonders seit sie dort die blickdicht anonymisierten Tragetaschen eingeführt hatten, mit denen sich endlich auch der fromme Christ unentdeckt und daher reinen Gewissens mit sündigen Utensilien versorgen durfte.

Das Dorf, in dem Molly aufgewachsen und das ihr im Alter von 15 Jahren schon zu eng geworden war, stand Pate für ihren späteren Künstlernamen. Aus Mollmannsreith im Mühlviertel nahe Oberkappel wurde Molly und anstatt des von Feiersinger vorgeschlagenen Nachnamens Bigboobs, entschied sie sich für das elegantere Duvalle. Die von Natur aus zwar schon beachtliche Körbchengröße von 95D mutierte dank Dr. Grafenauer in Linz zu selbst für die Pornobranche beachtlichen 125 Doppel-D. Die übergroßen Brüste zwängte sie so gut es ging in ein Mieder aus rotem Lackstoff – wobei sie zum Zuschnüren wenigstens zwei Helfer brauchte, damit das Ganze einigermaßen kompakt und verschlossen blieb. Als die Transformation Brunhilde Gertlingers zu Molly Duvalle endgültig abgeschlossen war, wohnte sie bereits in Wien und war ungemein erfolgreich, weil am Verkauf ihrer VHS-Videos umsatzbeteiligt. Sie konnte sich daher die Zusatzversicherung leisten, um damit den gut aussehenden Physiotherapeuten zu bezahlen, der ihr dabei half, mit den Haltungsschäden zurechtzukommen, die ihre schweren Brüste und die viel zu hohen Stöckel ihrer kniehohen, roten Lackschnürstiefel mit sich brachten.

Zu der Zeit, als Molly noch Brunhilde hieß, hatte sie eine kleine Affäre mit Herb, mit dem sie die Hauptschule Hofkirchen in der Gemeinde Oberkappel besuchte. Eine typische Liebelei zwischen Halbwüchsigen, sollte man meinen, für Herb war es jedoch die große Liebe. Das gestand er Brunhilde zwar nie, aber auch so hatte sie es irgendwie gespürt. Nur der Herbert, wie er damals von seiner Mutter noch genannt wurde, war halt zwei Jahre jünger als sie und da interessierst du dich eher für die Sechzehnjährigen, wenn du selbst fast vierzehn bist, als Mädchen, und aussiehst wie fast achtzehn, von der körperlichen Entwicklung her gesehen. Sechzehnjährige masturbierten schon. Das machte sie für die dem Sexuellen sehr aufgeschlossene Brunhilde allemal interessanter. Zu Herb sagte sie: »Wenn du zwei Jahre älter wärst, gäbe es für mich keinen anderen!«

Damit konnte Herb leben.

Jahre später entdeckte er zufällig eines ihrer Videos im diskreten Hinterzimmer seines nach außen hin sehr seriösen Videoverleihs und gab es nie mehr zurück. Sicher, er hätte das Band auch kaufen können, aber Herb ertrug lieber die wöchentlich anfallende Leihgebühr, als den Gedanken, dass irgendein Perverser aus dem Videoladen etwas Unaussprechliches mit seiner Jugendliebe anstellen könnte. So meinte er seine Brunhilde vor Schaden bewahren zu können.

Jetzt hatte Herb ja die Altersschwelle, an der er damals gescheitert war, schon deutlich hinter sich gelassen und die Kunst manueller Selbstbefriedigung beherrschte er mittlerweile meisterhaft in allen seinen Spielarten. Also wurde aus Brunhilde Gertlinger und Herbert Kratochvil alias Molly Duvalle und Herb Kratochvil doch noch auf diese etwas ungewöhnliche Art und Weise ein Liebespaar, wenn auch nicht ganz so romantisch, wie Herbert sich das seinerzeit ausgemalt hatte. Trotzdem gelobte er in jenem Moment, als er die VHS-Kassette zum ersten Mal in den Recorder schob, feierlich, mit keinem anderen Pornovideo je Sex haben zu wollen, bis dass der Tod ihn von seiner Brunhilde scheiden würde.

*

Als das Videoband an seinem Ende angelangt war, lag Herb immer noch regungslos auf seinem Diwan. Er hatte von der wenig dramatischen Handlung nicht viel mitbekommen. Aber er kannte den Film ja bereits, hatte ihn schon Hunderte, wenn nicht Tausende Male angesehen. Ein Wunder, dass die Kassette überhaupt noch Bilder lieferte.

Eine Spinne kroch aus dem verwundeten Ohr. Er erschrak erst und wischte sie mit einer hastigen Bewegung weg. Das kleine Tier landete auf dem Diwan und versuchte sich davonzumachen. Herb schlug zu. Einmal, zweimal, dann unzählige weitere Male. Bis sein Arm müde wurde. Endlich! Endlich bin ich sie los! Für einen Moment fühlte er sich wie ein Sieger. Doch das Gefühl währte nur kurz. Schon spürte er noch eine Spinne an seiner Wange und nach und nach krabbelten immer mehr Insekten aus ihm heraus. Hunderte. Nein, Tausende Kakerlaken, fette, grünlich schimmernde Schmeißfliegen und Käfer, ja sogar etliche Tausendfüßler bedeckten sein Gesicht. Ein einziges wirres Durcheinander Phobien auslösender, wirbelloser, fliegender oder kriechender Chitinpanzer und Eiweiße mit Beißzangen, Saugrüsseln und Giftstacheln. Herb schlug wild um sich, wischte sich eine Handvoll ab, und doch kamen unzählige dieser Viecher nach.

Er rannte, verzweifelt um Hilfe flehend, zur Wanne und ließ kaltes Wasser über seinen Kopf laufen. Für ein paar Minuten. Dann waren die Viecher wieder verschwunden und er schleppte sich erschöpft zum Sofa zurück. Er schien langsam den Verstand zu verlieren.

Es war ihm nicht möglich, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen oder sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Er bemühte sich vergeblich, einen Punkt an der Decke zu fixieren und herauszufinden, ob dieser Punkt etwa eine tote Fliege sei oder nur abgebröckelter Putz. Als läse er ein schwieriges Buch, in dem man einen Absatz beginnt und den nächsten und übernächsten, nur, um irgendwann festzustellen, dass man sich nicht ein Wort davon merken konnte, geschweige denn, seinen Sinn verstand. Ständig flogen wirre Gedanken durch seinen Schädel. Es schien unmöglich, sie einzufangen und in Ruhe zu betrachten. Hatte er es doch einmal geschafft, einen davon mit seiner Hand zu schnappen, zerplatzte dieser vor ihm wie eine Seifenblase, mit einem schadenfrohen Kichern hinterher. Was wollten sie nur alle von ihm?

Er wälzte sich hin und her. Er hätte auch aufstehen und sich die Kleingeld-Sammlung vornehmen können. Geld für eine Flasche billigen Fusel könnte er womöglich noch zusammenkratzen. Die gab’s beim Supermarkt am Praterstern. Damit hätte er die wirren Gedanken so weit betrunken machen können, dass sie langsamer flögen und ihn nicht so schwindelig machten. Ein paar von ihnen würden vielleicht sogar einschlafen und ihn für ein Weilchen in Ruhe lassen.

Herb breitete die Münzen auf seinem Diwan aus und sortierte sie nach ihren verschiedenen Werten. Oder sagen wir, er hätte sie gerne so geordnet. Seine vergeblichen Bemühungen konnten einem fast Mitleidstränen in die Augen treiben. So würde er bei Monty Pythons Upperclass Twit of the Year spielend um den Sieg mitmischen. Schließlich schob er den ganzen Haufen Kleingeld entnervt in einen Plastiksack. Es warteten ja noch andere Hürden, die es zu überwinden galt. Er musste es vom zweiten Stock hinunter auf die Straße schaffen, an Franzi möglichst unfallfrei vorbei und runter zum Praterstern. Mit Straßenbahn, Neujahrsdrachen oder zu Fuß. Das Wie war ihm egal.

Mittlerweile war es draußen dunkel geworden. Ein eisiger Wind kündigte eine weitere bitterkalte Winternacht an. Daher hatte sich alles, was sonst draußen auf dem Platz herumlungerte, in das Geschäft hinein gedrängt. Ein wenig Wärme für die Vergessenen, die von ihren Familien Verstoßenen, und für jene, welche man, so wie sie sich benahmen, selbst aus dem eigenen Kreis verstoßen hätte und Gott dankte, dass man unter normalen Umständen nie mit ihnen zu tun bekam. Natürlich waren auch die Anständigen gekommen. Die von der Ehefrau noch um ein Häuptel Salat fürs Abendessen Geschickten. Oder die Optimisten, die eine Flasche guten Weines besorgten, um damit das neue Date zu ersten sexuellen Handlungen zu verleiten. Die besseren Leute versuchten angestrengt, jedem Augenkontakt auszuweichen, der darauf abzielte, ihnen die paar Groschen abzubetteln, die nötig waren, um die vom Alkohol dominierten Sehnsüchte bei Laune zu halten.

Herb begab sich zum Regal mit dem billigen Schnaps. Er war kein Schnorrer und schon gar kein Alkoholiker. Behauptete er. Er hatte eine Mission. Die unbändigen Gedanken mussten gezähmt werden. Eine Art Safari, für die er Betäubungsmunition brauchte. Außerdem hatte er einen dicken Sack Geld mitgebracht. Das allein schon unterschied ihn von diesen Verlierern, die mit ihren paar Kröten nicht einmal den Gegenwert eines Mini-Jägermeisters aufbringen konnten.

Er schnappte sich triumphierend eine Wodkaflasche.

»Size does matter!« Mit dieser Feststellung brachte er seine Beute an die Express-Kassa, also jene Kassa, an der sich ausschließlich Kunden anstellen durften, die nicht mehr als fünf Artikel in Kaufabsicht bei sich trugen. So stand es auf einem großen Schild – dicke gelbe Buchstaben auf rotem Grund. Neidvolle Blicke trafen Herb, losgeschickt von den vielen armen Seelen mit den übervollen Einkaufswagen, wegen der ungerechten Bevorzugung. Es war vielleicht auch der Wodka, den sich einer in der Warteschlange zum Durchstehen der halben Ewigkeit herbeiwünschte, die ihn die unbeholfene Aushilfskraft an der Kassa noch an Lebenszeit kosten würde.

Es gibt eine höhere Gerechtigkeit.

Als Herb für seine Flasche den prallen Sack mit Münzen im Wert von zwei und fünf Groschen eintauschen wollte, drückte die Kassierin ungerührt einen versteckten Alarmknopf, der zwar nicht gleich die Polizei, dafür aber den gestressten Filialleiter auf den Plan rief. Völlig außer Atem erreichte der den Kassenbereich und schüttelte sogleich abwehrend den Kopf und den Zeigefinger seiner rechten Hand. Keine Chance.

»Wir sind hier keine Wechselstube!« hechelte der aussichtsreiche Kandidat auf den nächsten Premium-Schlaganfall.

»Geld ist Geld«, protestierte Herb.

»Nein, lieber Herr. Hier ist Geld nicht gleich Geld. Hier zahlen Sie bitte in Scheinen, mit Karte oder sonst irgendwie für einen normalen Menschen nachvollziehbar«, hechelte der Filialleiter aufgeregt die Regeln seines Hauses nach. Es kam ihm in den Sinn, dafür auch ein Schild anzubringen. »Hier hat niemand die Zeit, sich mit Ihrer jämmerlichen Kleingeld-Sammlung zu beschäftigen. Also, wenn ich Sie bitten dürfte, die Ware zu bezahlen oder unser Haus ohne diese zu verlassen, damit ich mich wieder meiner eigentlichen Arbeit zuwenden kann.«

Da Herb heute offenbar sein uneinsichtiges Gesicht mitgebracht hatte, fuchtelte der Filialleiter ärgerlich mit einer Hand dem Sicherheitsdienst zu. Ein schneller Abgleich des Kampfgewichtes und Herb entschied, den Wodka doch am Förderband seiner weiteren Bestimmung zu überlassen. Mitsamt seinem Sack verließ er das undankbare Konsum-Etablissement. Die Warteschlange nahm es mit Genugtuung zur Kenntnis.

Da stand Herb nun in der eisigen Kälte mit einem Sack voller Geld ohne Wert. Der Wind blies ihm Neuschnee ins Gesicht. Wenigstens gaben Ohr und Hirn zurzeit etwas Ruhe. Er besah sich seinen Reichtum und beschloss, ihn in das Wettcafé zu tragen. Dort kannte man ihn. Ein Glas Bier würde ihm der Kellner sicher für seine Münzen einschenken. Vielleicht ging sich sogar ein zweites aus und eine kleine Wette. Das klang gut. Damit wollte er den verdammtesten aller seiner Geburtstage ausklingen lassen.

Seine Schritte rissen dunkle Streifen in die dünne Schneedecke, während er den Platz überquerte. Er hatte den Kragen seines Mantels und die Schultern hochgezogen, so gut es ging, damit möglichst wenig Schnee bis zu seinem Hals durchdringen konnte. Endlich öffnete er die Tür des Cafés und mit ihm wehte ein wenig Winter in die hermetische Welt der Spieler und Glücksritter. Ein kurzer verächtlicher Blick für den Neuankömmling, und schon fixierten sie wieder die Monitore der Verheißung.

Herb deponierte den Geldsack auf dem Tresen, um damit den Kellner anzulocken.

Der warf einen flüchtigen Blick auf den Inhalt.

»Weißt du was? Ich schreib’s auf. Du kannst es das nächste Mal bezahlen. Deinen Schotter behalte ruhig. Ich bin doch nicht blöd und zähl den ganzen Haufen da nach.« Der Kellner schüttelte abwertend den Kopf, während er den Zapfhahn zog und das Bier langsam in das Glas laufen ließ. »Was seid ihr nur für Loser hier«, murmelte er halblaut. Er hielt sich für etwas Besseres.

Herb war egal, was der dachte. »Er plustert sich auf. Dabei kommt er täglich hierher, um andere zu bedienen. Obwohl er dem Landauer sicher nicht einmal einen Hungerlohn wert ist. Wer ist da der wirkliche Loser?«, ging es ihm durch den Kopf. Er nahm sein Getränk in Empfang und zum ersten Mal an diesem seinem Geburtstag fühlte er sich gut. Der unbezahlbare Moment der völligen Zufriedenheit mit sich und der Welt. Glück war so einfach zu haben. Die seltsamen Erscheinungen waren verschwunden, sein Hirn funktionierte wieder wie geschmiert. Vielleicht war das ein Zeichen.

»Glaubst du, der Landauer gibt mir Kredit für ein kleines Spielchen?«

»Frag ihn doch! Er ist drüben in seinem Büro«, schlug der Kellner vor und malte Herbs Namen auf einen Zettel. Gleich darunter setzte er den ersten Strich. »Oder frag besser vorher das Riesenbaby. Bin nicht sicher, ob der Landauer wegen so was gestört werden will.«

»Hm, danke. Werd’s mir überlegen.«

Das Riesenbaby war der Leibwächter vom Landauer. Nie freundlich und auch nie unfreundlich, selbst wenn er einem die Eier quetschte, weil man mit der Rückzahlung seiner Spielschulden in Verzug geraten war. Eher wie ein Stein – gefühlsmäßig. Dafür aber wie ein Berg – körpermäßig und so klug wie ein Troll aus einem „Herr der Ringe“-Film.

Herb fühlte sich ein bisschen unsicher, ob die Zeichen wirklich so klar auf Sieg stünden, dass er deshalb gleich King Kong auf sich aufmerksam machen sollte. Ein vernünftiger Mensch hielt sich von ihm fern. Man hängt ja irgendwie am Leben. Wenn es nicht etwas absolut Unvermeidliches war, das mit ihm besprochen werden musste, ließ man es besser bleiben.

Ein zweites Glas Bier würde Klarheit bringen.

Aber erst das dritte erfüllte ihn mit diesem vertrauten, trügerischen Gefühl von Mut und Stärke, wo Bescheidenheit und Unsichtbarkeit angebracht gewesen wären.

Nun stand Herb also von seinem Barhocker auf – nicht ohne seinen Sack voller Kleingeld – und durchquerte das Lokal, wie in Zeitlupe, vorbei an den Poker-Automaten. Es schien ihm, als begleiteten ihn die bewundernden Blicke der Spieler auf seinem Weg zum Kampf mit dem Ungeheuer, das die schöne blonde Frau in seiner Gewalt hielt, die zu befreien der einsame Held ausgezogen war, ohne den Tod zu fürchten.

Als Herb dem Kong gegenüberstand, fühlte er sich klein. Sehr klein.

Er sah zu ihm hinauf.

»Was willst du?«, kam es mit tiefer, kratziger Stimme von oben.

Herbs Zunge verweigerte zuerst den Gehorsam.

»Was willst du?« Der Gorilla versuchte es noch einmal.

»Ich …«

»Ja?«

»Ich … ich würde gern den Landauer sprechen«, stotterte Herb und fügte untertänigst hinzu: »Wenn es gestattet ist.«

»Was willst du von ihm?«

»Ich möchte ihn fragen …«

»Na?« Wachsende Ungeduld grollte vom Berg auf ihn hinunter. »Was willst du ihn fragen?«

»Ich wollte … ich möchte gerne für ein oder zwei Spielchen. Es wär wegen einem kleinen Kredit, weil ich sicher bin, dass ich heute eine Strähne hab. Eh nicht der Rede wert. Und, wenn es nicht geht, dann ist es auch recht. Ich will ja nicht stören, wegen so was.« Es war nicht gerade Heldenmut, der aus Herb sprach. Aber immerhin, er hatte den Kern der Botschaft auf den Weg gebracht.

»Mal sehen.« Der Berg erhob sich langsam, um seine Umgebung nicht zu beschädigen, und verschwand in der Bürotür, die er bisher mit seinem Körper verdeckt hatte.

Es dauerte.

Es dauerte zu lange.

So lange hatte Herbs Verstand den Aufenthalt in dieser Realität nicht eingeplant.

Schon begann sich die Bürotür in kleine Partikel aufzulösen und in sich zusammenzufallen. Ebenso wie die Automaten und Fernseher, die Spieler und der arrogante Barmann. Die ganze Einrichtung zerbröselte vor Herb zu Staub. Dann war da nur noch das große schwarze Loch, das alle Partikel in einem gewaltigen Strudel in sich hineinzog. Unbarmherzig wurde auch Herb vom Nichts verschluckt.

Von außen betrachtet sah die Szene etwas anders aus. Für den Augenwinkel des Zockers, der am Bildschirm neben dem Büro saß und gerade überlegte, ob er sich mit einem König-Drei-Blatt auf ein Spiel mit seinen virtuellen Gegnern einlassen sollte, war Herbs Körper nur eine leblose Masse, die zu Boden fiel. Er schien vielleicht ein wenig genervt von der unerwünschten Ablenkung. Schließlich ist Texas Hold’em kein Glücksspiel. Da muss man sich konzentrieren können. War ja nicht sein Problem, was immer das Problem war. Er drückte einen Knopf und ärgerte sich über den Flop, der seine Gewinnchancen auf ein paar Krümel minimierte. Flop war da das richtige Wort.

Herbs Gliedmaßen zuckten unkontrolliert. Der Plastiksack mit seinem Schatz war, als er auf den Boden prallte, geplatzt und sein Inhalt in alle Richtungen geschossen. Natürlich hoben die Spieler im Lokal bei dem Geklimper reflexartig den Kopf. Schien ja für einen kurzen Moment, als hätte jemand den Jackpot geknackt. Darauf waren ihre Automatenhirne programmiert. Wegen der wertlosen Groschen-Münzen hielt die Neugier keine zwei Sekunden. Schon beeindruckend, wie schnell die Profis aus Fallgewicht und Aufprallgeräusch errechnen konnten, dass sich die Sache nicht lohnte. Herbs Arme zappelten mit seinen Beinen um die Wette. Schaum trat aus seinem Mund. Als hätte ihn jemand in ein frisches Bier getaucht. Ziemlich gruselig. Ein Exorzismus hätte vielleicht etwas gebracht. Aber hier im Wettcafé saß heute kein Priester. Der Dämon hatte leichtes Spiel.

»Klassischer Fall. Spontanentladung der Nerven im Gehirn. Ein Epi, wie er im Buche steht.« Nun erhob er sich also doch von seinem elektronischen Pokertisch. Er war schließlich Rettungssanitäter und hatte sogar noch die graue Uniform an. Quasi seine Pflicht, sich einzumischen. Auch nach Dienstschluss. Besonders, da die Maschine gerade die besseren Karten hielt.

»Lasst mich vorbei!«, rief der eingebildete Ersthelfer, als hätte sich bereits eine undurchdringliche Traube Schaulustiger um das Opfer gebildet. Er zog dabei einen kleinen Gummikeil aus der Brusttasche und steckte ihn Herb zwischen die Zähne. »Damit er sich nicht die Zunge abbeißt.« Dann ging er seelenruhig zurück zum Automaten und spielte weiter. »Mehr kann ich im Moment nicht für ihn tun.«

Herbs Extremitäten machten, was sie wollten. Hals, Kopf und Torso – ein einziges zappelndes Etwas. Als hätte ihn ein Sadist an den Stromkreis angeschlossen und spielte mit dem Schalter. Krampf ein, Krampf aus. Krampf ein, Krampf aus. Die Beine stießen an die Bürotüre des Landauer. Sie wollten sich über die Nichtbeachtung seines Anliegens beschweren.

Normalerweise hätte Landauers Leibwächter den Störenfried in Sekundenschnelle zur Ordnung gerufen und für nachhaltige Ruhe gesorgt. Aber hier gab es keinen aufgebrachten Spieler zu bändigen, der den Verlust seines Monatslohns nicht verkraften konnte. Zuerst brauchte er ja schon mal eine Ewigkeit, um wenigstens das Einfache zu verstehen. Dass der vermeintliche Angreifer nicht einmal annähernd auf Augenhöhe zu suchen war. Dass dieser auf dem grindigen Boden des Wettcafés rollte und sein Speichel zu einem Cappuccino aufgeschäumt war, überforderte das, bemessen an der Körpergröße, doch verschwindend kleine Gehirn des Riesenbabys. Als müsste die Angelegenheit erst, in kleine Teile zerlegt, in eine Postkutsche verladen werden, ehe sie sich damit auf den Weg in die Tiefen eben dieses kleinen Gehirnes aufmachen konnte, um dort vielleicht jemanden zu finden, der das alles verstehen und eine vernünftige Entscheidung treffen würde. Hilfesuchend drehte er sich zum Landauer. Er brauchte einen Befehl, eine Handlungsanleitung, irgendetwas.

»Räum ihn aus dem Weg!«, kam es von seinem Arbeitgeber, der sich nun, da sich die Sache als wenig bedrohlich erwiesen hatte, aus der Deckung wagte und sein fahles, von schwerer Krankheit gezeichnetes Gesicht zeigte. Die Wangen hingen ihm in bleichen Falten von den Jochbeinen. Sein Körper, obwohl höchstens fünfundvierzig Jahre alt, schien nach und nach den Betrieb einstellen zu wollen. Um diesen unvermeidlichen Prozess des Verfalls wenigstens etwas zu verlangsamen, zog der Landauer stets einen kleinen Wagen mit Sauerstoff hinter sich her. Dünne durchsichtige Schläuche taten ihr Bestes und beförderten lebenserhaltende Luft aus den Flaschen in die schwarzen Lungen des Königs der Sportwetten.

Der Leibwächter sah ihn verständnislos an.

»Aus dem Weg räumen?«

»Nein, nicht so aus dem Weg. Idiot!« Wenn sich der Landauer über etwas aufregte, wie zum Beispiel eine blöde Frage, bekam er immer einen kleinen Hustenanfall. Nur kurz, aber heftig. Und nach jedem dieser Anfälle schien wieder etwas weniger Lunge zum Atmen für ihn übrig zu bleiben.

»Räum ihn einfach etwas zur Seite, damit ich nicht über ihn drübersteigen muss. Geht das in dein Spatzenhirn? Er interessiert mich nicht. Oder besser noch: Ruf die Rettung. Die sollen ihn abholen kommen. Aber nicht aus dem Lokal. Klar? Trag ihn raus auf den Platz und leg ihn auf eine Parkbank. Ich will damit nichts zu tun haben.«

»Ist klar, Chef.« So brauchte er das. Vorgekaut und leicht zu verdauen. Je unkomplizierter der Auftrag, desto besser funktionierte der Mann. Er schnappte sich den zappelnden Körper und trug ihn überraschend behutsam vom Chefbüro weg. So viel Zärtlichkeit hätte man ihm nicht zugetraut. Da hatten sich wieder alle von reinen Äußerlichkeiten täuschen lassen. Typisch.

»Bá-e-Yaan!«, schrie Herb plötzlich. »Warte! Ich komme mit! Báe-Yaaa-aaan!« Sein Anfall wurde so stark – das glaubte man nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hatte –, dass der Gorilla, dieser unglaublich riesige Berg von einem Kraftsportler, ins Wanken kam. Mitsamt dem Epi stürzte er nach hinten auf den Rettungssanitäter und begrub ihn und seine ganze elektronische Pokerrunde unter sich.

Der Landauer war in dem Moment gerade dabei, seinen Sauerstoffwagen durch den Hauptraum des Lokals zu ziehen, um dort nach dem Rechten zu sehen.

»Was?«, hustete er aufgeregt, ohne sich auch nur einen Deut um die Gesundheit der Gefallenen zu sorgen. »Was hat er gesagt?«

Niemand im Lokal hatte dem Geschrei von Herb Beachtung geschenkt. Warum auch? Gab’s dafür etwas zu gewinnen? Wie waren die Quoten, wenn man die Antwort wusste? Das war in diesem Ambiente der Dialekt, in dem kommuniziert wurde. Und der Gorilla musste sich nach dem Sturz erst wieder sortieren.

»Was hast du gesagt?«, wandte sich der Landauer daher direkt an Herb. Aber aus dem war nun wirklich nichts Vernünftiges rauszuholen. Er strampelte immer noch wie Ann Darrow in Kongs Armen.

»Da hab ich mich wohl verhört.« Gerade wollte sich der Landauer enttäuscht wieder abwenden, da kam es wieder:

»Bá-e-Yaan!«

Diesmal war es klar und deutlich zu verstehen. Kein Zweifel. Es war das Wort. Das Wort, das den Landauer in Aufregung versetzte. Der Gorilla schaute verstört. Alles in allem hoffte er, wegen dieses Vorfalls seinen Arbeitsplatz nicht zu verlieren.

»Er hat Bá-e-Yaan gesagt, stimmt das?«, wandte sich der Landauer an seinen Angestellten. »Stimmt das?«

»Ja, Chef.« Das war jetzt nicht einfach nur Unterwürfigkeit. Er hatte das Wort wirklich gehört, auch wenn es ihm nichts bedeutete.

»Vergiss die Rettung, trag ihn ins Büro!«, kam die neue Order. »Sofort!« Der Leibwächter trug Herb also ins Büro und trat mit einem Fuß so gegen die Tür, dass diese hinter ihm zufiel. Man wollte ungestört sein. Er legte Herb auf eine teure Lederbank. Vorsichtig, um das Möbel nicht zu beschmutzen. Designerstück. Normalerweise durfte sich nur der Landauer dort ausruhen. Sein Privileg als Chef. Wehe, es wagte jemand, sich draufzusetzen. Und jetzt? Jetzt lag da ein heruntergekommener Spieler, dreckig und von einer seltsamen Krankheit befallen, zitternd auf dem Allerheiligsten. Hoffentlich nichts Ansteckendes. Das wäre so ziemlich das Letzte, was der Landauer jetzt noch brauchte, in seinem erbärmlichen Zustand. Er schluckte den Ekel und die Angst vor Ansteckung trotzdem runter. Etwas von dem, was Herb da in seinem Delirium gemurmelt hatte, musste von unschätzbarem Wert sein. Das hatte sogar der Leibwächter verstanden.

Über der edlen Couch hing ein weniger edles Schwarzweiß-Foto von einer nackten Frau und einer sprudelnden Sektflasche zwischen den Brüsten. Typisches Erotik-Aktbild bei schwacher Beleuchtung, irgendwo zwischen vermeintlichem Kunstanspruch und weniger vermeintlicher Anspielung auf die Freuden einer Ejakulation. Der Rest des Raumes war mit dem typischen vorhersehbaren Bürointerieur angefüllt. Billige Metallregale für die Geschäftsbücher und Steuerordner. Ein PC. Nicht das allerneueste Modell, aber auch nicht aus dem Jahre Schnee. Am ehesten würde man geschmacklich dem alten Schreibtisch etwas abgewinnen. Erbstück. Wahrscheinlich konnte da jemand seine Schulden nicht zahlen und setzte die Antiquitäten seiner Oma stattdessen für sein Leben ein.

Herbs Anfall schien nachzulassen. Das Zittern klang allmählich ab. Aber er war noch nicht wirklich ansprechbar.

»Hey, du! Bist du endlich wach?« Der Landauer beugte sich über Herbs Gesicht und nahm die Sauerstoffmaske zur Seite, damit er deutlicher sprechen konnte. »Was weißt du von Bá-e-Yaan? Na los, red schon! Genug geschlafen!« Er schlug ihm ins Gesicht, so fest es ein COPD-Kranker eben konnte. Keine Regung.

Was dachten die sich? Natürlich kam von Herb keine Antwort. Man stelle sich das mal vor. Erst kriecht dir ein Käfer ins Ohr, du zerstichst dir selbst das Trommelfell, die monatliche Stütze geht dir flöten, weil du von einem chinesischen Neujahrsdrachen in die Irre geführt wirst, dann streckt dich ein klassischer Epi auf dem dreckigen Boden eines dreckigen Cafés nieder und am Ende wollen alle nur von dir wissen, was du während dieses Anfalls genau gesagt hast, obwohl dein Bewusstsein gerade auf Grund gelaufen ist. Und sie nehmen dir noch nicht einmal den Beißkeil aus dem Mund. Die spinnen doch!

»Pass gut auf ihn auf. Dass er mir nicht abhaut. Er mag ein Nichts sein, ohne Wert für die Welt, aber für mich ist er in Gold nicht aufzuwiegen. Van Helsinger ist in der Stadt. Macht seine Verkaufstour für die reichen Einfaltspinsel. Das ist morgen, glaube ich, in diesem Gasthaus zum Mittelpunkt der Welt. Ich freu mich schon auf van Helsingers Gesicht, wenn er von dieser Geschichte hört.«

FREMDKÖRPER

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