Читать книгу FREMDKÖRPER - Michael Haderer - Страница 8

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Sie musste wieder eingeschlafen sein, denn als Janis zu sich kam, waren ihre Fesseln so weit gelockert, dass sie ihre Hände und Füße davon befreien konnte. Es schien, als hätte Janis einen unsichtbaren Verbündeten. Auch die Zellentür stand einen Spalt offen, sodass ein schmaler Streifen Ganglicht es schaffte, auf den kalten Steinboden ihrer Zelle zu fallen und Janis den ersehnten Ausgang in die Freiheit zu markieren. Wer auch immer dafür verantwortlich war, hatte vermutlich auch die Blumen an ihr Bett gebracht. Um etwas Dankbarkeit zu zeigen, nahm sie das Johanniskraut aus der Vase und steckte es in die Tasche der grau-weiß-gestreiften Gefängnisjacke, die man ihr angezogen hatte. Vorsichtig schlich sie sich an die Tür heran. Es konnte auch eine Falle sein.

Janis riskierte einen Blick durch den Spalt auf den Flur. Quadratische senfgelbe Fliesen für den Boden, bläulich-grüne quadratische Fliesen an der Wand. Alle paar Meter sorgte eine schmucklose Neonröhre für grelles, kaltes Licht.

»Geschmacksdesaster!«, kam es Janis in den Sinn. Es schien in der einen Richtung keine Wachen zu geben, also wagte es Janis, den Kopf weiter rauszustrecken und die andere Seite des schmalen Ganges zu inspizieren. Auch nichts. Sie war allein. Der Flur musste schier endlos sein, denn trotz des gleißenden Neonlichtes konnte man nach beiden Seiten kein Ende ausmachen. Janis entschied sich, nach links zu gehen, besser gesagt, sie schlich nach links mit dem Rücken die Fliesenwand entlang. Zuerst nur ein paar Schritte auf Zehenspitzen, dann immer schneller werdend, bis sie schließlich lief, so schnell sie konnte, zuversichtlich, einen Ausgang zu finden.

Von Weitem schon sah sie die Tür. Das Licht im Raum dahinter war wärmer, soweit konnte man sich das durch die Milchglasscheibe vorstellen. Je näher Janis der Tür kam, umso größer wurde ihre Hoffnung auf Freiheit. Und als sie dieser Freiheit bis auf ein, zwei Meter nahe gekommen war und schon ihre Hand ausstreckte, um mit ihr den Türknauf zu fassen, erstarrte sie erschrocken und duckte sich aus dem Türbereich in die Ecke. Sie versuchte den Atem anzuhalten, um nicht entdeckt zu werden. Doch ihre Lungen verlangten nach dieser Aufregung dringend nach Sauerstoff. Janis kämpfte dagegen an. Jeder einzelne Atemzug schien ihr zu laut und mochte die Wachen alarmieren, deren Schatten sie durch die Scheiben schemenhaft erkennen konnte. Man hörte sie etwas murmeln, dann ein gehässiges Lachen, dann war es ihr, als stritten sie. Die Wachen schienen betrunken und aggressiv. Es war nicht ratsam, ihnen zu begegnen, und es war wohl aussichtslos, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen.

Der Türknauf drehte sich. Jeden Moment würde eine Wache durch die Tür treten und sie dahinter kauernd entdecken.

Ängstlich trat Janis den Rückzug an. Behutsam und lautlos setzte sie ihre Schritte, um nur ja kein Geräusch zu verursachen, bis sie meinte, genügend Abstand zwischen sich und die Gefahr gebracht zu haben. Dann rannte sie los.

In diesem Moment entdeckte sie die Wache.

»Halt! Bleib stehen!«, schrie er ihr nach. »Sofort stehen bleiben!«

Er rief seinen Kollegen und beide hetzten ihr brüllend hinterher.

Janis rannte vorbei an ihrer Zelle durch den elendig langen Gang, ohne darüber nachzudenken, was sie auf der anderen Seite erwarten würde. Es gab keine Alternative, nur rennen, auch wenn sie auf eine neue Ungewissheit zusteuerte. Sie drehte mehrmals den Kopf nach hinten, um den Abstand zu ihren Verfolgern zu bestimmen. Doch die waren plötzlich stehen geblieben. Dort, wo die Fliesen an der Wand geendet hatten und von einer bemoosten Ziegelmauer abgelöst wurden, dort, wo anstatt der senfgelben Keramiken nun ein simpler gestampfter Lehmboden unter Janis Füßen war, dort an der Kante waren die beiden Wachen abrupt stehen geblieben und wagten sich nicht weiter. Als fürchteten sie, in einen Abgrund zu stürzen.

Janis drosselte ihre Geschwindigkeit. Sie war etwas verwirrt, doch auch zufrieden. Anscheinend hatte sie es geschafft, sich in Sicherheit zu bringen. Der Lehmboden fühlte sich kalt an unter ihren Füßen. Falls sie denn je Schuhe besessen hatte, mussten ihre Entführer sie ihr abgenommen haben. Die Ziegelmauer war feucht und stank nach fauligen Fischen. Statt der Neonröhren gaben nun ovale Baustellenlampen einen dürftigen Lichtschein ab, gerade hell genug, damit man den Mut nicht verlor, aber auch nicht ausreichend, um dem Gang seine gespenstische Atmosphäre zu nehmen. Kein Ort zum Verweilen.

Nach drei scharfen Kurven fand der Tunnel endlich ein Ende. Beinahe wäre Janis in den dunklen See gestürzt, der sich vor ihr wie ein riesiger Teppich ausbreitete. Gerade noch konnte sie sich, gefährlich schwankend, an einer Seitenleuchte festhalten. Eine geräumige Grotte breitete sich vor ihr aus, mit riesigen Stalaktiten, an denen Fledermäuse kopfüber hingen wie schwarze Früchte. Es war das Ende des Weges. Hier ging es nicht weiter.

»Endstation.« Janis verlor sich in tristen, fatalistischen Gedanken. Sie nahm die gelben Blumen aus der Tasche und roch an ihnen. Entmutigt setzte sie sich ans Ufer und begann still zu weinen. Wo war sie nur hineingeraten? Sie wusste nichts von sich, nichts von ihrer Vergangenheit, wusste nicht, ob sie denn Familie hatte, Kinder, Freunde oder wenigstens ein Haustier. Sie starrte auf den See. Er war schwarz. Schwarz wie fast alles hier. Die Wände der Grotte, die Fledermäuse. Die gelben Blumen in ihrer Hand wirkten, als hätte sie ein Maler als ein Zeichen letzter Hoffnung in die Landschaft gesetzt, ehe er sich sein tristes Leben nahm.

Zuerst hielt es Janis ja für eine optische Täuschung, traute ihren Augen nicht, als sich ein langgezogenes Boot auf dem See abzeichnete. An seinem Ende stehend, stocherte ein dünner Mann mit einer noch dünneren Stange im schwarzen Öl und bewegte so sein eigenartiges Gefährt zaghaft in ihre Richtung.

Langsam, mit vielleicht einem Ruderschlag pro zehn Sekunden, wackelte das Schiffchen vor sich hin. Obwohl auf dem See eigentlich keinerlei Wellengang zu bemerken war, schaukelte es auf und ab.

»Komm schon!«, rief Janis ungeduldig, weil für sie unendlich viel Zeit verstrich, bis der Mann seine schöne schwarze venezianische Gondel endlich an dem engen steinernen Steg vertäut hatte, der vom Ufer aus in den See gebaut war. Das elegante Gefährt war an seinem Vorder- und Achtersteven mit kunstvoll geschmiedeten, silbernen Einlagen verziert und hielt für seine Passagiere eine mit rotem Samt überzogene, gut gepolsterte Sitzbank bereit.

»Guten Tag, mein Name ist Kenneth«, stellte sich der Gondoliere höflich vor, mit einem ungewöhnlich breiten, freundlichen Grinsen im Gesicht. »Ich bin gekommen, um Sie ein Stück mitzunehmen.«

Er hatte diese Einladung noch nicht fertig ausgesprochen, da war Janis längst in die Gondel gesprungen und hatte es sich auf den weichen Polstern gemütlich gemacht.

»Lass uns ablegen! Ich möchte nach Hause!«, kommandierte sie ihren Retter. Kenneth nahm die etwas unhöflich vorgetragene Aufforderung mit einem weiteren breiten Lächeln hin. Er drückte das Boot von seinem Ankerplatz los und brachte es mit langsamen Ruderschlägen dazu, über die ölige Flüssigkeit zu gleiten.

»Wo befindet sich Ihr Zuhause, wenn ich fragen darf?«

Sie hatte die Worte eher unbewusst ausgesprochen. Ein Zuhause. Gab es das denn überhaupt für sie?

»Wenn ich das wüsste, Kenneth, wenn ich das nur wüsste! Aber bring mich bloß weg von hier. Irgendwohin. Wo die Dinge nicht schwarz sind.« Sie wollte Kenneth am liebsten mit Fragen eindecken. Über sich selbst, darüber, wo sie sich befand, wer sie entführt haben könnte. Doch irgendetwas hielt sie davon ab.

Der gemächliche Rhythmus des Bootes trug dazu bei, dass sich Janis schließlich ein wenig entspannte. Die Flucht aus ihrem Gefängnis schien gelungen. Sie musterte ihren Gondoliere. Er sah süß aus, mit seinen dünnen blonden Haaren, der seltsamen blauen Uniform und dem verbissenen Gehorsam, den er ihren Forderungen erwies. Wie ein zu schnell in die Schlaksigkeit der Pubertät gewachsener Sängerknabe. Sie beschloss, ihn ein wenig zu reizen.

»Geht das nicht etwas schneller?«, rief sie streng. Kenneth nahm den Befehl widerspruchslos hin. Er gab sein Bestes und versuchte die Schlagzahl auf etwa zwölf Schläge pro Minute zu verdoppeln. Der Schweiß rann ihm von der Stirn und sein Gesicht lief rot an. Er nahm den Auftrag sichtlich ernst. Janis amüsierte sich ein wenig darüber. Auch wenn es Schadenfreude war, es waren die ersten positiven Gedanken, seit sie sich in diesem Kerker wiedergefunden hatte.

Sie waren etwa in der Mitte des Sees angekommen, als die Fahrt plötzlich unruhig wurde.

»Was ist los, Gondoliere?«

»Ich weiß es leider nicht, Madame.« Kenneth hatte nun wesentlich mehr Mühe mit dem Ruder. Auch die Fledermäuse reagierten nervös. Hysterisch kreischend stritten sie sich um die wenigen verbliebenen sicheren Hängeplätze an der Decke des Gewölbes.

Das Auf und Ab des Bootes wurde so stark, dass Janis sich an die Bordwand klammern musste, um nicht in die schwarze Suppe zu fallen. Als die Gondel sich dann – in einer Art Strudel gefangen – um die eigene Achse zu drehen begann, begann ihr Magen zu kontrahieren, doch es gab nichts, das sie hätte hervorwürgen können.

»Bring uns hier weg!«, quälte Janis die Worte in einer kleinen Pause zwischen den Krämpfen aus sich heraus. Sie drehte sich Hilfe suchend zu Kenneth um und erstarrte vor Schreck, als sie das Tentakel eines riesigen Kraken um seinen Hals geschlungen sah! Das Gesicht des Gondolieres war nun blau, wie seine Matrosenuniform. Seine Augen quollen aus den tiefen Augenhöhlen und er stieß leise krächzende Laute aus.

»Das Ruder!«, schrie ihn Janis an. »Gib mir das Ruder, schnell!« Er hielt es in Todesangst fest umklammert. Janis hantelte sich an der schaukelnden Bootswand entlang zum Heck zurück, entriss ihm mit aller Gewalt den Riemen und prügelte damit so fest es ging auf den Saugarm ein, bis sich Kenneth endlich aus dem Würgegriff befreien konnte. Er lächelte dankbar.

»Ddd-d-d-da!!!«, stotterte Kenneth und zeigte mit seinem Finger in Janis’ Richtung. Mit einem weiteren Saugarm versuchte der Krake jetzt Janis zu packen. Sie fuhr gerade noch rechtzeitig herum und schlug mit der Kante des Ruderblattes zu. Der Tintenfisch zog den Arm zurück und verschwand in der Tiefe.

»Lass uns schnell abhauen! Das Vieh kommt sicher gleich wieder!« Sie gab Kenneth wieder das Ruder und der legte sich ins Zeug, so gut er konnte. Doch gegen diesen gigantischen Polypen hatte er in seiner venezianischen Gondel ohne Motor und mit nur einem Ruder praktisch keine Chance. Trotzdem waren die beiden dem rettenden Ufer schon ziemlich nahe gekommen, ehe der aggressive Tintenfisch einen neuen Angriff startete. Dieses Mal hielt er sich gar nicht erst mit zaghaften, einarmigen Attacken auf. Er setzte alles auf eine Karte und brachte alle seine acht, mit unzähligen, klebrigen Saugnäpfen bestückten Tentakel gleichzeitig in Stellung.

Kenneth übergab Janis, ob dieser Bedrohung, wieder das Ruder.

»Warum kämpfst du nicht?«

»Ich kann nicht.«

»Was?«

»Ich kann nicht kämpfen! Das widerspricht meiner Religion!«

Janis hatte keine Zeit, sich mit Kenneth’ religiösen Ansichten zu befassen. Sie hatte genug damit zu tun, den schlangenartigen Greifern auszuweichen, die von allen Seiten auf sie losgingen. Tapfer schlug sie mit dem Ruder um sich. Der Krake war mindestens doppelt so groß wie die Gondel. Während er mit zwei Armen Janis beschäftigte und mit einem weiteren Kenneth in Schach hielt, umschlangen die restlichen das ganze Boot und würgten es wie eine Python einen Hasen. Die Planken brachen und die schöne rote Samtsitzbank verschwand unter den schleimigen Auswüchsen des zornigen Kopffüßlers.

»Das war’s dann wohl!«, hörte man Janis noch sagen, ehe die Gondel in der Mitte auseinanderbrach. Beide versuchten sich irgendwo festzuhalten. Wie Kapitäne blieben sie auf dem sinkenden Rest ihres Schiffes und warteten auf das Ende, bereit, dem Klabautermann in Würde entgegenzutreten.

Als wollte der Krake seinen Sieg auskosten, baute er sich vor seinen Opfern auf. Er zeigte sich in seiner vollen, imposanten Größe. Die zwei jämmerlichen Figuren sollten sehen, womit sie sich da angelegt hatten. Sie klammerten sich an vorbeitreibenden Holzplanken an und sahen gebannt in das riesige hypnotische Auge des Tintenfisches.

Plötzlich krachten Schüsse. Ein, zwei vom Echo der Grotte zu einer unendlich scheinenden Salve vervielfältigte Pistolenschüsse mischten sich in eine Wolke aus Tausenden aufgeregt plärrenden Fledermäusen. Das Auge des Kraken war explodiert.

Janis schlug die Augen auf. Schweiß lief ihr über Stirn und Wangen. Sie versuchte, ihn abzuwischen, doch ihre Hand ließ sich nicht weiter als ein paar Zentimeter bewegen. Die verdammten Handfesseln. Die Gondel, der Krake, Kenneth. Alles nur ein weiterer verstörender Traum?

Die Zellentür war mit lautem Krachen geöffnet worden und zwei maskierte Wachen waren in den Raum getreten. Davon war sie aufgewacht. Sie öffneten Janis’ Fußfesseln und einer deutete ihr, indem er seinen Zeigefinger an ihre Lippen legte, sie so solle ruhig sein. Und mit einer anderen Geste gegen den Hals zeigte er ihr die Konsequenzen einer Zuwiderhandlung an. Janis hätte ihn nur zu gern gebissen.

Nun befreiten sie sie auch von den Gurten an den Handgelenken, nahmen sie von beiden Seiten mit einem harten Griff unter den Achseln und hoben sie hoch. Als ihre Beine den Dienst versagten, trugen die Wachen sie zur Tür. Ein letzter Blick zurück. Die Blumen waren nicht mehr in der Vase.

»Was macht ihr mit mir? Wo bringt ihr mich hin?«

Ein »Scht!« war die karge Antwort.

Sie schleppten Janis den Gang entlang bis zu der Tür, durch die, ganz wie in ihrem Traum, warmes Licht in den kalten Flur drang. Senfgelbe Bodenfliesen, blaustichig grüne Wandfliesen. Kaltes, grelles Neonlicht. Was war hier los? Wie war das möglich?

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