Читать книгу simplicity. - Michael Hartschen - Страница 8
Machen wir die Welt wieder einfacher
ОглавлениеDie Welt wird immer komplizierter! Wer sich kürzlich ein neues Paar Jeans besorgen musste, kann ein Lied davon singen. Früher war der Kauf einer Jeans eine denkbar einfache Angelegenheit. Man ging in den Laden rein und entschied sich für eines der fünf zur Wahl stehenden Modelle. Nach zehn Minuten verließ man mit einer passabel sitzenden neuen Hose den Laden wieder – und war zufrieden.
Heutzutage geht dem Kauf einer neuen Jeans ein hoch komplizierter nachmittagsfüllender Entscheidungsprozess voraus, in dessen mehrstufigem Verlauf man gezwungen wird, sich mit Begriffen wie Bootcut, Acid-Wash, Pocket-Stitching, Shotgun-Denim, Hang-Tag, Button-Fly und Tapered Fit auseinanderzusetzen.
Die riesige Auswahl an verschiedenen Schnittformen, Waschungen, Farben und Looks eröffnet potenziellen Jeanskäufern schier unzählige Kaufoptionen. Sie sorgt aber auch dafür, dass die Erwartungshaltung ans neue Produkt ins Unermessliche steigt. «Passabel sitzen» liegt für eine neue Jeans schon lange nicht mehr drin. Perfekt muss sie sitzen – alles andere wäre angesichts des immensen Angebots eine bittere Enttäuschung. Der Jeanskäufer steht bei seiner Entscheidungsfindung plötzlich unter Druck, auch ja die richtige Wahl zu treffen. Das Einkaufen wird anstrengend – Überforderung und Lähmung stellen sich ein.
Der US-amerikanische Psychologe Barry Schwartz spricht in diesem Zusammenhang von einem «paradox of choice» – von einer Eskalation der Erwartungen bei einem immer größer werdenden Angebot, was unweigerlich zu einem Gefühl der Frustration führt.
Dass die Welt immer komplizierter wird, hat auch der Trendradar des Gottlieb Duttweiler Instituts erkannt. So ist gemäß einer Studie des Marktforschungsinstituts A.T. Kearny das Artikelangebot in deutschen Warenhäusern in den letzten zehn Jahren um 20 % und mehr gewachsen: 500 statt 400 verschiedene Kaffee-, Tee- und Kakaopackungen, 750 statt 580 Hygiene- und Säuglingspflegeartikel, 3.400 statt 2.600 Produkte für die Haar-, Haut-, Mund- und Körperpflege.
Diese Entwicklung scheint uns auf den ersten Blick positiv und wirtschaftlich erwünscht zu sein. Die Vielfalt fasziniert uns, wir lassen uns gern von einer möglichst breiten Angebotspalette verführen.
Die beiden US-amerikanischen Forscher Sheena Lyengar und Mark Lepper kamen zu einem anderen Schluss: In einer kleinen Feldstudie bauten sie in einem Delikatessengeschäft in Kalifornien Probiertische auf, wo Kunden verschiedene Marmeladensorten testen konnten. In einer Versuchsanordnung standen 6 Sorten zur Auswahl, in einer anderen 24. Das Ergebnis war überraschend: Beim Tisch mit der großen Auswahl probierten zwar 60 % der Passanten mindestens eine Marmeladensorte, aber noch nicht mal 2 % kauften letztlich ein Glas. Ganz anders das Resultat beim kleinen Tisch: Hier vermochte das überschaubare Angebot zwar nur 40 % der Vorbeigehenden zum Probieren zu verführen, dafür entschlossen sich 12 % zum Kauf – mehr als sechsmal so viel wie bei der größeren Auswahl.
Eine große Auswahl hat also auch seine Nachteile. Wer – um beim obigen Beispiel zu bleiben – aus 24 Marmeladensorten eine auswählt, entscheidet sich zwangsläufig gegen 23 andere. Da ist die Gefahr groß, dass eine der anderen Optionen besser gewesen wäre.
Je mehr Auswahl wir haben, umso mehr trauern wir verpassten Chancen nach.
Nun ist es zugegebenermaßen noch lange keine Katastrophe, wenn uns die Quitten-Ingwer-Marmelade tatsächlich etwas besser geschmeckt hätte als die Erdbeer-Holunderblüten-Konfitüre, für die wir uns beim Einkaufen entschieden haben. Aber wie sieht es bei essenzielleren Entscheidungen aus? Bei der Altersvorsorge beispielsweise? Hier können anfallende Opportunitätskosten – also entgangene Erlöse, die dadurch entstehen, dass vorhandene Möglichkeiten zur Nutzung von Ressourcen nicht wahrgenommen werden – durchaus schmerzvoll sein.
Die US-amerikanische Vanguard Group ist einer der weltgrößten Finanzdienstleister. Das Unternehmen beschäftigt ungefähr 15.000 Mitarbeiter, denen als besondere Sozialleistung Investmentfonds zur freiwilligen Altersvorsorge angeboten werden. Nun hat man herausgefunden, dass pro zehn zusätzlicher Investmentfonds, die der Arbeitgeber anbietet, die Teilnahme an der freiwilligen Altersvorsorge um 2 % sinkt. Gegenwärtig sind es rund 50 Investmentfonds, die zur Auswahl stehen. Wären es nur fünf, würden 10 % mehr Mitarbeiter dieses im Prinzip durchaus attraktive Vorsorgeangebot in Anspruch nehmen. Die finanziellen Folgen für die Nichtteilnehmer sind dabei nicht zu unterschätzen: Die Lähmung, sprich die Entscheidungsunfähigkeit aufgrund des zu großen Angebots, führt bei den betroffenen Mitarbeitern gemäß Studie zu Opportunitätskosten von etwa 5.000 Dollar pro Jahr.
Eine lähmend große Produkteauswahl ist das eine – komplizierte Produkte, Dienstleistungen und Verfahren das andere. Wie schädlich zu komplizierte Produkte sein können, wissen wir spätestens seit Mitte der Nullerjahre, als Finanzprodukte, die derart vielschichtig, verflochten und undurchschaubar waren, dass sie selbst von spezialisierten Profis nicht mehr vollständig verstanden wurden, die gesamte Weltwirtschaft in eine tiefe Krise stürzten. «Schließe nur Produkte ab, die du selber verstehst» – dieser von Vernunft und Ratio geprägte Investment-Leitsatz aus der guten alten Zeit gilt im Dschungeldickicht hochkomplex strukturierter Finanzderivate schon lange nicht mehr.
Man braucht jedoch nicht zwingend in die Abgründe der außer Rand und Band geratenen Finanzwelt zu blicken, um zu merken, dass Produkte immer komplizierter werden. Dafür reicht auch ein Blick auf den eigenen Computer. Heutzutage gibt es wohl kaum eine Arbeitsstelle mehr, bei der das «Beherrschen» von MS Word und Excel nicht als grundlegende Voraussetzung gilt. Und wir alle würden bei einer allfälligen Stellenbewerbung mit gutem Gewissen behaupten, dass wir die beiden Programme auch tatsächlich verstehen. Tun wir aber nicht. Als durchschnittliche Nutzer kennen wir uns lediglich bei knapp zehn Prozent aller Funktionen, die die beiden Programme nach unzähligen Updates mittlerweile zu bieten haben, wirklich gut aus.
Im Gegensatz zu Computerprogrammen, bei denen eine gewisse Kompliziertheit gewissermaßen zur DNA gehört, sind Auktionen eine denkbar einfache Angelegenheit. Diejenigen, die ein Gut erwerben wollen, machen Angebote. Der Verkäufer sammelt sie ein und gibt am Ende dem Meistbietenden den Zuschlag. So war es zumindest früher. Nun aber machte sich die Deutsche Fußball Liga (DFL) daran, das simple Verkaufsprinzip einer Auktion zu perfektionieren, mit dem Ziel, die Fernsehrechte für die Bundesligasaison 2017/18 mittels Onlineauktion an den Meistbietenden zu bringen. Hierfür wurde das «Produkt» Bundesliga in 17 verschiedene Pakete aufgeteilt. Das daraus resultierende Onlineauktionsverfahren war am Ende so kompliziert, dass potenziellen Bietern im Vorfeld der Auktion ein Seminar zum besseren Verständnis angeboten werden musste.
Es ist der Wettbewerb, der dazu führt, dass Produkte fortwährend zusätzliche Funktionen erhalten. Dienstleistungen werden ausgebaut und in unterschiedlichsten Varianten angeboten. Prozesse werden in einer vernetzten Welt vielfältiger und haben mehr Schnittstellen.
Die Erfahrung, dass Produkte, die mit einer Vielzahl von Funktionen ausgestattet sind, nur vordergründig einen Attraktivitätsvorsprung gegenüber einfacheren Produkten besitzen, haben wir alle schon einmal gemacht. Ob es sich um moderne Features bei Automobilen wie etwa einem Reifendrucksensor oder um die Installation eines Fernsehers mit Internetzugang, Sat-Programmen und Webcam handelt: Eine möglichst große Funktionsvielfalt begeistert uns auf den ersten Blick. Sobald die Produkte aber tatsächlich installiert und bedient werden müssen, wirkt die Überfülle an Features plötzlich störend. Weil die Geräte nicht mehr intuitiv bedient werden können, empfinden wir ihre Funktionsweise als kompliziert – Überforderung stellt sich ein. Die Konsequenz: In der Praxis geben wir einfacheren Produkten oft den Vorzug.
Die zunehmende Kompliziertheit bringt einige negative Effekte hervor: hoher Zeitaufwand, größere Fehleranfälligkeit, mehr Schulungs- und Einarbeitungszeit, Mehraufwand für den Unterhalt, mehr Kundenfragen und Reklamationen.